Der Welt abhanden kommen mit Currentzis
Musik Der griechisch-russische Dirigent begeistert mit seinem Orchester musicaeterna in Luzern
Luzern Über dem Vierwaldstättersee türmen sich spektakulär die Wolken. Zwei große Banner kündigen die erste internationale Künstlerresidenz des griechisch-russischen Dirigenten Teodor Currentzis mit seinem Ensemble musicaeterna aus Sankt Petersburg im Kultur- und Kongresszentrum Luzern an. Das dreitägige Programm umfasst Filme, Diskussionen, Meisterklassen und Konzerte.
Zum Auftakt steht das zeitgenössische Chorwerk „Tristia“des französischen Komponisten Philippe Hersant auf dem Programm, das auf Gedichten französischer und russischer Gefangener basiert. Neunzig Minuten lang verwandeln der Dirigent, sein Chor und 15 Solo-instrumentalisten den Konzertsaal in eine Kirche. Das Publikum ist erschüttert – und begeistert. Es gibt Standing Ovations für das Werk, das der Maestro in der anschließenden Podiumsdiskussion als „heilig“bezeichnet. Teodor Currentzis benutzt gerne Worte wie „heilig“, „mystisch“und „spirituell“. Die Zuhörerinnen und Zuhörer hängen an seinen Lippen.
In seiner Wahlheimat Russland ist der gebürtige Grieche ein Star, und nachdem er 2018 Chefdirigent des Swr-sinfonieorchesters in Stuttgart wurde, sind auch hierzulande all seine Konzerte ausverkauft. Nach dem Gespräch scharen sich die bis aus Russland nach Luzern angereisten Fans um ihn und zücken ihre Smartphones. Currentzis lächelt zwar, aber er hat genug an dem Abend und verschwindet so schnell er kann mit seiner Entourage.
Zur kostenlosen Meisterklasse mit Orchester am folgenden Tag um die Mittagszeit ist der große Konzertsaal gut gefüllt. Studierende der Luzerner Musikhochschule belagern die ersten Reihen. Das Orchester spielt sich ein. Zwei junge Nachwuchsdirigenten sind ausgewählt, um mit dem Orchester Teile aus Gustav Mahlers 5. Sinfonie zu proben, unterstützt vom Maestro höchstpersönlich.
Der Schweizer Francois Girardgarcia betritt das Pult und hebt die Arme – wie Currentzis benutzt auch er keinen Taktstock. Das berühmte Adagietto, dem der italienische Regisseur Luchino Visconti in seinem Film „Tod in Venedig“ein Denkmal setzte, erklingt.
Currentzis, in enger Jeans, T-shirt und schwarzen Lederschuhen mit roten Schnürsenkeln, hört konzentriert zu und ermutigt den jungen Dirigenten selbstbewusster mit der Partitur und dem Orchester umzugehen: „Lass sie zu dir kommen“, rät er ihm, „warte nicht auf sie! Mach es ihnen nicht so leicht! Sie spielen alles, was in der Partitur steht. Zeig’ ihnen das, was nicht in der Partitur steht!“. Und dann macht er ihm vor, wie das geht, und das ist vielleicht das Eindrücklichste, was man mit Teodor Currentzis und musicaeterna erleben kann, denn das präzise, ja fast schon symbiotische Zusammenspiel zwischen dem Dirigenten und seinem Orchester ist einmalig. Es ist so, als ob die Musik sicht- und fassbar wird.
Hören kann man das natürlich auch, die spektakulären Aufnahmen von Currentzis und musicaeterna sind preisgekrönt. Das eigene Orchester ist ein Privileg, ein Traum vieler Dirigenten, den sich Teodor Currentzis im Jahr 2004 im russischen Novosibirsk erfüllte, wo er mit handverlesenen jungen Instrumentalisten und Vokalisten sein Ensemble gründete. 2011 zogen sie gemeinsam weiter nach Perm; seit zwei Jahren sind sie in Sankt Petersburg beheimatet. Wie eine Familie leben und arbeiten sie zusammen und erbringen musikalische Höchstleistungen.
„Ich bin der Welt abhanden gekommen“, zitiert Currentzis auf Deutsch die erste Zeile aus dem gleichnamigen Gedicht von Friedrich Rückert, das Gustav Mahler 1901 vertonte – darum gehe es im Adagietto und „daran arbeiten wir jetzt!“.
120 Minuten später stellen alle im Saal Anwesenden fest, dass sie der Welt abhanden gekommen sind. Im Foyer sind Schlagworte wie Magie, Zauberei, Energie, Offenbarung, Aura zu hören. Begriffe die oft im Zusammenhang mit Teodor Currentzis fallen. Schamane, Scharlatan, Rebell, Exzentriker, Guru, lauten weitere Feuilleton-schlagworte seiner Kritiker, die sich oft an seinem Kleidungsstil und dann an seinem Dirigierstil – Beschwörung! Theater! Rumgehampel! – abarbeiten.
Currentzis polarisiert; zweifelsohne gehört er zu den aufregendsten und interessantesten Dirigenten der Gegenwart, die alte und neue Musik gleichermaßen aufführen – und das ruft viel Neid hervor. Kompromisslos erforscht er Partituren, und schafft auf diese Weise ein unvergleichliches Hörerlebnis, das aber nicht jedermanns Sache ist.
Doch wer ihm vorwirft, er bemächtige sich größenwahnsinnig einer Partitur, der hört einfach schlecht. Die ältere Luzernerin, die sich nicht für klassische Musik, sondern nur für Jazz interessiert und nur aus Neugierde gekommen ist, um sich „diesen Currentzis einmal anzuschauen“, ist vollkommen begeistert.
„So etwas habe ich noch nie gehört, noch nie!“, schwärmt sie und kauft sich sofort eine Karte für das Abschlusskonzert.