Hinter der Fassade der heilen Welt
Sekte Die vermisste Shalomah ist wohl bei ihren leiblichen Eltern. Doch das ist nur scheinbar eine gute Nachricht. Denn die „Zwölf Stämme“pflegen höchst fragwürdige Erziehungsmethoden – inklusive Prügel, Gehirnwäsche und Rassismus
Eppisburg/nördlingen Bilder und Videos der „Zwölf Stämme“im Internet zeigen eine heile Welt. Die Mitglieder beim Tanzen, beim Spielen, bei der Feldarbeit. Immer ein Lächeln auf den Lippen. Und fast immer sind fröhliche Kinder zu sehen. Die Botschaft ist klar: Wir sind eine große Familie und lieben uns alle. Doch nicht erst seit dem Verschwinden der kleinen Shalomah ist klar, dass die Sekte nach Regeln lebt, die vielleicht mit ihrem Glauben, aber nicht immer mit der deutschen Rechtsordnung vereinbar sind.
Nun hat die umstrittene Glaubensgemeinschaft wieder Ärger mit den deutschen Behörden, obwohl sie im Jahr 2017 nach Tschechien gezogen ist. Die Hinweise verdichten sich, dass die elfjährige Shalomah Hennigfeld aus Eppisburg (Landkreis Dillingen) von ihren leiblichen Eltern quasi entführt worden ist. So sieht das inzwischen auch die Polizei. Die beiden Mails, die bei der Pflegefamilie des Mädchens eingegangen sind, werden von den Ermittlern als authentisch eingestuft. Die Nachrichten sind zum einen von Shalomahs Vater und zum anderen von den „Zwölf Stämmen“unterzeichnet. Beide besagen, dass das Kind bei den leiblichen Eltern sei und dass es ihm gut gehe.
Die Polizei fahndet trotzdem mit Hochdruck weiter nach der Elfjährigen. Denn wie immer man es dreht und wendet, ist in diesem Fall eine Straftat begangen worden. Den Eltern wurde vor acht Jahren durch eine Entscheidung des Familiengerichts das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen. Sie dürfen das Kind nach deutschem Recht nicht einfach zurückholen. Zumal derzeit noch unklar ist, ob Shalomah freiwillig mitgegangen ist oder gezwungen wurde. Das Mädchen war am Samstagnachmittag vom Joggen nicht zu ihren Pflegeeltern zurückgekehrt. Für die „Entziehung Minderjähriger“drohen den leiblichen Eltern bis zu fünf Jahre Gefängnis.
Nun gibt es eine überraschende Wende, die das Verschwinden der Elfjährigen in einem neuen Licht erscheinen lässt. Nach Recherchen unserer Redaktion ist im Jahr 2016 auch Shalomahs Bruder verschwunden. Er lebte damals nach dem Entzug des Sorgerechts für seine Eltern in einem Heim. Nachdem ihn die zuständigen Behörden nicht finden konnten, tauchte der Zwölfjährige auf einmal bei seinen Eltern auf. Die genauen Umstände seines Verschwindens wurden nie geklärt. Der Junge beteuerte seinerzeit, freiwillig mitgegangen zu sein. Da er auch bei seinen leiblichen Eltern leben wollte, durfte er dort bleiben. Die Parallelen zum Fall seiner Schwester sind offensichtlich. Die Polizei versucht auch deshalb nun intensiv, die näheren Umstände des Verschwindens zu klären. Unklar ist immer noch, wo das Mädchen sich genau befindet.
Daher läuft die öffentliche Fahndung nach dem Mädchen auch weiter. Am Montag hatte die tschechische Polizei mitgeteilt, dass sie bei einer Überprüfung in Skalna, wo Teile der deutschen „Zwölf Stämme“mittlerweile leben, das Mädchen nicht gefunden haben. Haben sich die Eltern mit Shalomah abgesetzt? Die Sekte hat Gemeinschaften rund um den Globus, vorwiegend in Nord- und Südamerika. Die Fahnder haben das auf dem Schirm. „Wir ermitteln in alle Richtungen“, sagt Polizeisprecher Robert Piehler.
Sollte Shalomah gefunden werden, dann wird es im nächsten Schritt um die Frage gehen, was mit dem Kind geschieht. 2013 wurde den Eltern das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen.
Es war kein Einzelfall. Durch drastische Berichte von Aussteigern – auch gegenüber unserer Redaktion – wurde bekannt, mit welchen Methoden die Mitglieder der „Zwölf Stämme“ihre Kinder tatsächlich erziehen.
„Die ,Zwölf Stämme‘ brechen den Willen der Kinder. Dazu gehört mehrfach täglich die Züchtigung mit einer Weidenrute. Sie wollen den totalen Gehorsam. Jede Individualität wird ausgetrieben. Es ist wie eine Gehirnwäsche im Namen der Bibel. Es wird gelehrt, dass Schwarze den Weißen zu dienen haben.“Das sagte im Jahr 2012 unserer Redaktion ein Mann, der zwei Jahrzehnte zum Führungszirkel der Sekte gehört hatte und dann ausstieg. Später sagte er, er schäme sich dafür, was er seinen Kindern angetan habe. Ein anderer Aussteiger sagte seinerzeit, „die Sekte will Kinder dumm halten“.
Diese Aussagen und Undercoverfilmaufnahmen eines Fernsehreporters führten zu einer Razzia am 5. September 2013 auf Gut Klosterzimmern im Landkreis Donau-ries, wo die Sekte damals lebte. Mehr als 100 Polizistinnen und Polizisten waren im Einsatz. 40 Kinder wurden von den Behörden abgeholt und bei Pflegefamilien und in Heimen untergebracht. Neben den Verfahren am Familiengericht mussten sich mehrere Sektenmitglieder auch strafrechtlich verantworten. Darunter war die Mutter von Shalomah. Der Nördlinger Richter Gerhard Schamann hat mehrere Mitglieder verurteilt, weil sie Kinder mit der Rute gezüchtigt hatten – darunter sei auch die leibliche Mutter des Mädchens gewesen, sagt Schamann. Die gelernte Erzieherin habe 2006 eine damals Zwölfjährige zwei Mal mit einer Rute geschlagen. Das Mädchen sei lernverzögert gewesen und habe gar nicht begreifen können, was die Erzieherin von ihr wollte, erinnert sich der Richter. Shalomahs Mutter musste 180 Tagessätze wegen gefährlicher Körperverletzung zahlen. Andere Mütter erhielten Bewährungs- oder sogar Freiheitsstrafen.
Ein Insider, der anonym bleiben will, bezeichnet Shalomahs Vater als „Hardcore“-anhänger, der in der Gemeinschaft „etwas werden wolle“. Im Internet findet sich ein Video aus dem Jahr 2014, in dem sich Shalomahs Vater für das Schlagen von Kindern rechtfertigt: „Es tut kurz weh, das ist richtig, aber das ist nach einer Minute vorbei. Und das Kind, das weiß, ich bin dafür geradegestanden und da ist Frieden und da ist die Sache aus der Welt.“Der Kenner der Sekte berichtet allerdings, die Kinder seien im Keller regelrecht „durchgedroschen“worden.
Wie viele Kinder der Sekte „Zwölf Stämme“noch in der Region bei Pflegeeltern oder in Heimen leben, ist nicht so leicht herauszufinden. Die Sprecherin des Landratsamtes Donau-ries, Gabriele Hoidn, teilte auf Anfrage unserer Redaktion mit, der Landkreis Donau-ries sei aktuell noch für drei Kinder zuständig, die in Pflegefamilien im Landkreis untergebracht seien. Im Landkreis Dillingen leben nach Auskunft des dortigen Landratsamts keine weiteren Kinder der Sekte.