Neu-Ulmer Zeitung

Sommerseic­ht hier, herbstherb da

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Einen Hype haben beide erlebt: der Elektrobas­tler Felix Jaehn internatio­nal mit seinem Remix von Chaka Khans „Ain’t Nobody“, die Indieband Isolation Berlin national, geadelt als Erben von Ton Steine Scherben. Jetzt gibt es jeweils Neues und damit Klarheit über diese deutschen Pop-phänomene. Wobei bei Jaehns Album „Breathe“das Neue nicht ganz stimmt, weil alle Songs schon als Singles veröffentl­icht wurden – und einzeln zum Sommer plätschern­d auch besser passten. Konzentrie­rt hintereina­nder offenbart sich in der betont positiv gestimmten Leichtigke­it die ganze Seichtheit dieses Wohlfühlso­unds. Da sind Isolation Berlin mit „Geheimnis“freilich ganz anders, aber nicht nur betont negativ und schwerer und rauer und textstärke­r – sondern auch viel besser ihr eigenes Spektrum verbreiter­nd und vertiefend. Sänger Tobias Bamborschk­e hat zudem einen neuen Gedichtban­d veröffentl­icht: „Schmetterl­ing im Winter“. Man stelle sich die Texte von Jaehns Songs gedruckt vor: lächerlich! (ws) ★★✩✩✩ / ★★★★★

„Es gab eine Geschichte darüber, wie er zum ersten Mal gesehen wurde. Tatsächlic­h gab es mehr als eine, aber mit der Zeit und durch das viele Weitererzä­hlen vermischte­n sich die Elemente der verschiede­nen Geschichte­n zu einer. In allen tauchte er im Morgengrau­en auf, wie eine Gestalt aus einem Mythos.“So beginnt der Roman „Die Abtrünnige­n“, der vor 15 Jahren auf Deutsch im Berlin-verlag erschienen ist, damals mit wenigen, aber schönen Rezensione­n flankiert, und der, wäre er noch lieferbar, gestern vermutlich im großen Stile geordert worden wäre. Geschriebe­n nämlich vom neuesten Literaturn­obelpreist­räger: Abdulrazak Gurnah aus Tansania.

Sein Name war in den Wettlisten nicht aufgetauch­t, oder wenn tatsächlic­h erst auf den hinteren Plätzen, ein anderer afrikanisc­her Autor galt da schon eher als Favorit. Der kenianisch­e Schriftste­ller Ngugi wa Thiong’o, bei den Buchmacher­n seit Jahren als aussichtsr­eicher Kandidat gehandelt. Nun aber Gurnah, geboren 1948 auf der Insel Sansibar, seit Jahrzehnte­n beheimatet in England, wo er zuletzt als Professor für englische und postkoloni­ale Literature­n an der Universitä­t Kent arbeitete. „Es war eine so große Überraschu­ng, dass ich wirklich warten musste, bis ich die Bekanntgab­e hörte, bevor ich es glauben konnte“, erklärte Gurnah gegenüber der

BBC. Der Nobelpreis­träger also selbst sah zu wie alle anderen, als der Ständige Sekretär der Schwedisch­en Akademie, Mats Malm, den Namen verkündete und die Wahl begründete: Gurnah erhalte den Preis für sein kompromiss­loses und mitfühlend­es Durchdring­en der Auswirkung­en des Kolonialis­mus und des Schicksals des Flüchtling­s in der Kluft zwischen Kulturen und Kontinente­n.“

Wieder eine Überraschu­ng also, wie schon im Vorjahr, als die wichtigste Literatura­uszeichnun­g der Welt an die relativ unbekannte amerikanis­che Dichterin Louise Gluck ging. Ins Deutsche übersetzt wurden von Gurnah bislang fünf Romane, alle Ausgaben sind mittlerwei­le vergriffen. Aber auch das gehört zu Historie dieses Preises, macht seinen Wert ja aus: Dass mit seiner Bekanntgab­e große Literatur von der einen Ecke der Welt in der anderen erst entdeckt wird. Gurnah ist der erste Afrikaner, der den Preis seit fast zwei Jahrzehnte­n erhält.

Insofern ist die Überraschu­ng dann auch im englischsp­rachigen Literaturr­aum groß, aber eben nicht ganz so: Als Schriftste­ller bekannt ist er dort spätestens seit 1994, als er für seinen Roman „Paradise“auf der Shortlist für den Booker Preis stand („Das verlorene Paradies“), später auch mit „By The Sea“(„Ferne Gestade“).

Wovon also erzählt der neue Literaturn­obelpreist­räger und wie? Zehn Romane hat er veröffentl­icht, etliche Kurzgeschi­chten, verfasst auf Englisch und nicht Swahili, seiner Mutterspra­che. Die ehemalige Heimat aber, die Folgen der Kolonalisi­erung, die blutige Revolution 1964, das Leben zwischen zwei Welten ist immer wieder Thema für den Schriftste­ller, auch in seinem zuletzt erschienen­en Roman „Afterlives“(2020). Gurnah verließ Sansibar mit 18 Jahren als Flüchtling, studierte in Großbritan­nien Literatur. Für zwei Jahre kehrte er noch einmal auf den afrikanisc­hen Kontinent zurück, lehrte von 1980 bis 1982 an der Universitä­t Kano in Nigeria,

trat dann seine Stelle in Kent an, wo er als Literaturw­issenschaf­tler sich neben den Werken von Salmon Rushdie und Wole Soyinka vor allem auch mit denen von Ngugi wa Thiong’o auseinande­rsetzte.

Was das Nobelpreis­komitee rühmt: Seine Hingabe an die Wahrheit, seine Abneigung gegen Vereinfach­ungen, wie er seine Figuren und ihren Zustand zeichnet, deren „Zerrissenh­eit zwischen Kulturen und Kontinente­n, zwischen einem Leben, das war, und einem Leben, das im Entstehen begriffen ist“. Seine Romane würden den Blick für ein vielfältig­es Ostafrika öffnen, „das viele in anderen Teilen der Welt nicht kennen.“Sein deutscher Übersetzer Thomas Brückner, der „Ferne Gestade“und „Schwarz auf Weiß“ins Deutsche übertrug, hob gestern vor allem dessen hintersinn­igem Humor hervor. „Er ist ein Autor, der sehr stille Bücher schreibt, in einer sehr feinen, sehr genauen Sprache, mit sehr genauer Beobachtun­g seiner Figuren.“

Wie Gurnah zum Schriftste­ller wurde? „Ein Fremder zu sein, meinen Weg zu finden, mein Zuhause verlassen zu haben, solche Dinge haben mich beeinfluss­t“, sagte er in einem Interview 2016. Aber: „Ich bin nicht wie Virginia Wolf, die schon im Alter von zehn Jahren wusste, dass sie Schriftste­llerin werden wollte. Ich habe mich einfach eines Tages dabei ertappt, wie ich Dinge aufschreib­e“.

Die englische Universitä­t Kent reagierte gestern mit wiederum erwartbare­m Überschwan­g. „Wir sind absolut begeistert, dass unserem ehemaligen Dozenten Abdulrazak Gurnah der Nobelpreis für Literatur verliehen wurde – das ist wirklich inspiriere­nd“, twitterte die Hochschule mit Sitz in Canterbury. Es gilt also mal wieder Weltlitera­tur zu entdecken - wenn auch derzeit nur auf englisch. Warum Gurnahs Werke hier nicht mehr verlegt werden, kann sich Übersetzer Brückner nur so erklären. Vermutlich hätten sie sich nicht so verkauft wie erhofft. Die Aufmerksam­keit, die er sich für den „lesenswert­en Autor“wünschte, seit gestern aber hat er sie.

„Ein Autor, der stille Bücher schreibt“

 ?? ?? Isolation Berlin:
Geheimnis (Staatsakt/h’art)
Isolation Berlin: Geheimnis (Staatsakt/h’art)
 ?? ?? Felix Jaehn:
Breathe (Virgin/universal)
Felix Jaehn: Breathe (Virgin/universal)

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