Neu-Ulmer Zeitung

„Für mich ist es ein Schock“

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Interview Danuta Hübner war nach dem Beitritt Polens 2004 die erste Eu-kommissari­n

ihres Landes. Heute blickt sie mit Entsetzen auf die aktuelle Regierung in Warschau

Frau Hübner, Sie haben viele Jahre für die Aufnahme Polens in die EU gekämpft. Hätten Sie damals für einen Moment gedacht, dass wir uns in einer Situation wiederfind­en könnten wie der jetzigen?

Danuta Hübner: Absolut nicht. Ich weiß nicht, ob es uns einfach an Fantasie gefehlt hat oder ob wir das mangelnde Verständni­s bei einigen Politikern, die damals noch nicht aktiv waren, falsch eingeschät­zt haben dafür, worum es in der EU geht. Für mich ist es ein Schock. Ich frage mich, ob wir in den letzten Jahren nicht früh genug auf die Aktionen reagiert haben, die wir beobachten konnten. All das hat nicht heute oder gestern begonnen, der Prozess dauert seit Jahren an. Die Regierung hat erkannt, dass das Justizsyst­em in Polen auch für die Eu-mitgliedsc­haft grundlegen­d ist. Deshalb schmerzt die Entwicklun­g so. Durch die Reformen kontrollie­rt die Regierung die meisten Gerichte auf allen Ebenen. Wir Bürger wissen sehr gut, dass diese Gerichte unsere Rechte und die Rechte der Medien schützen. Wir im Konflikt mit der EU und dem Europäisch­en Gerichtsho­f – das bedeutet auch, dass uns Bürgern die Garantien und Rechte genommen werden, die uns die Eu-mitgliedsc­haft und die Zugehörigk­eit zur Rechtsgeme­inschaft eigentlich geben. Das verdoppelt den Frust.

Welche Fehler wurden denn gemacht? Hübner: Unser politische­s System hat den Test nicht bestanden. In den letzten fünf Jahren gab es Wahlen, bei denen die Bürger die Chance hatten, die herrschend­e Elite zu ändern. Die politische Opposition war in den letzten Jahren aber nicht stark genug und nicht gut genug organisier­t, um den Ausgang der Wahlen erfolgreic­h zu beeinfluss­en. Jetzt liegt es hauptsächl­ich bei den europäisch­en Institutio­nen. Aber Frau von der Leyen hat diese Woche anerkannt, dass es bei der überwältig­enden Mehrheit der Abgeordnet­en einen breiten Konsens gibt, und sie hat unseren Aufruf, Maßnahmen gegen Polens Regierung zu ergreifen, zur Kenntnis genommen. Das war stark von ihr.

Sie sprachen Missverstä­ndnisse in Polen an hinsichtli­ch des Verständni­sses, was es bedeutet, Eu-mitglied zu sein. War das Land nicht ausreichen­d vorbereite­t?

Hübner: Ich erinnere mich, dass ich als Ministerin, die für die Vorbereitu­ng der Integratio­n Polens verantwort­lich war, und dass ich buchstäbli­ch durch Polen gelaufen bin und Gespräche geführt habe. Nur sehr wenige Nationen haben meiner Meinung nach so viel über die europäisch­e Integratio­n geredet. Wir waren so gut vorbereite­t, wie man nur sein kann. Aber mit dieser Welle des Populismus in Europa hatten wir auch in Polen populistis­che anti-europäisch­e Bewegungen, die entdeckten, dass sie alle Arten von Angst erzeugen können. Trotz dieser politische­n Bemühungen aber haben die Menschen in Polen Europa nicht aufgegeben. Laut Umfragen liegen die Zustimmung­swerte zur Eu-mitgliedsc­haft weiterhin zwischen 80 und 90 Prozent. Das ist das Wichtigste. Die Menschen wollen Europa, sie brauchen Europa. Ich hoffe, die aktuellen Machthaber werden eines Tages Geschichte sein. Das liegt in den Händen der Menschen, aber auch in den Händen der politische­n Opposition. Wir sollten an die Arbeit gehen und verstehen, dass wir uns zusammenra­ufen müssen, da das Hauptziel darin besteht, den Wandel einzuleite­n, Wahlen zu gewinnen. Mein Aufruf an die Opposition: Wir müssen zusammenfi­nden – für Europa und für uns in Europa.

Was fürchten Sie, was passieren könnte, wenn Maßnahmen nichts bringen? Sehen Sie die Gefahr eines Polexit, eines Austritts Polens aus der EU? Hübner: Wir haben am Brexit in Großbritan­nien gesehen, dass man beinahe versehentl­ich aus der EU austreten kann. In Polen ist es ebenfalls möglich, dass wir plötzlich in eine Situation geraten, in der es ein Referendum gibt. Oder dass die Regierung das Rechtssyst­em ändert und im Parlament eine Wahl über die Mitgliedsc­haft ansetzt. Unabhängig davon aber befinden wir uns bereits in einer Lage, in der Polen den Rechtsraum der EU praktisch verlassen hat, da das polnische Verfassung­stribunal europäisch­es Recht für nicht verbindlic­h erklärt hat. Wenn man sich außerhalb des Rechtssyst­ems stellt, ist man nicht mehr Teil der EU. Nun hat die letzte Stunde geschlagen, um Polen zurückzubr­ingen und die uns zur Verfügung stehenden Mechanisme­n zu aktivieren.

Das Artikel-7-verfahren, das den Schutz der Rechtsstaa­tlichkeit zum Gegenstand hat und an dessen Ende gar die Aussetzung der Stimmrecht­e eines Mitglieds stehen kann, ist abhängig von der Einstimmig­keit der übrigen Staats- und Regierungs­chefs. Bislang decken sich Polen und Ungarn gegenseiti­g. Kann dieses Instrument greifen? Hübner: Wir müssen Artikel 7 endlich ernst nehmen. Es sind nicht mehr nur die Politiker, die eine harte, kritische Sicht auf die polnische Regierung haben. Dieses Mal geht es tiefer als sonst. Die Bürger melden sich und akzeptiere­n nicht länger, dass ihre Steuergeld­er an Regierunge­n mit dieser Anti-eu-haltung ausbezahlt werden. Es war aber wichtig, dass im Europäisch­en Parlament die Unterschei­dung getroffen wurde zwischen polnischer Regierung und den Menschen, die die finanziell­e Unterstütz­ung verlieren könnten. Wir können nicht einfach die Bürger bestrafen für das unangemess­ene Verhalten von Regierunge­n.

Was erwarten Sie vom Eu-gipfel? Hübner: Nach dem Auftritt von Mateusz Morawiecki im Parlament denke ich nicht, dass der Europäisch­e Rat eine andere Option hat, als das Thema zu behandeln und sich klar zu äußern. In der Vergangenh­eit fielen die Reaktionen der Staatsund Regierungs­chefs oft zu schwach aus. Zwar gehörte der Rat immer zu den Institutio­nen, in denen man traditione­ll die anderen Mitglieder nicht kritisiert. Aber ich glaube, diese Zeiten sind vorbei. Das Fundament der EU infrage zu stellen, ist gefährlich. Deshalb kann ich mir nicht vorstellen, dass der Rat die Situation einfach ignorieren kann. Das wäre beschämend. Es ist letztlich die Entscheidu­ng der Staats- und Regierungs­chefs, den Wiederaufb­aufonds freizugebe­n – und Polen ist ein großer Nutznießer. Ich erwarte, dass der Rat die Absicht der Kommission, Maßnahmen zu ergreifen, unterstütz­en wird. Europa steht auf dem Spiel.

Interview: Katrin Pribyl

Danita Hübner, 73, ist Ökonomin und sitzt seit 2009 für die liberalkon­ser‰ vative „Bürgerplat­tform“im Parlament.

 ?? Foto: Czarek Sokolowski, dpa ?? Pro‰europäisch­e Proteste in der polnischen Hauptstadt Warschau. Die Stimmung zwischen der EU und Polen ist angespannt.
Foto: Czarek Sokolowski, dpa Pro‰europäisch­e Proteste in der polnischen Hauptstadt Warschau. Die Stimmung zwischen der EU und Polen ist angespannt.
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