Neu-Ulmer Zeitung

Hinter der Fassade der heilen Welt

- VON MARTINA BACHMANN, BENJAMIN REIF UND HOLGER SABINSKY‰WOLF

Sekte Die vermisste Shalomah ist wohl bei ihren leiblichen Eltern. Doch das ist nur scheinbar eine gute Nachricht. Denn die „Zwölf Stämme“pflegen höchst fragwürdig­e Erziehungs­methoden – inklusive Prügel, Gehirnwäsc­he und Rassismus

Eppisburg/nördlingen Bilder und Videos der „Zwölf Stämme“im Internet zeigen eine heile Welt. Die Mitglieder beim Tanzen, beim Spielen, bei der Feldarbeit. Immer ein Lächeln auf den Lippen. Und fast immer sind fröhliche Kinder zu sehen. Die Botschaft ist klar: Wir sind eine große Familie und lieben uns alle. Doch nicht erst seit dem Verschwind­en der kleinen Shalomah ist klar, dass die Sekte nach Regeln lebt, die vielleicht mit ihrem Glauben, aber nicht immer mit der deutschen Rechtsordn­ung vereinbar sind.

Nun hat die umstritten­e Glaubensge­meinschaft wieder Ärger mit den deutschen Behörden, obwohl sie im Jahr 2017 nach Tschechien gezogen ist. Die Hinweise verdichten sich, dass die elfjährige Shalomah Hennigfeld aus Eppisburg (Landkreis Dillingen) von ihren leiblichen Eltern quasi entführt worden ist. So sieht das inzwischen auch die Polizei. Die beiden Mails, die bei der Pflegefami­lie des Mädchens eingegange­n sind, werden von den Ermittlern als authentisc­h eingestuft. Die Nachrichte­n sind zum einen von Shalomahs Vater und zum anderen von den „Zwölf Stämmen“unterzeich­net. Beide besagen, dass das Kind bei den leiblichen Eltern sei und dass es ihm gut gehe.

Die Polizei fahndet trotzdem mit Hochdruck weiter nach der Elfjährige­n. Denn wie immer man es dreht und wendet, ist in diesem Fall eine Straftat begangen worden. Den Eltern wurde vor acht Jahren durch eine Entscheidu­ng des Familienge­richts das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen. Sie dürfen das Kind nach deutschem Recht nicht einfach zurückhole­n. Zumal derzeit noch unklar ist, ob Shalomah freiwillig mitgegange­n ist oder gezwungen wurde. Das Mädchen war am Samstagnac­hmittag vom Joggen nicht zu ihren Pflegeelte­rn zurückgeke­hrt. Für die „Entziehung Minderjähr­iger“drohen den leiblichen Eltern bis zu fünf Jahre Gefängnis.

Nun gibt es eine überrasche­nde Wende, die das Verschwind­en der Elfjährige­n in einem neuen Licht erscheinen lässt. Nach Recherchen unserer Redaktion ist im Jahr 2016 auch Shalomahs Bruder verschwund­en. Er lebte damals nach dem Entzug des Sorgerecht­s für seine Eltern in einem Heim. Nachdem ihn die zuständige­n Behörden nicht finden konnten, tauchte der Zwölfjähri­ge auf einmal bei seinen Eltern auf. Die genauen Umstände seines Verschwind­ens wurden nie geklärt. Der Junge beteuerte seinerzeit, freiwillig mitgegange­n zu sein. Da er auch bei seinen leiblichen Eltern leben wollte, durfte er dort bleiben. Die Parallelen zum Fall seiner Schwester sind offensicht­lich. Die Polizei versucht auch deshalb nun intensiv, die näheren Umstände des Verschwind­ens zu klären. Unklar ist immer noch, wo das Mädchen sich genau befindet.

Daher läuft die öffentlich­e Fahndung nach dem Mädchen auch weiter. Am Montag hatte die tschechisc­he Polizei mitgeteilt, dass sie bei einer Überprüfun­g in Skalna, wo Teile der deutschen „Zwölf Stämme“mittlerwei­le leben, das Mädchen nicht gefunden haben. Haben sich die Eltern mit Shalomah abgesetzt? Die Sekte hat Gemeinscha­ften rund um den Globus, vorwiegend in Nord- und Südamerika. Die Fahnder haben das auf dem Schirm. „Wir ermitteln in alle Richtungen“, sagt Polizeispr­echer Robert Piehler.

Sollte Shalomah gefunden werden, dann wird es im nächsten Schritt um die Frage gehen, was mit dem Kind geschieht. 2013 wurde den Eltern das Sorgerecht für ihre Kinder entzogen.

Es war kein Einzelfall. Durch drastische Berichte von Aussteiger­n – auch gegenüber unserer Redaktion – wurde bekannt, mit welchen Methoden die Mitglieder der „Zwölf Stämme“ihre Kinder tatsächlic­h erziehen.

„Die ,Zwölf Stämme‘ brechen den Willen der Kinder. Dazu gehört mehrfach täglich die Züchtigung mit einer Weidenrute. Sie wollen den totalen Gehorsam. Jede Individual­ität wird ausgetrieb­en. Es ist wie eine Gehirnwäsc­he im Namen der Bibel. Es wird gelehrt, dass Schwarze den Weißen zu dienen haben.“Das sagte im Jahr 2012 unserer Redaktion ein Mann, der zwei Jahrzehnte zum Führungszi­rkel der Sekte gehört hatte und dann ausstieg. Später sagte er, er schäme sich dafür, was er seinen Kindern angetan habe. Ein anderer Aussteiger sagte seinerzeit, „die Sekte will Kinder dumm halten“.

Diese Aussagen und Undercover­filmaufnah­men eines Fernsehrep­orters führten zu einer Razzia am 5. September 2013 auf Gut Klosterzim­mern im Landkreis Donau-ries, wo die Sekte damals lebte. Mehr als 100 Polizistin­nen und Polizisten waren im Einsatz. 40 Kinder wurden von den Behörden abgeholt und bei Pflegefami­lien und in Heimen untergebra­cht. Neben den Verfahren am Familienge­richt mussten sich mehrere Sektenmitg­lieder auch strafrecht­lich verantwort­en. Darunter war die Mutter von Shalomah. Der Nördlinger Richter Gerhard Schamann hat mehrere Mitglieder verurteilt, weil sie Kinder mit der Rute gezüchtigt hatten – darunter sei auch die leibliche Mutter des Mädchens gewesen, sagt Schamann. Die gelernte Erzieherin habe 2006 eine damals Zwölfjähri­ge zwei Mal mit einer Rute geschlagen. Das Mädchen sei lernverzög­ert gewesen und habe gar nicht begreifen können, was die Erzieherin von ihr wollte, erinnert sich der Richter. Shalomahs Mutter musste 180 Tagessätze wegen gefährlich­er Körperverl­etzung zahlen. Andere Mütter erhielten Bewährungs- oder sogar Freiheitss­trafen.

Ein Insider, der anonym bleiben will, bezeichnet Shalomahs Vater als „Hardcore“-anhänger, der in der Gemeinscha­ft „etwas werden wolle“. Im Internet findet sich ein Video aus dem Jahr 2014, in dem sich Shalomahs Vater für das Schlagen von Kindern rechtferti­gt: „Es tut kurz weh, das ist richtig, aber das ist nach einer Minute vorbei. Und das Kind, das weiß, ich bin dafür geradegest­anden und da ist Frieden und da ist die Sache aus der Welt.“Der Kenner der Sekte berichtet allerdings, die Kinder seien im Keller regelrecht „durchgedro­schen“worden.

Wie viele Kinder der Sekte „Zwölf Stämme“noch in der Region bei Pflegeelte­rn oder in Heimen leben, ist nicht so leicht herauszufi­nden. Die Sprecherin des Landratsam­tes Donau-ries, Gabriele Hoidn, teilte auf Anfrage unserer Redaktion mit, der Landkreis Donau-ries sei aktuell noch für drei Kinder zuständig, die in Pflegefami­lien im Landkreis untergebra­cht seien. Im Landkreis Dillingen leben nach Auskunft des dortigen Landratsam­ts keine weiteren Kinder der Sekte.

 ?? Archivfoto: Marcus Merk ?? Rund 17 Jahre lebten die „Zwölf Stämme“auf Gut Klosterzim­mern im Landkreis Donau‰ries. Hinter der idyllische­n Fassade spiel‰ ten sich schon damals finstere Szenen ab.
Archivfoto: Marcus Merk Rund 17 Jahre lebten die „Zwölf Stämme“auf Gut Klosterzim­mern im Landkreis Donau‰ries. Hinter der idyllische­n Fassade spiel‰ ten sich schon damals finstere Szenen ab.
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Shalomah, 11

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