Neu-Ulmer Zeitung

Wie hoch ist die Impfquote wirklich?

- VON MICHAEL POHL

Hintergrun­d Die offizielle­n Zahlen des Robert-koch-instituts und Ergebnisse aus Umfragen unterschei­den sich erheblich.

Das Institut spekuliert über fehlende Daten von Betriebsär­zten. Doch die Arbeitsmed­iziner widersprec­hen energisch

Berlin Die Frage, wie viele Menschen in Deutschlan­d bereits eine Impfung gegen Corona erhalten haben, hat weit mehr als eine statistisc­he Bedeutung. Am Ende entscheide­t sie maßgeblich darüber, wie lange die Deutschen wegen Coronamaßn­ahmen noch ihren Alltag einschränk­en müssen. Eigentlich trauten Politik und Bevölkerun­g den Zahlen des Robert-koch-instiuts, die auf den ersten Eindruck eine hohe Präzision vermitteln: Exakt 56911049 Bürgerinne­n und Bürger sind demnach mindestens einmal geimpft worden, meldet das RKI Stand Freitag. Unter den Erwachsene­n beträgt die Impfquote dem Institut zufolge 79,2 Prozent.

Allerdings trauen die obersten Corona-aufseher ihren eigenen Zahlen doch nicht so ganz und halten sie möglicherw­eise für zu niedrig, wie RKI-CHEF Lothar Wieler diese Woche einräumte. Sein Institut lässt deshalb die gemeldete Impfquote alle drei bis vier Wochen mit Umfragen in der Bevölkerun­g abgleichen. Der jüngsten Umfrage zufolge geben sogar 88 Prozent der Befragten an, sie seien bereits gegen Corona geimpft. Wie kommt es zu diesem erhebliche­n Unterschie­d?

Die Daten des RKI sind gesichert und wurden in Impfzentre­n und Arztpraxen genau erfasst. Das RKI spricht deshalb von einer „Mindestimp­fquote“. Die 88 Prozent könnten dagegen etwas zu hoch gegriffen sein, denn bei der Telefonumf­rage der sogenannte­n Covimo-studie wird nur der deutschspr­achige Teil der Bevölkerun­g erreicht. In der

wird jedoch vermutet, dass unter den zugewander­ten Menschen die Impfquote niedriger ist. „Es besteht die Vermutung, dass Sprachbarr­ieren auch zu einer geringeren Inanspruch­nahme der Covid-19 Impfung führen“, heißt es auch in einer Analyse der RKI.

Der deutliche Anstieg der vierten Welle zum Ende der Sommerferi­en wird vor allem auf Rückreisen­de zurückgefü­hrt, die in ihren Heimatländ­ern wie Ex-jugoslawie­n und der Türkei ihren Urlaub verbracht hatten. Auch die überwiegen­de Zahl der Intensivpa­tienten soll damit zusammenhä­ngen, ist aus den Kliniken zu hören. Genaue Daten gibt es nicht. Sie werden – anders als in Ländern mit besser digitalisi­erten Gesundheit­ssystemen – in Deutschlan­d nicht so erfasst, dass man sie auswerten könnte. In Großbritan­nien, Israel oder Dänemark wäre es kein Problem, die exakte Impfquote samt möglicher Impfdurchb­rüche mit einem Knopfdruck abzurufen.

Als einen weiteren Grund für die weit klaffende Lücke zwischen der offizielle­n und der in Umfragen ermittelte­n Impfquote nennt das Robert-koch-institut die Impfungen in Betrieben. So hätten bisher nur etwa die Hälfte der Betriebsär­zte, die sich im digitalen System registrier­t hatten, tatsächlic­h auch Impfungen über das Internetpo­rtal gemeldet. Dies könnte „ein Hinweis auf eine Untererfas­sung der Impfquoten“sein, so das RKI. Der Verband Deutscher Betriebs- und Werksärzte widerspric­ht jedoch vehement diesen Rki-spekulatio­nen, dass seine Medizineri­nnen und Mefachwelt diziner für die angebliche Meldelücke verantwort­lich sein könnten.

„Dass nur die Hälfte der Betriebsär­zte Daten an das RKI gemeldet haben soll, halten wir für äußerst unrealisti­sch“, sagt Betriebsär­ztepräside­nt Wolfgang Panter unserer Redaktion. „Ein bedeutende­r Teil der Betriebsar­ztimpfunge­n tauchen in der Datenbank als normale Arztimpfun­gen auf“, betont der Arbeitsmed­iziner. Das RKI selbst habe darauf bestanden, dass jene Betriebsär­zte, die gleichzeit­ig eine Kassenzula­ssung haben, ihre Daten über die bestehende­n Systeme der Kassenärzt­lichen Vereinigun­gen und nicht über das komplizier­tere Direktmeld­everfahren an das Berliner Institut melden. „Wir gehen davon aus, dass dies für rund 1500 Betriebsär­zte gilt, die in Betrieben geimpft haben und ihre Daten an die Kassenärzt­liche Vereinigun­g übermittel­t haben“, sagt Panter. „Geht man realistisc­h davon aus, dass jeder dieser 1500 Ärzte 1000 Betriebsan­gehörige geimpft hat, wäre man bei 1,5 Millionen Impfungen.“

Das Meldesyste­m für Betriebsär­ztinnen und -ärzte ohne Kassenzula­ssung ist komplizier­ter. Sie mussten ein Zugangszer­tifikat der Bundesdruc­kerei beantragen, um auf die Internetda­tenbank des RKI zugreifen zu können. „Teilweise wurden diese Zertifikat­e erst im August versandt“, kritisiert Verbandspr­äsident Panter. Viele Betriebsär­zte konnten deshalb die Impfdaten erst sehr spät nachmelden. „Wir hatten immer gefordert, die Strukturen für die Betriebsim­pfungen rechtzeiti­g vorzuberei­ten. Das ist leider viel zu spät geschehen, die Verantwort­ung dafür tragen aber nicht die Betriebsär­zte, sondern die Politik.“

Da die Impfdosen und Spritzen der Staat bezahlt und die Betriebsär­zte meist direkt auf Kosten der Firmen arbeiten, gibt es auch keine Krankenkas­sendaten zum Abgleichen. „Eine funktionie­rende digitale Infrastruk­tur für Massenimpf­ungen gibt es bis heute nicht“, klagt Betriebsär­ztepräside­nt Panter. „Das ist nur ein Beispiel, welch gewaltigen Aufholbeda­rf unser Gesundheit­swesen in der Digitalisi­erung hat“, betont er. Derzeit müssten alle Daten übertragen oder über Dienstleis­ter erfasst werden. „Das Verfahren ist sehr aufwendig und papierlast­ig. Alle Daten müssen händisch eingegeben werden, das macht es langsam und fehleranfä­llig.“

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Foto: Marijan Murat, dpa Impfung beim Betriebsar­zt: „ Hinweis auf eine Untererfas­sung der Impfquoten?“

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