Gehen den Kirchen junge Menschen verloren?
Jugendarbeit Evangelische und katholische Gemeinden mussten in der Pandemie auf Gruppenstunden oder Zeltlager verzichten. Die Folgen davon zeigen sich immer deutlicher. Und der Ruf nach einer Lockerung der Corona-regeln wird laut
Augsburg/emersacker Aus Tanja Ehinger spricht eine Sorge, die gerade häufig in der katholischen und evangelischen Kirche zu hören ist: Es ist die Sorge um die Kinder- und Jugendarbeit – davor, dass junge Menschen den Kirchen abhandenkommen, weil es in Pandemiezeiten schlicht an persönlichen Kontaktmöglichkeiten mangelt oder die Bedingungen dafür nach wie vor schwierig sind.
Etwa eineinhalb Jahre lang habe es in der katholischen Pfarrei St. Martin Emersacker im Landkreis Augsburg, in der sie Mitglied des Pfarrgemeinderats ist, keine Gruppenstunden oder gar Zeltlager gegeben, sagt die 44-Jährige. Bereits zwei Jahrgänge an Kommunionund Firm-kindern habe man mehr oder weniger verloren. So seien aus dem Kreis der Kommunionkinder „so gut wie keine“Ministrantinnen und Ministranten hervorgegangen. Vor Corona seien es von beispielsweise 15 bis zu zehn gewesen.
Im Namen des Pfarrgemeinderats hat Tanja Ehinger einen Brief an das Bistum geschrieben: „Wie sollen wir Kinder/jugendliche erreichen und begeistern, ohne in direkten Kontakt mit ihnen zu kommen? Wie soll Gemeinschaft entstehen?“, fragt sie. Im Gespräch mit unserer Redaktion appelliert sie an die Kirchenverantwortlichen, sich für eine Lockerung der Corona-maßnahmen im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit bei der Staatsregierung einzusetzen. Denn: Die Kinder und Jugendlichen, die jetzt nicht erreichbar seien, kämen nicht wieder.
Sie zweifelt nicht grundsätzlich am Sinn der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung, die die Kirchen umsetzen. Sie empfindet die Regelungen, die etwa für Gruppenstunden gelten, aber als unverhältnismäßig: Gruppenleiterinnen und -leiter seien vollständig geimpft, sagt sie. Schülerinnen und Schüler würden mehrmals wöchentlich getestet und müssten im Unterricht keine Maske mehr tragen.
Im katholischen Bistum Augsburg weist den Pfarrgemeinden ein Ampelsystem den Weg. Bei Ministrantenund Jugendgruppen steht die Ampel auf Gelb, heißt: „Maskenpflicht für alle Teilnehmer, so lange, bis feste Plätze eingenommen sind und Abstand von 1,5 Meter eingehalten wird.“Ab einer Siebentage-infektionsinzidenz von über 35 gelte indoor die 3G-regel – wobei Schülerinnen und Schüler als getestet angesehen würden. In der evangelischen Kirche ist es nicht anders. In der Praxis bedeute das jedoch, so Tanja Ehinger, dass gemeinsames Spielen in einem kleinen Gruppenraum im Pfarrheim nur mit Maske möglich sei. Das sei wenig attraktiv und realitätsfremd.
Der parlamentarische Geschäftsführer der mitregierenden Freien Wähler, der schwäbische Abgeordnete Fabian Mehring, teilt ihre Meinung: „Wenn selbst in Bars und Nachtklubs lockerere Regeln gelten als in der kirchlichen Jugendarbeit, ist das absurd und muss geändert werden“, fordert er. „Schließlich werden unsere Kinder in den Schulen dreimal wöchentlich getestet und gemeinsam in Präsenz beschult.“Ihnen dann weiterhin zu verbieten, abends im Pfarrheim ohne Maske einen Film anzuschauen, mache keinen Sinn und diene dem Infektionsschutz nicht.
Wie stark die kirchliche Kinderund Jugendarbeit durch die Pandemiefolgen betroffen ist – wie groß der Einbruch etwa bei der Zahl der Ministranten flächendeckend ist – kann weder das Bistum Augsburg noch der evangelisch-lutherische Kirchenkreis Augsburg und Schwaben sagen. Offensichtlich gibt es mancherorts massive Einbrüche.
Die Sorge vor Kontaktabbrüchen, auch der Verlust einer Generation an ehrenamtlichen Mitarbeitenden sowie die Frage nach einem Neuanfang nach der Pandemie treibe viele um, sagt der evangelische Kirchenrat Christoph Burger.
Er verweist auf eine aktuelle Studie der Evangelischen Arbeitsstelle für missionarische Kirchenentwicklung und diakonische Profilbildung (midi), deren Ergebnisse auch einen Einblick in die Lage der Kirchengemeinden des Kirchenkreises geben könnten. Demnach stellten rund ein Fünftel der befragten Gemeinden fest, dass der Kontakt zu Kindern und Jugendlichen „nachhaltig abgebrochen“ist.
Burger berichtet zudem von einem erhöhten Seelsorgebedarf, vor allem in der Phase des zweiten und dritten Lockdowns. Vor allem Jugendliche zwischen 14 und 18 nahmen ihm zufolge Online-seelsorgeangebote wahr. „Die Anfragen reichten bis hin zu veritablen Lebensund Sinnkrisen gepaart mit massivem Alkoholmissbrauch.“
Emily Klotz, Diözesanleiterin der Katholischen jungen Gemeinde (KJG), sagt: Die lange Zeit, in der die verbandliche Kinder- und Jugendarbeit nicht in Präsenz stattfinden habe können, sei nicht spurlos an der KJG und den ihr anvertrauten Kindern und Jugendlichen vorbeigegangen. „Monatelang wurden deren Bedürfnisse von der Politik zu wenig wahrgenommen“, kritisiert sie. Mit digitalen Angeboten könne man allenfalls Mitglieder halten, aber keine neuen Kontakte knüpfen und einen Mitgliederzuwachs erreichen.
„Deswegen sind wir froh und dankbar, dass nun – auch dank der Impfungen – wieder mehr Veranstaltungen möglich werden, sehen uns jedoch bisweilen mit Maßnahmen konfrontiert, die sich häufig widersprechen und/oder in der Umsetzung unklar sind“, sagt Klotz. „Hier wünschen wir uns eine Eindeutigkeit der Regelungen, die uns unsere Arbeit sinnvoll tun lässt.“
Eine Sprecherin des Gesundheitsministeriums weist auf Anfrage auf die freiwillige „3Gplus“-regelung hin: Unter deren Voraussetzungen könnten Veranstaltungen der Kirchen für Kinder und Jugendliche auch ohne Maskenpflicht und Einhaltung von Mindestabständen durchgeführt werden. Die Voraussetzungen sind: Besucherinnen und Besucher müssen geimpft, getestet oder genesen sein und auf diese Zugangsbeschränkung „deutlich erkennbar“hingewiesen werden. Es müsse eine „wirksame Zugangskontrolle“– inklusive Identitätsfeststellung – geben. Und: Die Veranstaltung müsse vorab bei der zuständigen Kreisverwaltungsbehörde angezeigt werden. Was sie nicht sagt: Wer dagegen fahrlässig oder vorsätzlich verstößt, begeht eine bußgeldbewehrte Ordnungswidrigkeit.
Tanja Ehinger kann darüber nur den Kopf schütteln. »Kommentar
Spielen nur mit Maske? Das sei realitätsfremd