Wie hoch ist die Impfquote wirklich?
Hintergrund Die offiziellen Zahlen des Robert-koch-instituts und Ergebnisse aus Umfragen unterscheiden sich erheblich.
Das Institut spekuliert über fehlende Daten von Betriebsärzten. Doch die Arbeitsmediziner widersprechen energisch
Berlin Die Frage, wie viele Menschen in Deutschland bereits eine Impfung gegen Corona erhalten haben, hat weit mehr als eine statistische Bedeutung. Am Ende entscheidet sie maßgeblich darüber, wie lange die Deutschen wegen Coronamaßnahmen noch ihren Alltag einschränken müssen. Eigentlich trauten Politik und Bevölkerung den Zahlen des Robert-koch-instiuts, die auf den ersten Eindruck eine hohe Präzision vermitteln: Exakt 56911049 Bürgerinnen und Bürger sind demnach mindestens einmal geimpft worden, meldet das RKI Stand Freitag. Unter den Erwachsenen beträgt die Impfquote dem Institut zufolge 79,2 Prozent.
Allerdings trauen die obersten Corona-aufseher ihren eigenen Zahlen doch nicht so ganz und halten sie möglicherweise für zu niedrig, wie RKI-CHEF Lothar Wieler diese Woche einräumte. Sein Institut lässt deshalb die gemeldete Impfquote alle drei bis vier Wochen mit Umfragen in der Bevölkerung abgleichen. Der jüngsten Umfrage zufolge geben sogar 88 Prozent der Befragten an, sie seien bereits gegen Corona geimpft. Wie kommt es zu diesem erheblichen Unterschied?
Die Daten des RKI sind gesichert und wurden in Impfzentren und Arztpraxen genau erfasst. Das RKI spricht deshalb von einer „Mindestimpfquote“. Die 88 Prozent könnten dagegen etwas zu hoch gegriffen sein, denn bei der Telefonumfrage der sogenannten Covimo-studie wird nur der deutschsprachige Teil der Bevölkerung erreicht. In der
wird jedoch vermutet, dass unter den zugewanderten Menschen die Impfquote niedriger ist. „Es besteht die Vermutung, dass Sprachbarrieren auch zu einer geringeren Inanspruchnahme der Covid-19 Impfung führen“, heißt es auch in einer Analyse der RKI.
Der deutliche Anstieg der vierten Welle zum Ende der Sommerferien wird vor allem auf Rückreisende zurückgeführt, die in ihren Heimatländern wie Ex-jugoslawien und der Türkei ihren Urlaub verbracht hatten. Auch die überwiegende Zahl der Intensivpatienten soll damit zusammenhängen, ist aus den Kliniken zu hören. Genaue Daten gibt es nicht. Sie werden – anders als in Ländern mit besser digitalisierten Gesundheitssystemen – in Deutschland nicht so erfasst, dass man sie auswerten könnte. In Großbritannien, Israel oder Dänemark wäre es kein Problem, die exakte Impfquote samt möglicher Impfdurchbrüche mit einem Knopfdruck abzurufen.
Als einen weiteren Grund für die weit klaffende Lücke zwischen der offiziellen und der in Umfragen ermittelten Impfquote nennt das Robert-koch-institut die Impfungen in Betrieben. So hätten bisher nur etwa die Hälfte der Betriebsärzte, die sich im digitalen System registriert hatten, tatsächlich auch Impfungen über das Internetportal gemeldet. Dies könnte „ein Hinweis auf eine Untererfassung der Impfquoten“sein, so das RKI. Der Verband Deutscher Betriebs- und Werksärzte widerspricht jedoch vehement diesen Rki-spekulationen, dass seine Medizinerinnen und Mefachwelt diziner für die angebliche Meldelücke verantwortlich sein könnten.
„Dass nur die Hälfte der Betriebsärzte Daten an das RKI gemeldet haben soll, halten wir für äußerst unrealistisch“, sagt Betriebsärztepräsident Wolfgang Panter unserer Redaktion. „Ein bedeutender Teil der Betriebsarztimpfungen tauchen in der Datenbank als normale Arztimpfungen auf“, betont der Arbeitsmediziner. Das RKI selbst habe darauf bestanden, dass jene Betriebsärzte, die gleichzeitig eine Kassenzulassung haben, ihre Daten über die bestehenden Systeme der Kassenärztlichen Vereinigungen und nicht über das kompliziertere Direktmeldeverfahren an das Berliner Institut melden. „Wir gehen davon aus, dass dies für rund 1500 Betriebsärzte gilt, die in Betrieben geimpft haben und ihre Daten an die Kassenärztliche Vereinigung übermittelt haben“, sagt Panter. „Geht man realistisch davon aus, dass jeder dieser 1500 Ärzte 1000 Betriebsangehörige geimpft hat, wäre man bei 1,5 Millionen Impfungen.“
Das Meldesystem für Betriebsärztinnen und -ärzte ohne Kassenzulassung ist komplizierter. Sie mussten ein Zugangszertifikat der Bundesdruckerei beantragen, um auf die Internetdatenbank des RKI zugreifen zu können. „Teilweise wurden diese Zertifikate erst im August versandt“, kritisiert Verbandspräsident Panter. Viele Betriebsärzte konnten deshalb die Impfdaten erst sehr spät nachmelden. „Wir hatten immer gefordert, die Strukturen für die Betriebsimpfungen rechtzeitig vorzubereiten. Das ist leider viel zu spät geschehen, die Verantwortung dafür tragen aber nicht die Betriebsärzte, sondern die Politik.“
Da die Impfdosen und Spritzen der Staat bezahlt und die Betriebsärzte meist direkt auf Kosten der Firmen arbeiten, gibt es auch keine Krankenkassendaten zum Abgleichen. „Eine funktionierende digitale Infrastruktur für Massenimpfungen gibt es bis heute nicht“, klagt Betriebsärztepräsident Panter. „Das ist nur ein Beispiel, welch gewaltigen Aufholbedarf unser Gesundheitswesen in der Digitalisierung hat“, betont er. Derzeit müssten alle Daten übertragen oder über Dienstleister erfasst werden. „Das Verfahren ist sehr aufwendig und papierlastig. Alle Daten müssen händisch eingegeben werden, das macht es langsam und fehleranfällig.“