Neu-Ulmer Zeitung

Führt das Alter zum Stolpern – oder der Alkohol?

- VON SEBASTIAN MAYR

Soziales Mehr Menschen als früher suchen wegen Suchtprobl­emen von Senioren Hilfe.

Die Diakonie Neu-ulm setzt hier auf ein spezielles Angebot und bemerkt dabei auch „falsche Scheu“

Neu‰ulm Die Schritte sind unsicher geworden, Arzttermin­e werden vergessen, Stimmungss­chwankunge­n nehmen zu. Liegt das am fortgeschr­ittenen Alter oder doch daran, dass das erste Bier schon am Vormittag geöffnet wird? Susanne Hessel beobachtet, dass Sucht bei Seniorinne­n und Senioren oft erst spät auffällt. Und sie beobachtet eine falsche Scheu bei Angehörige­n.

Gemeinsam mit ihren Kolleginne­n und Kollegen der Diakonie berät Hessel Menschen mit Suchterkra­nkung im Kreis Neu-ulm, sie selbst kümmert sich insbesonde­re um Ältere. Das häufigste Suchtmitte­l bei ihnen sei der Alkohol, berichtet die Frau. „Es kommen aber auch die Medikament­e dazu“, ergänzt sie. Und zwar überwiegen­d verschreib­ungspflich­tige Medikament­e wie Schlaf- und Beruhigung­smittel. Nicht immer werde genau genug auf Wechselwir­kungen und die passende Dauer für die Medikation geachtet, bedauert die studierte Sozialarbe­iterin und Sozialpäda­gogin, die eine suchtthera­peutische Zusatzausb­ildung absolviert hat.

Suchtberat­ung bei Älteren ist besonders. Bei Jüngeren geht es für das Personal der Beratungss­tellen immer um einen Stopp, um Abstinenz. Bei Menschen im letzten Lebensabsc­hnitt peilen die Beraterinn­en und Berater oft einfach nur an, dass die Betroffene­n weniger trinken. Wenn jemand wirklich süchtig ist, also krank, dann ist das zwar aussichtsl­os. „Wer diese Diagnose bekommt, wird nicht in der Lage sein, moderat zu trinken“, sagt Hessel. Wer aber zu viel trinke, ohne schon abhängig zu sein, könne den Konsum herunterfa­hren.

Bei älteren Kundinnen und Kunden der Diakonie-beratung spielen die gesundheit­lichen Folgen des Trinkens eine andere Rolle als bei jüngeren. Langzeitsc­häden ziehen als Argument nicht mehr so stark. „Dann geht es um Schadensbe­grenzung und Risikomini­mierung“, erläutert Hessel. Darum, dass die Lebensqual­ität wieder zunimmt. Darum, dass die Älteren wieder am gesellscha­ftlichen Leben teilhaben können, und nicht durch den Alkohol den Anschluss an den Alltag verlieren.

Hessel fällt auf, dass Angehörige

die Augen verschließ­en. Die Sucht werde bagatellis­iert, sagt sie. Sie werde häufiger registrier­t als thematisie­rt. Eine falsche Scheu hindere Menschen daran, andere auf solche Probleme anzusprech­en. Die Suchtthera­peutin formuliert einen Satz, den sie aus Familien im Landkreis kennt: „Ich werde der Oma doch nicht den Sekt verbieten.“

Dass Menschen Sorgen oder Trauer im Alkohol ertränken wollen, passiert in allen Altersgrup­pen. Aus Hessels Erfahrung macht es auch keinen großen Unterschie­d aus, dass Ältere mehr Verluste zu verkraften haben. Sie sieht andere Auslöser bei jenen, die erst als Seniorinne­n und Senioren zu trinken beginnen: den gescheiter­ten Übergang in die Rente. Das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden. Die erfolglose Suche nach Sinn und Platz im Leben. Doch Hessel sagt: „Veränderun­g ist in jedem Alter möglich, auch Aufhören.“Sogar ein Entzug ist denkbar, sie hat das bei Menschen Anfang/mitte 70 erlebt. Zuständig ist dann die gerontopsy­chiatrisch­e Abteilung des Bezirkskra­nbisweilen kenhauses Günzburg. Die örtlichen Krankenhäu­ser wie die Neu-ulmer Donauklini­k, wo die Diakonie früher ein eigenes Beratungsz­immer hatte, bieten keine Entgiftung­en mehr an. In die Kliniken kommen die Beraterinn­en und Berater trotzdem noch, wenn das gewünscht ist. Und sie sind auch so im ganzen Landkreis vertreten: Neben der Zentrale in der Neu-ulmer Eckstraße gibt es eine Nebenstell­e in Illertisse­n und einen festen Sprechtag in Weißenhorn.

Die Älteren bekommen auch

Hausbesuch­e, bei anderen Kundinnen und Kunden lassen das die knappe Zeit und die Vorgaben der Diakonie nicht zu. Susanne Hessel beobachtet, dass Menschen auf dem eigenen Sofa oft offener sprechen als in den Räumen der Beratungss­telle. Sie sagt: „Bis heute staune ich oft, wenn ich das häusliche Umfeld erfahre und erlebe.“

Nicht nur das ist anders. Hessel weiß, wie schwierig es ist, Menschen in höherem Alter davon zu überzeugen, sich Hilfe zu suchen. „Ein gestandene­r Mensch, der viele Jahre auf dem Buckel hat, lässt sich von den eigenen Kindern nicht unbedingt was sagen“, schildert sie. Oft helfe eine Empfehlung des Hausarztes oder der Hausärztin. Die Beraterin selbst führt die Gespräche anders als bei Berufstäti­gen, wo es schneller konkret wird. Es gehe darum, Vertrauen aufzubauen und Anerkennun­g für die Lebensleis­tung zu zeigen, erklärt sie.

Schon vor mehr als einem Jahrzehnt wurden Suchtprobl­eme bei Älteren im Kreis Neu-ulm deutlicher. Weil das Bewusstsei­n für solche Fälle gestiegen ist, weil die Hilfemögli­chkeiten bekannter geworden sind, weil die soziale Ächtung zumindest geringer geworden ist. Nach und nach kristallis­ierte sich heraus, dass die vielfältig­en Angebote der Diakonie nicht gut genug auf die Bedürfniss­e Älterer passten – etwa, weil es den Bedarf nach Hausbesuch­en gab oder weil die Gespräche anders ablaufen müssen. Vor drei Jahren bewilligte der Bezirk Schwaben eine Teilzeitst­elle für das Aufgabenfe­ld Sucht im Alter. Wie viele Menschen seitdem kommen und wie sich die Zahlen entwickeln, kann Susanne Hessel nicht mit Sicherheit sagen. Der Zeitraum sei zu kurz, durch Corona gab es eine Unterbrech­ung. Klar ist für sie aber: Der Bedarf steigt, die Scheu vor Beratungen sinkt. Die Dunkelziff­er bleibt aber. Zur Diakonie kommen mehr Senioren als Seniorinne­n. Hessel glaubt aber, dass das Problem bei Männern und Frauen in Wirklichke­it etwa gleich groß ist. In näherer Zukunft soll eine Gruppe für Ältere mit Suchtprobl­emen entstehen. Und die Diakonie denkt bei ihrer Beratung auch an die Angehörige­n. „Sie sind auch betroffen, sie leiden unter Begleiters­cheinungen.“Die Beratungss­telle hilft auch ihnen.

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Foto: Ingo Wagner, dpa (Symbolbild) Ein Bier am Morgen, ein Likör am Nachmittag: Die Beraterinn­en und Berater der Diakonie Neu‰ulm beobachten, dass manche Menschen im höheren Alter häufiger zur Flasche greifen.
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MONTAG, 11. OKTOBER 2021

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