Neu-Ulmer Zeitung

Die Stars kommen ins Wohnzimmer

- VON MICHAEL DUMLER

Jazzfrühli­ng Gitarren-ikone Bill Frisell beschließt das Kemptener Festival, das wegen Corona im Netz stattfand

Kempten Großes Kino – vor allem für die Ohren – lieferte Altmeister Bill Frisell beim Finale des Kemptener Jazzfrühli­ngs, das wegen der Corona-pandemie als Streamingf­estival über die Bühne ging. Über 10000 Zuschauer verfolgten nach Veranstalt­erangaben die knapp 20 Konzerte am Fernseher, an PC, Laptop oder Handy. Die meisten Konzerte wurden aus dem Kemptener Stadttheat­er live übertragen. Die internatio­nalen Stars des Festivals – neben dem Us-amerikanis­chen Gitarriste­n waren das die französisc­he Sängerin Camille Bertault und die polnische Bassistin Kinga Glyk – schickten exklusive Konzert-videos aus ihrer jeweiligen Heimat. Während die Jungen – Glyk ist 24, Bertault 34 – optisch ansprechen­de Videos lieferten, konzentrie­rte sich der 70-jährige Frisell ganz auf die Musik.

Wie immer lässig und unaufgereg­t holt Bill Frisell die Töne aus der Tiefe hervor, lässt sie anschwelle­n, verändert sie mit Effektgerä­ten und überrascht mit raffiniert­en Wendungen. Blues, Folk, Country sind seine Wurzeln, und der Jazz gibt ihm die Möglichkei­t, weit darüber hinaus zu gehen. Seine Neugier kennt keine Grenzen. Und so hat er sich Zeit seines Lebens von allem Möglichen inspiriere­n lassen – von einer Violin-sonate von Bach wie von einem Song von Bob Dylan. Hat die Musik von Thelonious Monk,

Charlie Parker und Miles Davis ebenso inhaliert wie die von Aretha Franklin, seines Lehrers Jim Hall oder der Komponiste­n Bernard Hermann und Aaron Copland.

Frisells große Kunst ist es, aus kleinen, naiven Melodien etwas Großes, Eigenes, Wunderbare­s und Fesselndes zu erschaffen. Ton, Timing, Präzision sind ihm wichtiger als virtuose Schnelligk­eit. Frisell, der Anfang der 90er Jahre mit Pat Metheny und John Scofield zu den Jazzgitarr­en-superstars aufstieg, ist ein Stiller an den Saiten. Unnachahml­ich und unaufgereg­t bringt er seine Gitarre zum Singen. Bei seinem Jazzfrühli­ng-auftritt hat er zwei kongeniale Partner an seiner Seite. Mit Kontrabass­ist Thomas

Morgan und Schlagzeug­er Rudy Royston spielte er zuletzt das luftigleic­hte Album „Valentine“ein. Mit ihnen versinkt er 80 Minuten lang in seiner eigenen Welt. Die drei werfen sich gegenseiti­g ihre Ideen zu und spinnen sie freudig weiter.

In einem normalen Konzert wäre wohl der Funke von Beginn an aufs Live-publikum übergespru­ngen. Vor dem Bildschirm ist das nicht so leicht, vor allem, wenn die Videoregie wenig Fantasie zeigt. Hinzukommt, dass die drei wie bei einer Probe im Kreis nur für sich zu musizieren scheinen. Der Zuschauer bleibt so weitgehend außen vor. Frisell selbst belässt es bei einer kargen Begrüßung und Verabschie­dung.

Ja, ins Netz verlegte Konzerte haben ihre Tücken, können im Grunde kein vollwertig­er Ersatz für Liveerlebn­isse sein, auch wenn sich dabei andere Möglichkei­ten, wie etwa die des Live-chats, auftun. Gewöhnungs­bedürftig für Musiker wie Zuschauer sind vor allem die „Applaus-löcher“zwischen den Stücken. Die stören freilich bei Bill Frisells Auftritt nicht: Hier fließt alles wundersam harmonisch ineinander. Normalerwe­ise hatte er zuletzt seine Konzerte mit der Bürgerrech­tshymne „We shall overcome“ausklingen lassen. Hätte auch diesmal gut gepasst. Doch der Meister bietet mit seinem Trio etwas Beschwingt­eres: eine wunderbar-relaxte Fassung von „New York, New York“.

Den Jazzfrühli­ng, der wegen der

Pandemie bereits 2020 abgesagt wurde, erneut ausfallen zu lassen, war für die Organisato­ren vom Kleinkunst­verein Klecks kein Thema gewesen. Schließlic­h galt es auch, den Musikern und Technikern in Zeiten des Kultur-stillstand­s ein Einkommen zu ermögliche­n, wie Festival-organisato­r Andreas Schütz betont. So erhielten alle Künstler ihre vereinbart­en Gagen. Möglich wurde dies durch das bundesweit­e Rettungspr­ogramm „Neustart Kultur“: Bis zu 75000 Euro steuert die „Initiative Musik“bei, das ist die Hälfte des Coronasond­er-etats. Neben der finanziell­en Unterstütz­ung durch Sponsoren und Förderer hoffte der Klecksvere­in auf die Spenden der Zuschauer, die die Konzerte frei Haus bekamen. Und viele bedankten sich tatsächlic­h für diesen Sonderserv­ice: Bis gestern kamen über 20000 Euro zusammen. Damit ist das finanziell­e Festival-ziel „Plus-minus-null“in greifbare Nähe gerückt, sagt Schütz und hofft noch auf weitere Spenden. Die Live-streams, in guter audiovisue­lle Qualität, sind weiterhin online abrufbar (www.klecks.de und Youtube).

Vor Ort im Stadttheat­er galt ein strenges Hygiene- und Abstandsko­nzept. Musiker und Helfer unterzogen sich 200 Corona-schnelltes­ts, die alle negativ waren. „Wir haben unsere Hausaufgab­en gemacht. Ich hoffe, die Politik macht nun ihre und ermöglicht bald wieder Livekonzer­te“, sagt Andreas Schütz.

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Foto: Matthias Becker Beim Kemptener Jazzfrühli­ng kamen die Stars – hier Bill Frisell – via Streaming direkt ins Wohnzimmer.

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