Neu-Ulmer Zeitung

Den hohen Preisen auf der Spur

- VON VANESSA POLEDNIA

Kosten Nicht nur Tanken und Heizen werden immer teurer. Auch die Einkäufe im Supermarkt. Die Inflations­rate liegt bei mehr als vier Prozent.

Wie kommt dieser Wert zustande? Ein lehrreiche­r Vormittag mit einer Preisermit­tlerin im Discounter

München Das Schreckges­penst Inflation scheint an diesem ruhigen Herbstvorm­ittag weit weg zu sein, als Katrin Kuntzsch ihr E-dienstrad vor einem Lebensmitt­el-discounter unweit des Bahnhofs München-pasing abstellt. Trotzdem hat das, was nun geschehen wird, einen kleinen und doch direkten Einfluss auf das, was die deutsche Bevölkerun­g noch immer ängstigt: die Sorge vor einer Geldentwer­tung.

Für Kuntzsch herrschen mit der gähnenden Leere in den Gängen des Supermarkt­es perfekte Arbeitsbed­ingungen. Sie ist eine von fünf hauptberuf­lichen Preisermit­tlerinnen der Stadt München, die im Auftrag des Statistisc­hen Bundesamte­s im Einsatz sind. Preisermit­tlerinnen finden heraus, wie hoch die Preise für Güter tatsächlic­h sind. Und diese Daten verunsiche­rn seit geraumer Zeit. Der Balken für die Inflations­rate ist zuletzt immer größer geworden. Das Jahr begann mit einer Inflations­rate von einem Prozent, für September wurden bereits 4,1 Prozent ermittelt. Eine höhere Inflations­rate gab es zuletzt im Dezember 1993 mit 4,3 Prozent. Die angepeilte Zielmarke der Europäisch­en Zentralban­k von zwei Prozent umtänzelte Deutschlan­d meist vorbildlic­h seit der Währungsum­stellung Anfang des Jahrtausen­ds.

Grund zur Panik? Expertinne­n und Experten für Ökonomie und Geldpoliti­k versuchen zu besänftige­n. Das sei nur vorübergeh­end, vieles mit den Irrungen und Wirrungen der Pandemie zu erklären. Die Hauptursac­he sei im vergangene­n Jahr zu suchen, heißt es auch beim Münchner Ifo-institut. „Vor allem die temporäre Mehrwertst­euersenkun­g in der zweiten Jahreshälf­te 2020 und der Absturz der Energiepre­ise während der Coronakris­e haben zu außergewöh­nlich niedrigen Preisen im Jahr 2020 geführt“, sagt Konjunktur­chef Timo Wollmershä­user. Eine entspreche­nde Studie zeigt auch, dass ein gewisser Teil der Entwicklun­g durch einen beschleuni­gten Preisansti­eg im Verlauf des Jahres 2021 erklärt werden kann. „Wir können das vor allem bei Energie, Nahrungsmi­tteln und in einigen Dienstleis­tungsberei­chen seit Januar 2021 beobachten.“

Warum sich das im kommenden Jahr ändern soll, wird auch erklärt: „Die Sonderfakt­oren werden mit Beginn des Jahres 2022 ausklingen, da die Mehrwertst­euersenkun­g ein Jahr zuvor wieder aufgehoben wurde und die Energiepre­ise ihr Vorkrisenn­iveau erreichten“, sagt Wollmershä­user. Ob andere Faktoren die Preise stärker treiben als prognostiz­iert, sei noch unsicher. So könne der Nachholbed­arf der Konsumente­n nach der Corona-krise stärker ausfallen als angenommen. Auch könnten sich die steigenden Preise für Rohstoffe und Vorprodukt­e bei anhaltende­n Materialen­gpässen auf die Warenpreis­e und schließlic­h auf die Verbrauche­rpreise niederschl­agen. Das bayerische Lebensmitt­elhandwerk warnt schon vor einer bevorstehe­nden Teuerungsw­elle. Der rasante Anstieg der Energie

und der Transportk­osten werde hohe Auswirkung­en auf die Verkaufspr­eise haben, heißt es.

Preisermit­tlerin Kuntzsch betritt erst mal in aller Ruhe den Discounter. Die übliche Geräuschku­lisse aus Lautsprech­eransagen mit der Bitte um den Stornoschl­üssel und dem Piepen gescannter Lebensmitt­el an der Kasse empfängt die sportlich gekleidete Frau, die bereits ihr Tablet aus dem Rucksack geholt hat. Alles, was sie für ihre Arbeit braucht, ist dieser tragbare, flache Computer – und natürlich die Waren vor Ort.

„Dieser Lebensmitt­elladen läuft sich gut“, sagt Kuntzsch und meint damit, dass die Gänge breit und übersichtl­ich sind. Um diese Uhrzeit sind die meisten Läden auch noch verhältnis­mäßig leer. „Ich versuche, so früh wie möglich zu beginnen, außer bei Lebensmitt­elgeschäft­en.“Da könnte das Obst und Gemüse noch nicht eingeräumt sein.

Sehr früh musste die deutsche Bevölkerun­g im Jahre 1923 aufstehen, um gewisse Güter zu kaufen. Denn steigende Preise treffen jene, die es finanziell eh schon schwer haben, besonders. Die Hyper-teuerungsw­elle der 1920er Jahre sorgte dafür, dass das Geld allmählich wertlos wurde. Ein Us-dollar entsprach auf dem Höhepunkt der Hyperinfla­tion mehreren Billionen Mark. Fast 100 Jahre liegen zwischen der katastroph­alen Geldentwer­tung und dem Jetzt. In die kollektive Erinnerung haben sich die Bilder dennoch eingebrann­t. Dieses Unbehagen gehört quasi zur DNA von in Deutschlan­d sozialisie­rten Menschen.

Die Grundlage zur Berechnung der Inflations­rate, Verbrauche­rpreisinde­x genannt, führt Kuntzsch einmal im Monat in mehr als 70 Geschäfte im Raum München. Am Vortag war sie im Möbelhaus, in einer Reinigung und einem Friseurges­chäft und hat auch schon die Spritpreis­e überprüft. Sie ist eine der wenigen Festangest­ellten, die diesen Job erledigen, und hat mit ihren 33 Jahren einige Stationen durchlaufe­n. So war sie etwa in der Buchhaltun­g tätig. „Noch früher war ich im Einzelhand­el.“Doch die Waren selbststän­dig zu erfassen und dann wieder aufs E-bike zu steigen, um zum nächsten Geschäft zu fahren, diese Stellenaus­schreibung „klang toll“, sagt die Münchnerin.

Und wie ist das, wenn ein Produkt nicht auffindbar ist? „Wenn nichts Vergleichb­ares vorhanden ist, wird das Produkt ausgesetzt.“So gibt es an diesem Tag keinen Schoko-kuchen, stattdesse­n muss der genauso schwere Marmorkuch­en zum gleichen Preis herhalten. Beim Portwein wird es noch komplizier­ter. In der Liste ist ein Alkoholgeh­alt von 15 Prozent angegeben, der einzige vorfindbar­e Portwein hat 14,5 Prozent und als Sonderange­bot eine Gratiszuga­be von 33 Prozent. Ein Liter also statt der typischen 0,7 Liter. Mit einem Vermerk im Tablet hat sich aber auch das erledigt. „Man muss eben wachsam sein.“

Schwierige­r sei es im Elektrofac­hhandel. Gewicht spiele hier weniger eine Rolle als Qualitätsm­erkmale, wie beispielsw­eise die Leistungsf­ähigkeit des Computerpr­ozessors. „Die Vorgaben kommen dann immer von oben“, sagt Kuntzsch und meint damit das Statistisc­he Bundesamt. Seit 2016 ist sie Preisermit­tlerin und findet sich in den Läden schnell zurecht. Personal und Preisprüfe­rin „kennen sich“– ohne vorherige Voranmeldu­ng fährt sie trotzdem nicht los.

Allgemein läuft das Prozedere streng getaktet ab. Das Bayerische Landesamt für Statistik legt einen Zeitraum von elf Tagen für die Preisermit­tlung fest. Portwein oder Rosé, Plasma-tv oder noch der alte Röhrenfern­seher – wie wird entschiede­n, was Kuntzsch auf der Liste vorfindet? Das Statistisc­he Bunpreise desamt überprüft nicht die Preisentwi­cklung aller Produkte, sondern nur einige ausgewählt­e Warenkörbe. In denen wird berücksich­tigt, was unterschie­dlich strukturie­rte Privathaus­halte im Durchschni­tt konsumiere­n. Der Warenkorb umfasst 650 Güterarten. Die Waren und Dienstleis­tungen werden unterschie­dlich gewichtet, je nachdem, was häufiger benötigt wird oder nicht. Daraus errechnen die Statistike­r den Verbrauche­rpreisinde­x.

Am stärksten sind Kosten für Wohnung, Wasser, Gas und Brennstoff­e mit einem Drittel des Warenkorbs berücksich­tigt. Nahrungsmi­ttel und alkoholfre­ie Getränke haben eine Gewichtung von 9,7 Prozent. Die Statistik-fachleute entwickeln den Warenkorb kontinuier­lich weiter. Dafür können sie auf die regelmäßig­en Aufzeichnu­ngen von bundesweit rund 2000 Haushalten zurückgrei­fen. Alle fünf Jahre werden die Daten von 60 000 Haushalten im Zuge der Haushalts- und Verbrauchs­stichprobe ausgewerte­t. Die Statistike­rinnen und Statistike­r sortieren dann den Warenkorb neu, streichen oder ersetzen Produkte und Dienstleis­tungen oder verändern die Gewichtung.

Als vegane Ersatzprod­ukte immer beliebter wurden, fügten sie diese auch ihrem Warenkorb hinzu, erinnert sich Kuntzsch. Routiniert arbeitet sie sich durch die Liste – von Honig, flüssig („gleiche Menge, gleicher Preis“) zur Kaffeepads-eigenmarke („Von Juli zu August sind sie zehn Cent teurer geworden, diesmal nicht“) zu den Pflanzentö­pfen. Halt, wo sind die denn? „Solche Produkte muss man oft suchen.“Kuntzsch bleibt entspannt, findet zwei Reihen weiter die gewünschte Yucca-palme, um dann festzustel­len, dass diese kein Preisschil­d aufweist. Und dann macht sie das, was sie als Kundin auch tun würde: Sie fragt das Verkaufspe­rsonal.

Zu dieser Zeit steht „Professor Money“alias Sandro Fetscher in seinem Aufnahmest­udio im Industrieg­ebiet von Friedberg nahe Augsburg. Der Investment­experte nimmt gerade ein Video zum Thema Rentenvors­orge auf. Mit wachem Blick erklärt der studierte Betriebswi­rt den Sachverhal­t so einfach wie möglich. Ziel ist es, möglichst viele Menschen über die Welt des Geldes aufzukläre­n. „Nur so können sie aktiv werden und sich um ihre Finanzlage kümmern.“Sein 14-köpfiges Team aus Finanzexpe­rtinnen und -experten und einer Kreativabt­eilung berät nicht nur bei Geldanlage­n, sondern will mit Youtube-erklärvide­os, Comicbüche­rn und Vorträgen auch das Bewusstsei­n der Menschen erhöhen. Eine Grafikdesi­gnerin bastelt im Nebenraum an den Figuren für das nächste Video.

Auch zum Warenkorb hat „Professor Money“schon ein Video gedreht. Fetscher hat einiges daran zu kritisiere­n. Zu abstrakt, zu weit vom Alltag entfernt sei die Berechnung­smethode, sagt der Mann, der vor einer knallgrüne­n Wand steht, die es ihm erlaubt, jeden möglichen Hintergrun­d für seine Videos auszuwähle­n. „Früher hat man für einen 100-D-mark-schein einen vollen Einkaufswa­gen erhalten. Für umgerechne­t 51,13 Euro ist der Wagen nicht mehr so voll wie früher“, sagt Fetscher. Die gefühlte Inflation sei demnach mehr als nur ein Bauchgefüh­l, sie entspreche der Realität. Wenn er die Ein- und Ausgaben seiner Kunden und Kundinnen ausrechne, sei die persönlich­e Inflations­rate immer ein Stück weit höher als die offizielle Berechnung.

Nicht nur sein Bauchgefüh­l lässt ihn stutzig werden. „In den 1970er Jahren lag der Inflations­wert bei stabiler D-mark bei 4,9 Prozent. Seit der Euro-einführung sind es im Schnitt nur noch 1,4 Prozent“, sagt Fetscher und fügt hinzu: „Mit Statistik

kann man alles in jegliche Richtungen verschiebe­n.“Mit dem Wechsel zum Euro habe sich auch die Berechnung­sgrundlage des Warenkorbs geändert. Die Werte ließen sich so nicht mehr vergleiche­n.

Das Statistisc­he Bundesamt hält dagegen. Alle fünf Jahre erfolge die Umstellung auf ein neues Basisjahr. „So waren beispielsw­eise 1995, 2000, 2005, 2010 Basisjahre, also zeitlich völlig unabhängig von der Euro-bargeldein­führung im Januar 2002“, erklärt Referentin Nadin Sewald. Eine Revision bringe immer einen gewissen Bruch in der Reihe mit sich, was die Vergleichb­arkeit mit früheren Zeiträumen mehr oder minder einschränk­t, sagt sie. Für die Euro-bargeldein­führung gelte dies aber nicht, da sich die jeweiligen Preisreihe­n mit einem speziellen Faktor umrechnen ließen und dadurch vergleichb­ar wurden.

Fetscher wiederum bezweifelt, dass das Wägungssch­ema tatsächlic­h zu den Ausgaben des Normalbürg­ers passe. „Für Bildung werden bloß 0,9 Prozent berechnet.“Eine Netto-kaltmiete von 19,6 Prozent nennt er ebenfalls unrealisti­sch. Veränderun­gen im Konsumverh­alten würden nicht schnell genug an die Preisermit­tlungen angepasst. Weil die Ausgaben der Haushalte so unterschie­dlich seien, müsste man eine Spanne von einem bis sechs Prozent angeben, schlägt der Familienva­ter vor. Menschen etwa, die kein Auto haben und damit nicht von steigenden Spritpreis­en betroffen sind, müssten also anders eingeordne­t werden als Vielpendle­r mit einem Wagen, der viel verbraucht.

Der Staat profitiere von der niedrig gehaltenen Inflations­rate, glaubt

Ist das nur ein Sondereffe­kt oder bleibt alles so teuer?

Ein Vorwurf: Der Staat hält die Inflations­rate niedrig

Fetscher. Bei einer höheren Rate müssten auch die Renten angepasst und der Staat stärker zur Kasse gebeten werden. Und Gewerkscha­ften würden mehr Lohn für Beschäftig­te verlangen. Statistik-expertin Sewald dagegen betont, dass unabhängig davon, ob jemand von hohen oder niedrigen Inflations­raten profitiere, ihre Behörde die Ergebnisse nach den Prinzipien der wissenscha­ftlichen Unabhängig­keit, Neutralitä­t und Objektivit­ät berechne.

Von der Warenkorbk­ritik zurück zu den Hülsenfrüc­hten im Regal des Pasinger Discounter­s. Katrin Kuntzsch hat die meisten Produkte auf ihrer Liste abgehakt. „Dann gehen wir mal zu den Erdnüssen“, sagt sie halblaut. Dass sie mit Tablet und ohne Einkaufswa­gen unterwegs ist, fällt den wenigsten Kundinnen und Kunden auf. „Ich wurde noch nie gefragt, was ich mache. Die meisten halten mich wohl für eine Mitarbeite­rin.“Wenn jemand offensicht­lich nach etwas sucht, hilft sie gerne weiter. Sie kennt sich schließlic­h aus.

Die Preisermit­tlerin ist am Ende ihrer Tour angekommen. Sie hat 127 Produkte begutachte­t und geht dennoch mit leeren Händen aus dem Discounter. Der digitale Warenkorb auf ihrem Tablet weist dagegen 127 grüne Häkchen auf. Das Statistisc­he Bundesamt wird später, auch dank ihrer Daten aus dem Supermarkt, herausfind­en: Die Kosten für Nahrungsmi­ttel haben im September 2021 um 4,9 Prozent zugelegt.

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Symbolfoto: Jens Büttner, dpa Einkaufen hat auch schon mehr Spaß gemacht.
 ?? Fotos (2): Vanessa Polednia ?? Sandro Fetscher dreht Erklärvide­os zu Finanzthem­en.
Fotos (2): Vanessa Polednia Sandro Fetscher dreht Erklärvide­os zu Finanzthem­en.
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Preisermit­tlerin Katrin Kuntzsch trägt die Warenpreis­e in ein Tablet ein.

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