In der Pandemie schlägt die Stunde der Optimisten
Leitartikel Trotz aller Handy-apps, Tests und Impfungen hatte die Politik das Virus lange Zeit nicht unter Kontrolle. Nun aber wird unser Leben Tag für Tag normaler
Das Ende der Pandemie wird kein besonderer Tag sein, sondern eine schleichende Phase von Wochen oder Monaten. Politiker mögen einen „Freedomday“ausrufen oder einen Bundestagsbeschluss an einem fixen Datum auslaufen lassen. Das Coronavirus wird weltweit nicht verschwinden und besonders in der kalten Jahreszeit für viele Menschen ein Risiko darstellen. Selbst für Geimpfte, wie prominente Todesfälle immer wieder ins Gedächtnis rufen.
Allerdings spricht sehr viel dafür, dass die schleichende Phase des Endes der Pandemie in Deutschland längst begonnen hat. Der Ausnahmezustand, den viele als „neue Normalität“schönzureden versuchten, verwandelt sich Woche für Woche ein Stück in Richtung wirkliche Normalität. Verantwortliche in Politik und anderen Bereichen sollten jedoch nicht wieder den Fehler machen, den strapazierten Menschen zu viel zu versprechen.
Nach jeder Welle schürten Politikerinnen und Politiker – nicht zuletzt auch der scheidende Gesundheitsminister Jens Spahn – Hoffnungen, die sich am Ende als falsch herausstellten. Dass mit Handyapps, Tests und Impfungen alles unter Kontrolle sei, dass ein Lockdown sich nie wiederholen werde. Am Ende behielten zu oft die Warner unter den Experten recht, die auch heute vor dem nahen Beginn des Winters davor mahnen, Corona mit zu vielen Lockerungen zu unterschätzen. Doch diesen Herbst spricht viel dafür, dass die Optimisten richtigliegen: Ein weiterer Rückschlag in Form einer gefährlichen Virusmutation ist entgegen allen Befürchtungen nicht in Sicht.
Nach chinesischer, britischer, brasilianischer, südafrikanischer und indischer Variante hat das Coronavirus seinen Bösartigkeitsvorrat möglicherweise ausgespielt. Die Plage der aktuellen Deltavariante ist auch schlimm genug, vor allem für Länder mit geringen Impfraten.
Dennoch sind die Impfungen eine Erfolgsgeschichte. Knapp die Hälfte der Weltbevölkerung verfügt über mindestens eine Impfdosis. Für die ärmsten Länder gibt es immerhin eine Perspektive, 2022 den Rückstand aufzuholen. Je stärker die weltweiten Abwehrkräfte werden, desto schwächer wird die Virus-bedrohung für alle.
Deutschland erlebt bei seiner
Impfrate derzeit eine bittere Lektion jenes universell geltenden Prinzips, das der italienische Gelehrte und Ökonom Vilfredo Pareto vor 125 Jahren entdeckt hat: Das Paretoprinzip besagt, dass mit 20 Prozent Aufwand 80 Prozent Erfolg erreicht werden können, die restlichen 20 Prozent zur Spitze jedoch 80 Prozent Einsatz erfordern. Das 80-20-Prinzip trennt im Sport ebenso wie in der Wirtschaft die Spitze von der Breite. Sehr lange
Zeit spiegelte es auch die weltweite Vermögensverteilung wider.
Man kann nun die Frage stellen, ob es sich lohnt, mit so hohem Aufwand die Impfquote zu steigern. Oder man sieht es sportlich, dass man bei 80 Prozent niemals aufgibt, weil sich weitere Mühe sehr lohnt. Denn diese Frage entscheidet über den Zustand des gesellschaftlichen Friedens, wenn Deutschland allerspätestens nach dem Höhepunkt des Winters das Ende der Pandemie erklären wird. Da die Impfungen das Virus nicht ausrotten können, wird es immer wieder Erkrankungen geben. Dabei besteht die Gefahr, dass Ungeimpfte und Erkrankte herabgewürdigt werden nach dem Motto: Selber schuld.
Das widerspricht dem Kern einer aufgeklärten zivilisierten Gesellschaft: Kranke dürfen niemals geächtet oder diskriminiert werden, egal, ob sie ihre Erkrankung fahrlässig oder bewusst riskiert haben.
Auch deshalb lohnt es sich, die letzten Meter der Pandemie mit Zuversicht, aber auch mit Durchhaltewillen und großen Impfanstrengungen zu Ende zu gehen.
Jetzt geht es um die Frage des Friedens in der Gesellschaft