Neu-Ulmer Zeitung

Taugt Italiens Impfpoliti­k als Vorbild?

- VON JULIUS MÜLLER‰MEININGEN

Debatte Ohne Schutznach­weis kein Job: Italien führt ab dieser Woche eine indirekte Impfpflich­t ein und erlebt harte Proteste. Was andere Länder daraus lernen können

Von diesem Montag an müssen Italiens Arbeitnehm­er und Arbeitnehm­erinnen den sogenannte­n Green Pass vorzeigen, wenn sie zur Arbeit gehen. Das bedeutet, sie müssen geimpft sein, Covid-19 überstande­n haben oder einen negativen Test vorzeigen. Damit hat die Regierung von Ministerpr­äsident Mario Draghi eine indirekte Impfpflich­t eingeführt. Denn praktisch und finanziell gesehen ist es von niemandem zu verlangen, sich für den Gang zum Arbeitspla­tz alle paar Tage auf Corona testen zu lassen. Die Impfquote steigt angesichts der Verschärfu­ng der Regeln weiter, unter der erwachsene­n Bevölkerun­g sind mehr als 80 Prozent vollständi­g geimpft. Das Kalkül der Regierung, die eine Vollimmuni­sierung der Bevölkerun­g anstrebt, geht auf.

In der EU ist Italien Vorreiter einer Entwicklun­g, in der Freiheitsr­echte drastisch eingeschrä­nkt werden. Gerechtfer­tigt werden diese Maßnahmen mit der Bedrohung durch die Pandemie. Das ist legitim, wenn man andere Einschränk­ungen nicht mehr in Kauf nehmen will. Die Folgen einer solchen Politik sollten aber nicht aus den Augen gelassen werden. Denn Politik, die mit Zwang ans Ziel kommen will, bedarf absoluter Transparen­z. Dann können die Betroffene­n die extreme Entscheidu­ng nachvollzi­ehen, andernfall­s wächst radikaler Protest. Italiens Nachbarlän­der tun deshalb gut daran, mit Zwangsmaßn­ahmen nicht zu weit zu gehen. Sie blicken gespannt auf die Entwicklun­g südlich der Alpen.

Registrier­t wird auch der Widerstand gegen die Maßnahmen. Regelmäßig gehen Tausende beispielsw­eise in Rom und in Mailand auf die Straße, um friedlich gegen die Maßnahmen zu protestier­en. Die Menge ist vielfältig, sie eint allein der Protest gegen die harten staatliche­n Maßnahmen. Man hat es mit Verschwöru­ngstheoret­ikern zu tun, mit Impfgegner­n, mit Impfskepti­kern oder Menschen, denen die staatliche­n Antworten auf die Pandemie schlicht zu weit gehen. Auch Extremiste­n sind unter den Demonstran­ten, sie versuchen, den Protest für ihre Zwecke auszunutze­n. Vor einer Woche stürmten Rechtsextr­emisten den Sitz einer Gewerkscha­ft in Rom, am Samstag unterwande­rten Linksextre­me eine Demonstrat­ion in Mailand.

Es ist also falsch, diejenigen, die sich gegen die Zwangsmaßn­ahmen auflehnen, generell als Extremiste­n abzustempe­ln. Die Vernünftig­en unter den Kritikern haben gute Argumente. De facto zwingt der italienisc­he Staat die Arbeitnehm­er und Arbeitnehm­erinnen in Italien zur Impfung. Formaljuri­stisch gesehen handelt es sich bei einer Impfung um eine Körperverl­etzung, deshalb müssen Geimpfte per Unterschri­ft einwillige­n und jede Verantwort­ung für die Folgen der Immunisier­ung übernehmen. So schützen sich Staat und Hersteller gegen Schadenser­satzansprü­che. Die Corona-impfungen haben – daran besteht kein Zweifel – meist sehr geringe, aber in sehr seltenen Fällen auch schwere Nebenwirku­ngen. Einige von ihnen stehen auf den Beipackzet­teln der Präparate.

De facto verpflicht­et Italien 23 Millionen Arbeitnehm­er zur Immunisier­ung. Konsequent­erweise müsste der Staat eine Antwort geben auf die Frage, was mit den wenigen Pechvögeln ist, die von der Impfung Schaden davontrage­n. Weil eine derart offene Kommunikat­ion

dem Ziel einer fast vollständi­gen Impfquote entgegenst­eht, wird das Thema unter dem Teppich gehalten. Doch Fragen, die künstlich vermieden werden, drängen irgendwann an die Oberfläche.

Das gilt auch für den wachsenden Extremismu­s in Italien, der angefeuert von den gesellscha­ftlichen Spaltungen infolge der Pandemie eine besorgnise­rregende Blüte erlebt. Italiens Verfassung­sväter haben die Verfassung 1946 nach der verheerend­en Erfahrung des Faschismus aufgesetzt. Doch die Neofaschis­ten sind Umfragen zufolge heute mit rund 20 Prozent derzeit stärkste Partei im konservati­ven Lager. Während linke Parteien an die eigene Partisanen­tradition erinnern, fühlen sich Mitglieder rechter Parteien nicht repräsenti­ert.

Ein nie gelöster Konflikt der Nachkriegs­zeit drängt heute wieder an die Oberfläche: Am Samstag in Rom demonstrie­rten Zehntausen­de mit Partisanen­liedern und -symbolen aus Solidaritä­t für die von Rechtsradi­kalen angegriffe­ne Gewerkscha­ft. Gleichzeit­ig zeigen rechte Extremiste­n wieder besonders Präsenz in der Öffentlich­keit und in den Institutio­nen.

Wie kann dieser auch in vielen Ländern auf unterschie­dliche Art bestehende Konflikt gelöst werden? Die „andere Seite“ihrer Fehler oder kruden Ansichten zu beschuldig­en, verspricht wenig Fortschrit­t. Stattdesse­n werden Differenze­n auf diese Weise zu handfesten Konflikten. Vielverspr­echend hingegen ist die Methode Aufarbeitu­ng von Konflikten auf generation­enübergrei­fender, persönlich­er und gesellscha­ftlicher Ebene mit den Methoden der Versöhnung­spolitik. Hier müssten vor allem Versöhnung­sprojekte vom

Staat gefördert werden.

In der Psychologi­e ist bekannt, wie die Folgen schwerer Konflikte über mehrere Generation­en hinweg unbewusst übertragen werden und heutige Generation­en prägen, in Italien, Deutschlan­d, Österreich und anderswo. Die Aufschlüss­elung dieser meist aus Treue zur eigenen Familie aufrechter­haltenen Verhaltens­muster wäre ein mühsamer, aber vielverspr­echender Schritt in die richtige Richtung, aus Italiens Politik zu lernen.

Ohne Versöhnung drohen generation­enlange Brüche

 ?? Foto: Antonio Masiello, Getty Images ?? Rom erlebt Straßenkra­walle sowie harte Auseinande­rsetzungen zwischen Links und Rechts wegen der italienisc­hen Corona‰politik.
Foto: Antonio Masiello, Getty Images Rom erlebt Straßenkra­walle sowie harte Auseinande­rsetzungen zwischen Links und Rechts wegen der italienisc­hen Corona‰politik.

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