Kraan feiert Jubiläum
Musik Die deutsche Jazzrock-ikone aus Ulm gibt es seit 50 Jahren
Ulm Manchmal sind es ganz unscheinbare Momente, die – rückwärts gesehen – ein ganzes Leben entschieden und prägten. Bei Hellmut Hattler ist es jener Tag, an dem die Brüder Jan und Peter Wolbrandt nach dem Umzug ihrer Familie von Düsseldorf nach Ulm ihren ersten Tag am Gymnasium hatten. Jan kam in Hattlers Klasse und wurde neben den großen blonden Hellmut gesetzt. Ohne diese Begegnung hätte es die Band Kraan nie gegeben, jene Band, die in den 70er und 80ern zu den berühmtesten experimentellen und improvisationsgeprägten deutschen Jazzrock-bands gehörte.
Gegründet wurde Kraan ganz kurz nach dem 19. Geburtstag Hattlers im Mai 1971 – vor 50 Jahren also. Wie es dazu kam, erzählte Hellmut Hattler der Redaktion. Die Wegkreuzung: „Entweder wir schmeißen alles hin und machen Musik, oder das war´s mit der Musik“hing in der Luft in jenen Tagen Anfang Mai 1971: Mehrere Jahre hatten die Jugendlichen zusammen Musik gemacht, „und wir wussten, wir waren richtig gut!“Dann ging Peter Wolbrandt zum Studium nach Berlin, sein Bruder Jan hatte an einer Fotoakademie begonnen, und Bassist Hellmut Hattler stand kurz vor dem Abitur.
Die Freundschaft und das blinde Verstehen, wenn es darum ging, jazzige Läufe, teilweise gemixt mit orientalischen Klängen zu entwickeln, drohten sich in alle Winde zu zerstreuen. Wie die Entscheidung ausfiel, ist bekannt: Hellmut Hattler warf das Abitur hin, die Brüder Wolbrandt ihre Studien – Kraan war geboren.
Aber zurück zu jenem Schultag, als Jan Wolbrandt vom Lehrer neben Hellmut Hattler gesetzt wurde. Der erinnert sich: „Ich war der Stärkste in der Klasse. Mit 11, 12 sind Machtkämpfe unter Jungs an der Tagesordnung. Sich wehren zu können war wichtig.“Jan Wolbrandt war anders. „Er hat sich nie gewehrt, er war ganz peacig, und so wurde ich sein Beschützer, damit er nicht dauernd verprügelt wurde.“
Im Elternhaus der Brüder lernte Hellmut Hattler eine Welt kennen, die der seines Elternhauses komplett entgegenstand. „Es war ein liberaler Haushalt. Wir haben im Keller die Beat-bands nachgespielt, und Jan hatte schon mit 12 die Erlaubnis seiner Eltern, am Abend mit einer Band aufzutreten.“Jan spielte Schlagzeug, sein Bruder Peter Gitarre und Gesang.
Im Elternhaus Hellmut Hattlers ging es ganz anders zu. Die Mutter hörte Operetten, der Vater gar keine Musik. Viel schlimmer aber war: „Es ging sehr rigide zu, wir hatten keine Freiheit, die Kinder waren zum Arbeiten da.“Beim Hören von Radio Bagdad wurde Hellmut erwischt – sich solche Freiheiten herauszunehmen, war gänzlich unbotmäßig. Und ohne zu fragen, kaufte sich der 13-jährige Sohn auch noch bei Hertie vom selbst verdienten Geld eine Gitarre.
Dann geschah, was Hattler als sehr traurig, gleichzeitig aber als große Befreiung in sich trägt: Mutter und Vater starben, mit 14 war er Vollwaise. Mit 15 stand er erstmals auf der Bühne, „Inzest“hieß die erste Band der drei Jugendlichen. Mit der Gründung von Kraan kam noch Johannes Pappert (Saxofon) dazu – und man fand ein Domizil, um zusammen zu leben und Musik zu machen: Der Unternehmer Peter Reichsgraf Wolff Metternich stellte sein altes Gut Wintrup im Teutoburger Wald mietfrei zur Verfügung. 1972 erschien die erste Schallplatte, „Kraan“genannt, und im Jahr darauf „Wintrup“. Die dritte Platte „Andy Nogger“wurde live bei einem Berliner Konzert aufgenommen.
1975 stieß der inzwischen verstorbene Keyboarder Ingo Bischof zur Band, der bald ein erstes Mal wieder ausstieg, und auch Pappert verließ die Band.
Hellmut Hattler kehrte nach Ulm zurück, die Band existierte bis 1983 in wechselnder Besetzung, löste sich auf und gründete sich aus dem alten Kern von Hellmut Hattler und den Wolbrandt-brüdern mit Saxofonist Joo Kraus neu.
Eine weitere Auflösung, eine weitere Neugeburt im Jahr 2000. Hellmut Hattler und die Wolbrandtbrüder sind wieder die bekannte deutschen Jazzrock-band „Kraan“.
Das Abschiedskonzert 2013 war dann doch keines – und wenn Corona es zulässt, gibt es Kraan inzwischen Konzerttermine bis ins Jahr 2022.
70 wird Hellmut Hattler dann. Was sein wird? Von der Notwendigkeit, immer mehr Endorphin zu spüren, hat er sich längst verabschiedet.
„Kompromisse geh ich nicht ein, deshalb bin ich auch kein Studiomusiker geworden.“Die Musik sei ihm zu heilig, um „Geld für Scheiße zu verdienen und zu koksen.“Denn wie die Vorhölle aussieht, davon hat Hellmut Hattler eine Vorstellung. „Ich glaub, das ist, mit dem falschen Song berühmt zu werden.“