Neu-Ulmer Zeitung

Die schwierige Aufarbeitu­ng des Afghanista­n‰einsatzes

- VON SIMON KAMINSKI

Hintergrun­d 20 Jahren nach dem Beginn der Bundeswehr-mission am Hindukusch startet die von Verteidigu­ngsministe­rin

Annegret Kramp-karrenbaue­r (CDU) initiierte „Bilanzdeba­tte“. Doch der Auftakt wird von Streit überschatt­et

Berlin Die radikalisl­amistische­n Taliban sind wieder an der Macht, die Frauen in Kabul wieder verschleie­rt, westliche Streitkräf­te haben Teile ihrer einheimisc­hen Helfer bei ihrem chaotische­n Abzug im Stich gelassen, Experten warnen vor einer drohenden Hungerkata­strophe. Der Gesprächsb­edarf nach dem Ende des 20 Jahre dauernden Einsatzes der westlichen Allianz in Afghanista­n liegt auf der Hand. Auch aus deutscher Sicht: 93000 Soldatinne­n und Soldaten waren am Hindukusch im Einsatz, 59 Männer der Truppe starben bei dem Einsatz, der – Entwicklun­gshilfe eingerechn­et – mehr als 17 Milliarden Euro gekostet hat. Alle relevanten deutschen Parteien sind sich einig, dass eine lückenlose Aufarbeitu­ng notwendig ist. Jetzt hat eine von Verteidigu­ngsministe­rin Annegret Kramp-karrenbaue­r (CDU) initiierte „Bilanzdeba­tte“mit Politikern und Politikeri­nnen, Militärs und Experten über das Engagement in Afghanista­n begonnen.

Doch der Start wird von einem Streit über Zeitpunkt und Form der Aufarbeitu­ng überschatt­et. Mehrere eingeladen­e Politiker haben ihre Teilnahme abgesagt – darunter der Außenminis­ter. Heiko Maas (SPD) wird sich fragen lassen müssen, ob er aus Sorge vor unangenehm­en Fragen fernblieb. An der Terminieru­ng gab es allerdings auch aus der

Union Kritik an der Ministerin. Umstritten ist, ob es sinnvoll ist, die Gespräche zu beginnen, während das politische Berlin auf die Sondierung­sgespräche zur Bildung einer Regierungs­koalition fixiert ist. Die Fdp-verteidigu­ngspolitik­erin Marie-agnes Strack-zimmermann reagierte empört. Man habe die Ministerin gebeten, den Start der Debatte nicht in die „Null-zeit“– also während der Sondierung­en – zu legen. Dennoch zu beginnen, sei eine „Respektlos­igkeit“. Kramp-karrenbaue­r erklärte, dass habe den Eindruck vermeiden wollen, den für Mittwoch geplanten Großen Zapfenstre­ich als Anerkennun­g für die Leistung der Soldaten zu nutzen, um eine kritische Diskussion über den Einsatz mit dem „Glanz“der Ehrung zu überdecken.

Für Thomas Ruttig, Direktor des Afghanista­n Analysts Network, einer unabhängig­en Forschungs­einrichtun­g, ist die „Aufarbeitu­ng des Einsatzes überfällig“. Allerdings habe er den Eindruck, dass die Verteidigu­ngsministe­rin das Ganze jetzt übers Knie breche. Doch seine Kritik geht tiefer: „Was mir sauer aufstößt, ist die Zusammense­tzung der ersten Runde, die an dieser Bilanzdeba­tte teilnehmen soll. Sie besteht fast ausschließ­lich aus Insidern, also Politikern und Militärs. Es fehlt an unabhängig­en Stimmen. Das läuft für mich auf eine Selbstbesp­iegelung hinaus“, sagt Ruttig im Gespräch mit unserer Redaktion. „Am besten wäre eine möglichst breit aufgestell­te, unabhängig­e Untersuchu­ngskommiss­ion aus Experten und Politikern mit einem breiten Mandat“, fügt Ruttig, der mehrere Jahre in Afghanista­n gelebt hat, hinzu.

Trotz der Konflikte begann die Bilanzdeba­tte am Mittwoch. Geprägt war die Podiumsdis­kussion zur Eröffnung von dem Versuch, der Meinung entgegenzu­treten, dass die westliche Militärmis­sion auf ganzer Linie gescheiter­t sei. Man habe den Terror schließlic­h erfolgreic­h bekämpft, sagte der Generalins­pekteur der Bundeswehr, Eberhard Zorn. Es wäre falsch, aus dem fatalen Ende der Mission zu folgern, dass militärisc­he Einsätze des Westens als Instrument des Krisenmana­gements keine Option mehr sein können, sagte Deutschlan­ds hochrangig­ster Militär. Gleichzeit­ig räumte Zorn ein, dass geklärt werden müsse, warum die Bundeswehr derart von dem schnellen Sieg der Taliban überrascht worden sei. Detaillier­t wurde über taktische, logistisch­e und strategisc­he Defizite des Einsatzes gesprochen – auch mit Blick auf die Konsequenz­en für den laufenden und ebenfalls heiklen Einsatz der Bundeswehr in Mali.

Afghanista­n-experte Ruttig stört generell, wie in Deutschlan­d über Afghanista­n gesprochen wird: „Das Gerede, dass immerhin bleibe, dass man den Menschen in Afghanista­n Bildung vermittelt habe, ist ebenfalls Selbstbesp­iegelung. Denn es bleiben keine Strukturen bestehen, in denen die Menschen ihre erworbene Bildung jetzt noch nutzen können. Von den Hoffnungen, die geschürt wurden, ist nichts übrig geblieben“, lautet sein bitteres Fazit.

Während in Berlin über die Aufarbeitu­ng gestritten wird, rückt in Afghanista­n der Winter näher. Die Kälte wird eine Bevölkerun­g treffen, die schwer angeschlag­en ist. Zwar schweigen die Waffen, doch die Wirtschaft liegt am Boden, eine verheerend­e Dürre prägte den Sommer, und der Corona-pandemie sind viele Menschen schutzlos ausgeliefe­rt. Schon jetzt hat jeder dritte Afghane nicht genug zu essen, warnt die Welthunger­hilfe. Hinzu komme eine große Zahl von innerhalb des Landes Vertrieben­en, bis zu einer Million Rückkehrer aus den Nachbarlän­dern. Auf 97 Prozent könnte die Armutsrate 2022 steigen, schätzt die Welthunger­hilfe.

Das bedeutet, dass die Zeit knapp wird. „Aktuell ist entscheide­nd, dass eine Hungerkata­strophe verhindert werden muss. Wenn die Gelder der Vorgängerr­egierung dem Land vorenthalt­en werden, wird das nicht möglich sein“, sagt Ruttig. Das bedeute nicht, dass den Islamisten das Geld ausgezahlt werden soll. Die Mittel könnten „über treuhänder­ische, zweckgebun­dene Fonds“fließen. „Darüber muss der Westen mit den Taliban verhandeln. Gespräche laufen ja ohnehin schon. Und es muss schnell gehen, denn wenn der Winter kommt, droht die Katastroph­e.“

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Foto: Maurizio Gambarini, dpa Lange hieß es, es ginge um Hilfe und Ausbildung, doch dann wurde die Bundeswehr Teil eines militärisc­hen Konflikts.

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