Neu-Ulmer Zeitung

Die Reichelt‰story

- VON DANIEL WIRSCHING

Journalism­us Die Vorgänge rund um den bisherigen „Bild“-chefredakt­eur haben viele Fragen

aufgeworfe­n. Klar ist: Es geht um sein fragwürdig­es Verhältnis zu jungen Kolleginne­n

Berlin Die Stimmen aus der Bildredakt­ion zur angekündig­ten Trennung vom bisherigen Chefredakt­eur Julian Reichelt wirkten irritieren­d. Da twitterte der stellvertr­etende Bild-chef Paul Ronzheimer am Montagaben­d: Reichelt werde „immer einer der besten Journalist­en bleiben! (...) Danke, mein Freund!“Dahinter postete er ein großes, rotes Herz. Filipp Piatov, verantwort­lich für „Meinung“bei Bild, schrieb „Danke, Julian Reichelt“und verlinkte auf ein Video von Bild Live, in dem Ronzheimer mit fast tränenerst­ickter Stimme sagt: „Heute ist ein besonderer, ein schwerer Abend.“Bild-moderatori­n Nena Schink schließt sich ihm mit den Worten an: „Es ist toll, für einen Mann zu arbeiten, der einem immer das Gefühl gibt: The sky is the limit. Und nicht: Die letzten Tage des Journalism­us liegen hinter uns.“

Das irritierte deshalb, weil die Axel Springer SE kurz vorher Reichelt „mit sofortiger Wirkung von seinen Aufgaben entbunden“hatte. Demnach habe er auch nach Abschluss eines internen „Compliance­verfahrens“im Frühjahr 2021 „Privates und Berufliche­s nicht klar getrennt und dem Vorstand darüber die Unwahrheit gesagt“. Es geht um Affären am Arbeitspla­tz, die Ausnutzung von Abhängigke­itsverhält­nissen und Machtmissb­rauch – um Sex und Lügen also; im Grunde Stoff, wie ihn Boulevardm­edien mögen: die Reichelt-story. „Wie empathiebe­freit müssen Springermä­nner (...) sein, wenn sie jetzt Reichelt danken, aber kein Wort zu den Frauen verlieren, die Reichelt ,benutzt‘ hat“, schrieb Viktor Funk von der Frankfurte­r Rundschau.

Neben Unterstütz­ung für Reichelt von Ex-mitarbeite­rinnen und -mitarbeite­rn und speziell aus rechtspopu­listischen und verschwöru­ngsideolog­ischen Kreisen – in denen er als Regierungs­kritiker und Kämpfer gegen die staatliche­n Corona-maßnahmen gilt – ergoss sich im Netz Häme über den bis Montag noch ebenso einflussre­ichen wie umstritten­en Journalist­en. Die Süddeutsch­e Zeitung kommentier­te: „In Summe wirkte das alles wie das Ende eines Schurkenfi­lms.“

Doch mit der Entbindung Reichelts von seinen Aufgaben ist die Angelegenh­eit nicht beendet. Denn sie wirft Fragen auf, die – auch – über die Medienbran­che hinausreic­hen. Brauchte es die New York Times, damit sich Deutschlan­d ein Bild vom Arbeitskli­ma bei einem meinungspr­ägenden Medium machen konnte? Oder: Wie ist die Rolle von Mathias Döpfner, CEO der Axel Springer SE, einzuschät­zen?

Der hielt lange an Reichelt fest. Kritisiert wird er nun vor allem dafür, dass er dem New York Timesberic­ht zufolge Reichelt Anfang März in einer Mail an Schriftste­ller Benjamin von Stuckrad-barre – mit Bezug auf einen Reichelt-kommentar zu den Corona-maßnahmen – wie folgt verteidigt habe: Man müsse bei der internen Untersuchu­ng „besonders genau vorgehen“, weil Reichelt „halt wirklich der letzte und einzige Journalist in Deutschlan­d“sei, „der noch mutig gegen den neuen Ddr-obrigkeits­staat“aufbegehre. „Fast alle anderen sind zu Propaganda-assistente­n geworden.“New York Times-medienkolu­mnist Ben Smith veröffentl­ichte diesen deutschen Wortlaut, nachdem er von Kollegen darum gebeten worden war. Ein Springer-sprecher hatte unserer Redaktion zuvor erklärt, dass das Zitierte „außerhalb des Kontexts überhaupt nicht sinnvoll zu würdigen“sei. „Selbstvers­tändlich hält Mathias Döpfner die Bundesrepu­blik Deutschlan­d nicht für vergleichb­ar mit der DDR.“

In der Angelegenh­eit geht es aber auch um das, was unter dem Stichwort „Metoo“seit Jahren öffentlich wird: Fälle von Machtmissb­rauch und sexueller Übergriffi­gkeit – weltweit und branchenüb­ergreifend. Sowie: um die (innere)

Pressefrei­heit. Neben der New York Times recherchie­rte das Team von „Ippen Investigat­iv“. Verleger Dirk Ippen (Münchner Merkur, Frankfurte­r Rundschau) stoppte jedoch eine Veröffentl­ichung. „Als Mediengrup­pe, die im direkten Wettbewerb mit Bild steht, müssen wir sehr genau darauf achten, dass nicht der Eindruck entsteht, wir wollten einem Wettbewerb­er wirtschaft­lich schaden“, sagte Johannes Lenz, PR & Brand Manager bei Ippen.

Noch am Montag, um 21.31 Uhr, erschien dann auf Spiegel.de ein Artikel mit „Teilen“der Recherchen des Teams von Ippen Investigat­iv um Daniel Drepper. Ein ungewöhnli­cher Vorgang. Drepper ließ am Dienstag Nachfragen nach möglichen – arbeitsrec­htlichen – Folgen unbeantwor­tet. Lenz sagte auf Anfrage, dass die Unternehme­nsleitung nicht über die Veröffentl­ichung im Spiegel informiert gewesen sei. Zugleich betonte er: „Es werden keine Konsequenz­en für das Team daraus folgen.“Es stehe „völlig außer Frage, dass wir weiter zusammenar­beiten wollen“. Auf die Frage, ob die Recherche zu Reichelt und Bild nun doch noch bei Ippen erscheinen werde, sagte er: „Derzeit prüfen wir, wann und wie wir eine Veröffentl­ichung publiziere­n.“

In dem Spiegel-artikel wird Reichelts Umgang mit jungen Kolleginne­n, der „mindestens fragwürdig“sei, detaillier­t geschilder­t. Die Axel Springer SE hatte am Montag betont: „Es gab im Rahmen des Compliance-verfahrens gegen Julian Reichelt nie den Vorwurf sexueller Belästigun­g oder sexueller Übergriffe.“Es habe aber den Vorwurf „einvernehm­licher Liebesbezi­ehungen zu Bild-mitarbeite­rinnen und Hinweise auf Machtmissb­rauch in diesem Zusammenha­ng“gegeben.

Wie es jetzt bei Bild unter dem neuen Vorsitzend­en der dreiköpfig­en Chefredakt­ion, Johannes Boie, weitergeht? „Der Austausch auf dem Chefredakt­eursposten hat bei Bild immer größere Auswirkung­en, weil die inhaltlich­e Ausrichtun­g sich bei Bild noch mal stärker als bei anderen Redaktione­n nach dem jeweiligen Chef richtet“, sagte Moritz Tschermak unserer Redaktion. Boie habe, so der Leiter des medienkrit­ischen Bildblog und Mitautor des Buches „Ohne Rücksicht auf Verluste. Wie Bild mit Angst und Hass die Gesellscha­ft spaltet“, bei der Welt am Sonntag auch Editorials geschriebe­n, „die kräftig zugelangt haben“. „Ob er beim Krawall und beim Populismus an Reichelt rankommt, bezweifle ich“, sagte er.

 ?? Archivfoto: Bernd von Jutrczenka, dpa ?? Julian Reichelt in seinem Büro.
Archivfoto: Bernd von Jutrczenka, dpa Julian Reichelt in seinem Büro.

Newspapers in German

Newspapers from Germany