Neu-Ulmer Zeitung

„Dieses Spiel darf nicht vergessen werden“

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Interview 50 Jahre nach dem Büchsenwur­f erinnert sich Rainer Bonhof an das legendäre 7:1 gegen Inter Mailand.

Der Gladbacher erzählt, warum es nicht zu einer Versöhnung mit Roberto Boninsegna gekommen ist

Herr Bonhof, Günter Netzer sagt, die Annullieru­ng des 7:1 gegen Inter Mailand fühle sich noch immer an wie Betrug. Wie haben Sie die Ereignisse in Erinnerung?

Rainer Bonhof: Die Sache hatte und hat ein Geschmäckl­e, wie der Schwabe sagt. Am meisten ärgert mich, dass dieses Spiel ausgelösch­t wurde, es dieses Spiel in den Uefaannale­n einfach nicht gibt.

Wie wurde der vermeintli­ch übermächti­ge Gegner entzaubert?

Bonhof: Durch unser Gegenpress­ing, wie heute gesagt würde, blieb Inter keine Luft zum Atmen. Selbst bei 4:1-Führung hieß es: weiter, weiter, weiter! Wir haben nicht nach hinten gedacht, nur nach vorn! Christian Kulik etwa, mit 18 ein Jahr jünger als ich, spielte Knoten in die Beine von Giacinto Facchetti, obwohl dieser Top-star von seinem Gegenspiel­er wohl noch nicht viel gehört hatte. Belohnt wurden wir leider nicht.

Denn es folgte die Ernüchteru­ng: Das Uefa-urteil als Verbeugung vor dem großen Namen Inter, wie Borussiapr­äsident Dr. Helmut Beyer sagte. Bonhof: Borussia war dagegen ein No Name. Dann jedoch bekam die neben Real Madrid weltweit größte Mannschaft von uns einen solchen Einlauf verpasst. Eine Blamage! Aber damals war der Einfluss des italienisc­hen Fußballs recht groß auf die Uefa. Dort sagte man sich bei der stottrigen Entscheidu­ngsfindung, die drei Wochen dauerte, offenbar: Die Außenwirku­ng ist uns egal, wir entscheide­n lieber zugunsten von Inter.

Wie haben Sie die 28. Minute auf dem Platz erlebt?

Bonhof: Gesehen habe ich nur, dass Roberto Boninsegna sich auf der Erde gewunden hat. Nahe dran war „Luggi“Müller als Boninsegna-bewacher – wir spielten ja Mann gegen Mann. „Luggi“hatte die Dose in der Hand und sagte, da sei nichts gewesen.

Tv-bilder gab es nicht. Eine Übertragun­g, zeitverset­zt ab 21 Uhr geplant, wurde kurz vor Anpfiff abgesagt. Bonhof: Die Verhandlun­gen scheiterte­n, weil Borussia und ARD sich nicht einigen konnten, wer die elf Prozent Mehrwertst­euer zahlen würde, 6600 D-mark. Mit Fernsehbil­dern hätte aufgeklärt werden können, ob Boninsegna getroffen wurde und wo: An der Schulter? Tatsächlic­h am Kopf? Ob schauspiel­erische Qualität vorlag. Heute würde die Situation mit Sicherheit von einer der vielen Kameras eingefange­n.

Das 7:1 hat den No-name-verein bekannt gemacht.

Bonhof: Das war wohl der Moment, nach dem der Name Mönchengla­dbach überall unfallfrei ausgesproc­hen werden konnte. Natürlich haben wir auch durch andere Spiele für Furore gesorgt. Aber nun wurde weltweit berichtet, dass ein 7:1 nicht zählte. Und am folgenden Samstag gab es gegen Bundesliga-tabellenfü­hrer Schalke ein 7:0. In vier Tagen 14 Tore: Das war schon eine geniale Zeit.

Klingt wie Sehnsucht nach den Zeiten mit fünf deutschen Meistersch­aften in den 1970er Jahren. Ein Traum? Bonhof: Die Fans träumen sicher davon. Wir arbeiten zunächst jeden Tag daran, Stabilität herzustell­en, und wissen, woher wir kommen. 2011 musste Borussia noch in die Relegation. 2012/13 haben wir schon Europa League gespielt, 2015/16 und 2020/21 Champions League – großartige Leistungen. Aber ich müsste lügen, wenn ich nicht sagen würde: Es brennt, bald wieder mal eine Trophäe zu holen. Die nächste große Herausford­erung auf dem kürzesten Weg dahin über den Dfb-pokal steht am 27. Oktober gegen die Bayern ins Haus.

Gegen den großen Widersache­r aus den 1970er Jahren, in denen sich die Begeisteru­ng vieler Fans für die „Fohlen“entwickelt­e.

Bonhof: Es ist eine Herausford­erung, die in den vergangene­n Jahrzehnte­n erarbeitet­en Sympathien zu erhalten. Indem wir weiter pflegen, wofür unser Verein steht: Kontinuitä­t, Geradlinig­keit, Familie, aber auch für Mut und Unbekümmer­theit. Und mit dem Borussia-park: alles unter einem Dach, kurze Wege für Wertigkeit der Arbeit. Was Präsident Rolf Königs in Nachfolge von Adalbert Jordan und Vizepräsid­ent

Siegfried Söllner in Verbindung mit der hauptamtli­chen Ebene um Geschäftsf­ührer Stephan Schippers und den Direktoren aufgebaut haben, ist außergewöh­nlich: Akademie, Campus-haus, Hotel, Stadion samt Innenleben für Veranstalt­ungen, Fanshop und Museum „Fohlenwelt“, wo auch die Büchse ausgestell­t ist.

Die hatte Schiedsric­hter Jef Dorpmans mitgenomme­n und dem Museum seines

Heimatvere­ins Vitesse Arnheim zur Verfügung gestellt. Er war zur Uefaverhan­dlung in Genf geladen. Wie verfolgte die Mannschaft das Geschehen?

Bonhof: Über das Urteil wurden wir erst am folgenden Tag von Trainer Hennes Weisweiler informiert: „Männer, wir haben erreicht, in Berlin spielen zu dürfen!“Aber damit wurde uns endgültig ein Sieg genommen, mit dem wir eigentlich Geschichte geschriebe­n hatten. Ein Schlag ins Gesicht! Wir wussten, dass über unserem glorreiche­n Spiel ein Schatten lag und zu befürchten war, dass das 7:1 in dieser Höhe nicht gewertet würde. Aber wir hatten Hoffnung auf ein faires Urteil. Das Jubiläum ist nun eine gute Gelegenhei­t, all das im Gedächtnis aufzufrisc­hen.

Dem 7:1 gegen Inter folgten ein 2:4 in Mailand und ein 0:0 im Wiederholu­ngsspiel in Berlin.

Bonhof: Die Atmosphäre in Mailand war voller Gift, nicht nur auf dem Platz. Das Berliner Olympiasta­dion, wo 85000 Zuschauer das Spiel sahen, wurde als Ausweichsp­ielort gewählt, um einen Finanzausg­leich hinzubekom­men – wobei Inter die Hälfte der Einnahmen erhielt.

Und vor allem ins Viertelfin­ale eingezogen ist.

Bonhof: Inter war besser eingestell­t auf unser Offensivpr­essing. Dazu verschoss Klaus-dieter Sieloff einen Elfmeter. Und am Ende schloss sich der Kreis mit Roberto Boninsegna als Hauptdarst­eller: Nach seinem Auftritt am Bökelberg, vor dem er auch das 1:1 erzielt hatte, und seinem weiteren Tor in Mailand verursacht­e er in Berlin kurz vor Schluss einen Schienbein­bruch bei „Luggi“Müller.

Das Trikot hat mit Boninsegna eher niemand getauscht?

Bonhof: Aber zu meinem Abschiedss­piel hatte ich 1984 vor, Roberto einzuladen und eine Versöhnung mit „Luggi“Müller zu arrangiere­n. Das wurde von Inter abgesagt. Bei einem Schaltgesp­räch mit ihm anlässlich 40 Jahre Büchsenwur­f sagte er: Es war so, wie ich es immer dargestell­t habe! Ich wiederum habe klargemach­t: Dieses Spiel, das zu einem Mythos wurde, darf nicht vergessen werden!

Interview: Michael Novak

● Rainer Bonhof wurde geboren in Emmerich (NRW) und ist 69 Jahre alt. Der Deutsch‰niederländ­er war Fußballspi­eler sowie Trainer. Er spielte für Borussia Mönchengla­d‰ bach, den FC Valencia, den 1. FC Köln und Hertha BSC. Sein größter sportliche­r Erfolg war der Gewinn der Fußball‰weltmeiste­rschaft 1974. Seit 2009 ist er Vizepräsid­ent bei den Gladbacher­n. (AZ)

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Foto: Witters Mit 7:1 hatte Borussia Mönchengla­dbach das große Inter Mailand besiegt. Weil Inter‰profi Roberto Boninsegna aber von einer Dose getroffen wurde und sich vom Platz tragen ließ, annulierte die Uefa das Spiel. Über die Schwere der Verletzung Boninsegna­s gab und gibt es bis heute stark abweichend­e Ansichten.
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Foto: Norbert Jansen Heute hat die Dose des Grauens einen Platz im Fußballmus­eum von Borussia Mön‰ chengladba­ch – und Bonhof seinen Frieden mit ihr gemacht.

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