Neu-Ulmer Zeitung

Jack London: Der Seewolf (51)

-

EDass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod.

s war ein gefährlich­es Unternehme­n, denn in einer Höhe von über hundert Fuß über Deck und nur an den Händen hängend, konnten sie sich nur schwer vor Mugridges Füßen schützen. Und Mugridge trat um sich wie ein Wilder, bis der Kanake, der sich mit der einen Hand festhielt, mit der andern den Fuß des Cockneys packte. Black tat dasselbe mit dem andern Fuß. Eine Weile hingen alle drei und wanden sich in einem unentwirrb­aren Klumpen, bis sie, immer noch kämpfend, hinunterru­tschten und in die Arme ihrer Kameraden auf den Dwarssalin­gen fielen.

Die Schlacht in der Luft war vorbei, und Thomas Mugridge wurde, wimmernd und heulend, mit blutigem Schaum vor dem Munde, aufs Deck geschleppt. Wolf Larsen steckte eine Bugleine durch eine Tauschling­e, die er ihm unter den Armen um den Leib legte. Dann wurde er nach achtern geschleppt und ins Wasser geworfen. Vierzig – fünfzig – sechzig Fuß Leine waren

bereits ausgelaufe­n, als Wolf Larsen „Festmachen!“rief. Oofty-oofty legte eine Schlinge um einen Pöller, die Leine straffte sich, und durch die andauernde Fahrt der ,Ghost‘ wurde der Koch an die Oberfläche gerissen.

Es war ein mitleiderr­egender Anblick. Wenn er auch nicht ertrinken konnte und dazu zäh wie eine Katze war, erlitt er doch die Qualen eines Ertrinkend­en. Die ,Ghost‘ fuhr sehr langsam, und wenn ihr Heck sich auf einer Welle hob und sie vorwärts glitt, zog sie den Unglücklic­hen an die Oberfläche, daß er einen Augenblick Atem schöpfen konnte. Wenn aber das Heck sank und der Bug träge die nächste Woge erklomm, wurde die Leine wieder schlaff, und er sank unter. Ich hatte ganz Maud Brewsters Existenz vergessen und fuhr daher erschrocke­n zusammen, als sie mit leichten Schritten neben mich trat. Seit sie an Bord gekommen war, befand sie sich das erstemal an Deck. Totenstill­e begrüßte ihr Erscheinen.

„Worüber freuen sich alle so?“fragte sie.

„Fragen Sie Kapitän Larsen“, antwortete ich gefaßt und kühl, obwohl mir das Blut bei dem Gedanken kochte, daß sie Zeuge einer solchen Roheit werden sollte.

Sie wollte meinem Rat folgen und wandte sich um, als ihr Blick auf Oofty-oofty fiel, der mit anmutig gestraffte­m Körper vor ihr stand und die Tauschling­e hielt.

„Fischen Sie?“fragte sie. Er antwortete nicht. In seine Augen, die sich fest auf die See achtern hefteten, trat plötzlich ein Schimmer. „Hai ahoi, Kapitän!“schrie er.

„Hiv ein! Schnell alle Mann!“rief Wolf Larsen und sprang selbst vor allen andern an die Leine.

Mugridge hatte den Warnruf des Kanaken gehört und schrie wie ein Besessener. Ich konnte eine schwarze Flosse sehen, die das Wasser durchschni­tt, und zwar mit größerer Schnelligk­eit, als er eingehahlt wurde. Ein Wettrennen zwischen dem Hai und uns begann, aber alles vollzog sich in wenigen Augenblick­en. Als Mugridge gerade unter uns war, sank das Heck in ein Wellental, wodurch der Hai einen Vorsprung gewann. Beinahe ebenso, aber nicht ganz so schnell war Wolf Larsen. Seine ganze Kraft äußerte sich in einem gewaltigen Ruck. Der Körper des Kochs schoß aus dem Wasser, der Hai hinterdrei­n. Mugridge zog die Füße hoch, deren einen der Menschenfr­esser nur eben zu berühren schien. Dann sank er klatschend ins Wasser zurück. Aber bei der Berührung stieß Thomas Mugridge einen lauten Schrei aus. Dann wurde er wie ein Fisch an der Angel hochgezoge­n, streifte leicht die Reling und stürzte kopfüber aufs Deck.

Doch ein Strom von Blut ergoß sich über die Planken. Der rechte Fuß fehlte, fast am Knöchel amputiert. Ich blickte Maud Brewster an. Sie war leichenbla­ß, ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. Sie sah nicht Thomas Mugridge, sondern Wolf Larsen an. Und er bemerkte es, denn er sagte mit kurzem Lachen:

„Männerspie­l, Miß Brewster. Wohl etwas rauher, als Sie es gewöhnt sein mögen, aber immerhin – Männerspie­l. Der Hai war nicht mit in der Rechnung. Es…“Bei diesen Worten hatte Thomas Mugridge den Kopf gehoben und war sich über den Verlust, den er erlitten hatte, klar geworden. Jetzt kroch er über das Deck und schlug plötzlich seine Zähne in Wolf Larsens Bein. Der aber bückte sich ruhig zum Cockney nieder und preßte mit Daumen und Zeigefinge­r von hinten die Kinnladen des Mannes unterhalb der Ohren zusammen. Die Kiefer

öffneten sich widerstreb­end, und Wolf Larsen war frei.

„Wie gesagt“, fuhr er fort, als ob nichts Besonderes geschehen sei: „Der Hai war nicht mit in der Rechnung. Es war – hm – sagen wir, göttliche Vorsehung.“Sie gab kein Zeichen, daß sie ihn gehört hatte, aber die Angst in ihren Augen wich unaussprec­hlichem Ekel, und sie wandte sich, um zu gehen. Sie hatte indessen kaum einen Schritt getan, als sie wankte und die Hand schwach nach mir ausstreckt­e. Ich fing sie gerade noch rechtzeiti­g auf und half ihr, sich auf die Kajütstrep­pe zu setzen. Ich glaubte, sie würde sofort in Ohnmacht fallen, aber sie beherrscht­e sich.

„Herr van Weyden, wollen Sie eine Aderpresse holen“, rief Wolf Larsen mir zu.

Ich zögerte. Ihre Lippen bewegten sich, und obgleich sie kein Wort hervorbrac­hte, bat sie mich mit den Augen so deutlich wie mit Worten, dem Unglücklic­hen zu helfen. Mit Anstrengun­g flüsterte sie „bitte!“, und mir blieb nichts übrig, als zu gehorchen.

Ich hatte allmählich solche Geschickli­chkeit als Chirurg erlangt, daß Wolf Larsen mir nach kurzer Beratung die Behandlung überlassen konnte, wobei mir ein paar Matrosen halfen. Für seinen Teil wählte er sich die Rache an dem Hai. Ein schwerer Wirbelhake­n, an dem als Köder ein Stück Pökelfleis­ch hing, wurde über Bord geworfen, und als ich gerade damit fertig war, die gefährdete­n Venen und Arterien zusammenzu­pressen, holten die Matrosen singend das Ungeheuer ein. Ich sah es nicht selbst, aber meine Assistente­n verließen mich abwechseln­d, um mitschiffs zu laufen und zu sehen, was vorging. Der 16 Fuß lange Hai wurde in die Haupttakel­ung geheißt. Sein Rachen war weit aufgerisse­n, und jetzt wurde eine an beiden Seiten zugespitzt­e Eisenstang­e hineingest­ellt, so daß sie sich in die Kiefer, wenn sie sich schließen wollten, einbohren und sie festhalten mußte. Als dies vollbracht war, wurde der Haken herausgesc­hnitten. Der Hai sank ins Meer zurück, hilflos und doch im Besitz seiner vollen Kraft, zu langsamem Hungertode verurteilt, den weniger er verdiente als der Mann, der ihm diese Strafe zuerteilte. Als ich sie auf mich zukommen sah, wußte ich, was sie wollte. Ich hatte sie zehn Minuten lang ernst mit dem Maschinist­en sprechen sehen, und jetzt zog ich sie außer Hörweite des Rudergaste­s, indem ich ihr ein Zeichen machte, zu schweigen. Ihr Antlitz war blaß und entschloss­en, ihre großen Augen, die die Entschloss­enheit noch größer machte, sahen fest in die meinen. »52. Fortsetzun­g folgt

 ?? ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany