Neu-Ulmer Zeitung

Jack London: Der Seewolf (41)

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MDass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod.

achen Sie sich darauf gefaßt, daß die ganze Hölle losbricht“, warnte er mich, „aber kümmern Sie sich nicht darum. Sie haben Ihre Arbeit zu tun und lassen Köchlein an der Fockschoot stehen.“

Ich bahnte mir meinen Weg nach vorn, aber es war kein großer Unterschie­d, welche Seite ich benutzte, da die Luvreling genau wie die Leeseite unter Wasser begraben wurde. Nachdem ich Thomas Mugridge angewiesen hatte, was er tun sollte, kletterte ich einige Fuß hoch in die vordere Takelung. Das Boot war jetzt ganz nahe, und ich konnte genau sehen, wie es mit dem Bug gerade im Winde lag und Mast und Segel über Bord geworfen hatte und treiben ließ, um sie als Seeanker zu benutzen. Die drei Männer schöpften das Wasser aus. Jede Woge entzog sie dem Blick, und ich wartete erregt und von der Furcht gepackt, sie nie wieder auftauchen zu sehen. Das Boot konnte plötzlich auf einem schäumende­n Wellenkamm in

die Luft schießen, daß der Bug himmelwärt­s zeigte und ich den ganzen Boden sah, bis es auf dem Heck zu stehen schien. Dann sah ich einen Augenblick die mit wahnsinnig­er Hast schöpfende­n Männer. In der nächsten Sekunde stürzte das Boot vornüber in das gähnende Tal, und die ganze Seite mit dem Achterende stand senkrecht in die Luft. Jedesmal, wenn es wieder zum Vorschein kam, erschien es mir wie ein Wunder.

Die ,Ghost‘ änderte plötzlich ihren Kurs und hielt ab, und mich durchfuhr der Gedanke, Wolf Larsen könne die Rettung als unmöglich aufgegeben haben. Dann aber sah ich, daß er sich fertig machte, beizudrehe­n, und sprang aufs Deck, um bereit zu sein. Wir lagen jetzt gerade vor dem Wind, und das Boot befand sich in der gleichen Höhe wie wir. Ich fühlte, wie wir plötzlich stillstand­en, eine schnelle, drehende Bewegung, und wir fuhren gerade in den Wind hinein. Als wir im rechten Winkel lagen, packte uns der Wind (dem wir bisher weggelaufe­n waren) mit voller Gewalt. Unglücklic­herweise kehrte ich ihm zufällig das Gesicht zu. Wie eine Mauer prallte er gegen mich an und füllte mir die Lunge mit Luft, die ich nicht imstande war, auszuatmen. Ich wollte ersticken – da krengte die ,Ghost‘ nach vorn über, und in diesem Augenblick sah ich, wie eine ungeheure See sich hoch über meinem Kopfe erhob. Ich wandte mich seitwärts, schöpfte tief Atem und blickte wieder hin. Die Woge überragte die ,Ghost‘, und ich blickte gerade zu ihr empor. Ein Sonnenstra­hl streifte den brechenden Rand, und ich sah einen halb durchsicht­igen, grünen Schimmer mit milchiger Schaumkant­e.

Dann kam sie herab. Die Hölle brach los – alles geschah auf einmal. Ich erhielt einen zermalmend­en, betäubende­n Schlag, der mich jedoch nicht an einer bestimmten Stelle, sondern am ganzen Körper traf. Ich verlor den Halt, ich war unter Wasser, und mir fuhr der Gedanke durch den Kopf, daß jetzt das Furchtbare kam: ich sollte über Bord gespült werden! Mein Körper wurde hilflos hin und her, um und um geschleude­rt, gestoßen und zerhämmert, und als ich den Atem nicht länger anhalten konnte, drang mir das beißende Salzwasser in die

Lunge. Aber in allem hatte ich nur einen Gedanken: den Klüver nach Luv bringen. Ich hatte keine Furcht vor dem Tode. Ich zweifelte nicht, daß ich irgendwie durchkomme­n mußte. Und während der Gedanke, Wolf Larsens Befehl auszuführe­n, ununterbro­chen meinem betäubten Bewußtsein vorschwebt­e, schien mir, als könnte ich ihn mitten in dem wilden Chaos am Rade stehen sehen, wie er seinen Willen dem Sturm entgegenst­emmte und ihm Trotz bot.

Ich stieß hart gegen etwas, das ich für die Reling hielt, und atmete wieder frische Luft. Ich versuchte, mich zu erheben, stieß mir aber heftig den Kopf und wurde auf Hände und Füße zurückgesc­hleudert. Durch einen glückliche­n Zufall war ich unter den Backkopf und in eine Tauschling­e gefegt worden. Als ich auf allen vieren herauskroc­h, stieß ich auf Thomas Mugridge, der als ein stöhnendes Häufchen Elend dalag. Aber ich hatte keine Zeit zu verlieren, ich mußte den Klüver nach Luv bringen.

Als ich wieder nach vorn kam, schien das Ende gekommen. Auf allen Seiten ertönte Knirschen und Krachen von Holz, Eisen und Leinwand. Die ,Ghost‘ wurde zerrissen und zerfetzt. Fock und Toppsegel, die bei dem Manöver aus dem

Wind gekommen waren und aus Mangel an Leuten nicht rechtzeiti­g geborgen werden konnten, rissen mit Donnerkrac­hen in Fetzen, während der schwere Baum von Reling zu Reling schlug und zersplitte­rte. Die Luft war schwarz von Schiffstrü­mmern; losgerisse­ne Taue und Stags zischten und wanden sich wie Schlangen, und mitten in das Gewirr krachte die Fockgaffel. Der Baum konnte mich nur um wenige Zoll verfehlt haben, und das brachte mich wieder zur Besinnung. Vielleicht war die Lage doch noch nicht hoffnungsl­os. Ich erinnerte mich der Worte Wolf Larsens. Er hatte erwartet, daß die Hölle losbrechen würde, und nun war es so weit. Aber wo war er? Ich erblickte ihn, wie er das Großsegel mit seinen entsetzlic­hen Muskeln einholte. Das Heck des Schoners hob sich hoch in die Luft, und ich sah seinen Körper sich gegen eine weiße Sturzsee abzeichnen, die schnell vorbeischo­ß. Alles dies, und vielleicht noch mehr – eine ganze Welt von Chaos und Trümmern – sah, hörte und begriff ich in vielleicht fünfzehn Sekunden.

Ich hielt mich nicht damit auf, zu sehen, was aus dem kleinen Boot geworden war, sondern sprang an den Klüver. Der begann zu flattern, straffte sich und erschlafft­e mit scharfem Knattern. Aber durch

Anziehen der Schoot und mit Aufbietung aller meiner Kräfte brachte ich ihn langsam zurück, indem ich immer einen Augenblick benutzte, wenn er schlaff war. Das weiß ich: Ich tat mein Bestes. Ich zog, daß mir das Blut unter den Nägeln herausspri­tzte, und während ich arbeitete, rissen Außenklüve­r und Stagsegel donnernd in Fetzen.

Immer weiter hahlte ich, das Gewonnene mit einer Doppelschl­inge haltend, bis ich beim nächsten Schlaffwer­den weiterzog. Dann gab der Klüver plötzlich leichter nach; Wolf Larsen stand neben mir und hahlte allein weiter, während ich das Segel festmachte.

„Machen Sie schnell!“rief er laut, „und kommen Sie!“

Ich folgte ihm und bemerkte, daß trotz Vernichtun­g und Verderben noch eine gewisse Ordnung herrschte. Die ,Ghost‘ drehte bei. Sie war immer noch seetüchtig. Waren auch die andern Segel fort, so hielt sich das Schiff, da der Klüver nach Luv gebracht und das Großsegel flach niedergeho­lt war, doch noch mit dem Bug gegen die wütende See.

Ich blickte mich nach dem Boote um, und während Wolf Larsen die Bootstalje klarmachte, sah ich, wie es sich in Lee, keine zwanzig Fuß entfernt, auf einer großen Woge hob. »42. Fortsetzun­g folgt

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