Führt das Alter zum Stolpern – oder der Alkohol?
Soziales Mehr Menschen als früher suchen wegen Suchtproblemen von Senioren Hilfe.
Die Diakonie Neu-ulm setzt hier auf ein spezielles Angebot und bemerkt dabei auch „falsche Scheu“
Neuulm Die Schritte sind unsicher geworden, Arzttermine werden vergessen, Stimmungsschwankungen nehmen zu. Liegt das am fortgeschrittenen Alter oder doch daran, dass das erste Bier schon am Vormittag geöffnet wird? Susanne Hessel beobachtet, dass Sucht bei Seniorinnen und Senioren oft erst spät auffällt. Und sie beobachtet eine falsche Scheu bei Angehörigen.
Gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen der Diakonie berät Hessel Menschen mit Suchterkrankung im Kreis Neu-ulm, sie selbst kümmert sich insbesondere um Ältere. Das häufigste Suchtmittel bei ihnen sei der Alkohol, berichtet die Frau. „Es kommen aber auch die Medikamente dazu“, ergänzt sie. Und zwar überwiegend verschreibungspflichtige Medikamente wie Schlaf- und Beruhigungsmittel. Nicht immer werde genau genug auf Wechselwirkungen und die passende Dauer für die Medikation geachtet, bedauert die studierte Sozialarbeiterin und Sozialpädagogin, die eine suchttherapeutische Zusatzausbildung absolviert hat.
Suchtberatung bei Älteren ist besonders. Bei Jüngeren geht es für das Personal der Beratungsstellen immer um einen Stopp, um Abstinenz. Bei Menschen im letzten Lebensabschnitt peilen die Beraterinnen und Berater oft einfach nur an, dass die Betroffenen weniger trinken. Wenn jemand wirklich süchtig ist, also krank, dann ist das zwar aussichtslos. „Wer diese Diagnose bekommt, wird nicht in der Lage sein, moderat zu trinken“, sagt Hessel. Wer aber zu viel trinke, ohne schon abhängig zu sein, könne den Konsum herunterfahren.
Bei älteren Kundinnen und Kunden der Diakonie-beratung spielen die gesundheitlichen Folgen des Trinkens eine andere Rolle als bei jüngeren. Langzeitschäden ziehen als Argument nicht mehr so stark. „Dann geht es um Schadensbegrenzung und Risikominimierung“, erläutert Hessel. Darum, dass die Lebensqualität wieder zunimmt. Darum, dass die Älteren wieder am gesellschaftlichen Leben teilhaben können, und nicht durch den Alkohol den Anschluss an den Alltag verlieren.
Hessel fällt auf, dass Angehörige
die Augen verschließen. Die Sucht werde bagatellisiert, sagt sie. Sie werde häufiger registriert als thematisiert. Eine falsche Scheu hindere Menschen daran, andere auf solche Probleme anzusprechen. Die Suchttherapeutin formuliert einen Satz, den sie aus Familien im Landkreis kennt: „Ich werde der Oma doch nicht den Sekt verbieten.“
Dass Menschen Sorgen oder Trauer im Alkohol ertränken wollen, passiert in allen Altersgruppen. Aus Hessels Erfahrung macht es auch keinen großen Unterschied aus, dass Ältere mehr Verluste zu verkraften haben. Sie sieht andere Auslöser bei jenen, die erst als Seniorinnen und Senioren zu trinken beginnen: den gescheiterten Übergang in die Rente. Das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden. Die erfolglose Suche nach Sinn und Platz im Leben. Doch Hessel sagt: „Veränderung ist in jedem Alter möglich, auch Aufhören.“Sogar ein Entzug ist denkbar, sie hat das bei Menschen Anfang/mitte 70 erlebt. Zuständig ist dann die gerontopsychiatrische Abteilung des Bezirkskranbisweilen kenhauses Günzburg. Die örtlichen Krankenhäuser wie die Neu-ulmer Donauklinik, wo die Diakonie früher ein eigenes Beratungszimmer hatte, bieten keine Entgiftungen mehr an. In die Kliniken kommen die Beraterinnen und Berater trotzdem noch, wenn das gewünscht ist. Und sie sind auch so im ganzen Landkreis vertreten: Neben der Zentrale in der Neu-ulmer Eckstraße gibt es eine Nebenstelle in Illertissen und einen festen Sprechtag in Weißenhorn.
Die Älteren bekommen auch
Hausbesuche, bei anderen Kundinnen und Kunden lassen das die knappe Zeit und die Vorgaben der Diakonie nicht zu. Susanne Hessel beobachtet, dass Menschen auf dem eigenen Sofa oft offener sprechen als in den Räumen der Beratungsstelle. Sie sagt: „Bis heute staune ich oft, wenn ich das häusliche Umfeld erfahre und erlebe.“
Nicht nur das ist anders. Hessel weiß, wie schwierig es ist, Menschen in höherem Alter davon zu überzeugen, sich Hilfe zu suchen. „Ein gestandener Mensch, der viele Jahre auf dem Buckel hat, lässt sich von den eigenen Kindern nicht unbedingt was sagen“, schildert sie. Oft helfe eine Empfehlung des Hausarztes oder der Hausärztin. Die Beraterin selbst führt die Gespräche anders als bei Berufstätigen, wo es schneller konkret wird. Es gehe darum, Vertrauen aufzubauen und Anerkennung für die Lebensleistung zu zeigen, erklärt sie.
Schon vor mehr als einem Jahrzehnt wurden Suchtprobleme bei Älteren im Kreis Neu-ulm deutlicher. Weil das Bewusstsein für solche Fälle gestiegen ist, weil die Hilfemöglichkeiten bekannter geworden sind, weil die soziale Ächtung zumindest geringer geworden ist. Nach und nach kristallisierte sich heraus, dass die vielfältigen Angebote der Diakonie nicht gut genug auf die Bedürfnisse Älterer passten – etwa, weil es den Bedarf nach Hausbesuchen gab oder weil die Gespräche anders ablaufen müssen. Vor drei Jahren bewilligte der Bezirk Schwaben eine Teilzeitstelle für das Aufgabenfeld Sucht im Alter. Wie viele Menschen seitdem kommen und wie sich die Zahlen entwickeln, kann Susanne Hessel nicht mit Sicherheit sagen. Der Zeitraum sei zu kurz, durch Corona gab es eine Unterbrechung. Klar ist für sie aber: Der Bedarf steigt, die Scheu vor Beratungen sinkt. Die Dunkelziffer bleibt aber. Zur Diakonie kommen mehr Senioren als Seniorinnen. Hessel glaubt aber, dass das Problem bei Männern und Frauen in Wirklichkeit etwa gleich groß ist. In näherer Zukunft soll eine Gruppe für Ältere mit Suchtproblemen entstehen. Und die Diakonie denkt bei ihrer Beratung auch an die Angehörigen. „Sie sind auch betroffen, sie leiden unter Begleiterscheinungen.“Die Beratungsstelle hilft auch ihnen.