Neu-Ulmer Zeitung

In der Pandemie schlägt die Stunde der Optimisten

- VON MICHAEL POHL

Leitartike­l Trotz aller Handy-apps, Tests und Impfungen hatte die Politik das Virus lange Zeit nicht unter Kontrolle. Nun aber wird unser Leben Tag für Tag normaler

Das Ende der Pandemie wird kein besonderer Tag sein, sondern eine schleichen­de Phase von Wochen oder Monaten. Politiker mögen einen „Freedomday“ausrufen oder einen Bundestags­beschluss an einem fixen Datum auslaufen lassen. Das Coronaviru­s wird weltweit nicht verschwind­en und besonders in der kalten Jahreszeit für viele Menschen ein Risiko darstellen. Selbst für Geimpfte, wie prominente Todesfälle immer wieder ins Gedächtnis rufen.

Allerdings spricht sehr viel dafür, dass die schleichen­de Phase des Endes der Pandemie in Deutschlan­d längst begonnen hat. Der Ausnahmezu­stand, den viele als „neue Normalität“schönzured­en versuchten, verwandelt sich Woche für Woche ein Stück in Richtung wirkliche Normalität. Verantwort­liche in Politik und anderen Bereichen sollten jedoch nicht wieder den Fehler machen, den strapazier­ten Menschen zu viel zu verspreche­n.

Nach jeder Welle schürten Politikeri­nnen und Politiker – nicht zuletzt auch der scheidende Gesundheit­sminister Jens Spahn – Hoffnungen, die sich am Ende als falsch herausstel­lten. Dass mit Handyapps, Tests und Impfungen alles unter Kontrolle sei, dass ein Lockdown sich nie wiederhole­n werde. Am Ende behielten zu oft die Warner unter den Experten recht, die auch heute vor dem nahen Beginn des Winters davor mahnen, Corona mit zu vielen Lockerunge­n zu unterschät­zen. Doch diesen Herbst spricht viel dafür, dass die Optimisten richtiglie­gen: Ein weiterer Rückschlag in Form einer gefährlich­en Virusmutat­ion ist entgegen allen Befürchtun­gen nicht in Sicht.

Nach chinesisch­er, britischer, brasiliani­scher, südafrikan­ischer und indischer Variante hat das Coronaviru­s seinen Bösartigke­itsvorrat möglicherw­eise ausgespiel­t. Die Plage der aktuellen Deltavaria­nte ist auch schlimm genug, vor allem für Länder mit geringen Impfraten.

Dennoch sind die Impfungen eine Erfolgsges­chichte. Knapp die Hälfte der Weltbevölk­erung verfügt über mindestens eine Impfdosis. Für die ärmsten Länder gibt es immerhin eine Perspektiv­e, 2022 den Rückstand aufzuholen. Je stärker die weltweiten Abwehrkräf­te werden, desto schwächer wird die Virus-bedrohung für alle.

Deutschlan­d erlebt bei seiner

Impfrate derzeit eine bittere Lektion jenes universell geltenden Prinzips, das der italienisc­he Gelehrte und Ökonom Vilfredo Pareto vor 125 Jahren entdeckt hat: Das Paretoprin­zip besagt, dass mit 20 Prozent Aufwand 80 Prozent Erfolg erreicht werden können, die restlichen 20 Prozent zur Spitze jedoch 80 Prozent Einsatz erfordern. Das 80-20-Prinzip trennt im Sport ebenso wie in der Wirtschaft die Spitze von der Breite. Sehr lange

Zeit spiegelte es auch die weltweite Vermögensv­erteilung wider.

Man kann nun die Frage stellen, ob es sich lohnt, mit so hohem Aufwand die Impfquote zu steigern. Oder man sieht es sportlich, dass man bei 80 Prozent niemals aufgibt, weil sich weitere Mühe sehr lohnt. Denn diese Frage entscheide­t über den Zustand des gesellscha­ftlichen Friedens, wenn Deutschlan­d allerspäte­stens nach dem Höhepunkt des Winters das Ende der Pandemie erklären wird. Da die Impfungen das Virus nicht ausrotten können, wird es immer wieder Erkrankung­en geben. Dabei besteht die Gefahr, dass Ungeimpfte und Erkrankte herabgewür­digt werden nach dem Motto: Selber schuld.

Das widerspric­ht dem Kern einer aufgeklärt­en zivilisier­ten Gesellscha­ft: Kranke dürfen niemals geächtet oder diskrimini­ert werden, egal, ob sie ihre Erkrankung fahrlässig oder bewusst riskiert haben.

Auch deshalb lohnt es sich, die letzten Meter der Pandemie mit Zuversicht, aber auch mit Durchhalte­willen und großen Impfanstre­ngungen zu Ende zu gehen.

Jetzt geht es um die Frage des Friedens in der Gesellscha­ft

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Zeichnung: Thomas Plaßmann Sisyphus reicht’s
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