Neu-Ulmer Zeitung

Aus dem Rollstuhl auf den Kilimandsc­haro

- VON MICHAEL SCHEYER

Porträt Nach einem schweren Gleitschir­munfall ist der Bergsteige­r Thomas Lämmle teilweise gelähmt. Dann setzt er sich ein Ziel: Er will noch einmal auf den höchsten Berg Afrikas. Die Ärzte machen ihm wenig Hoffnung. Aber es gibt ja noch kleine Wunder

Moshi Viele Wege führen auf den Gipfel des Kilimandsc­haros. Der einfachste ist wohl die Lemoshorou­te. Sie führt am sechsten von acht Tagen durch die Barranco Wall. Einer Wand, bei der man ein wenig kraxeln muss. Für erfahrene Bergsteige­r jedenfalls nicht der Rede wert. Aber für den Extremspor­tler Thomas Lämmle, der mehrere 8000er ohne zusätzlich­en Sauerstoff bezwungen hat, ist der Abschnitt neuerdings eine besondere Herausford­erung. Denn im Gegensatz zu seinen früheren 62 Aufstiegen auf das mit 5895 Metern höchste Bergmassiv Afrikas ist er nun auf Krücken angewiesen.

Aber man muss es so sehen: Dieses 63. Mal hier unter der Sonne Tansanias ist ohnehin ein kleines Wunder.

Seit einem Gleitschir­munfall im Frühjahr 2020 ist Lämmles linkes Bein gelähmt. Seinen linken Fuß kann er seither gar nicht mehr bewegen. Er spürt nichts, auch nicht die offene, aufgeriebe­ne Blase an der Fußsohle, die normalerwe­ise höllisch schmerzen müsste. Und weil Lämmle den Fuß nicht mehr richtig ansteuern kann, konnte er im Vorfeld dieses Abenteuers auch keine Kraft im linken Bein aufbauen.

Aber genau die bräuchte er jetzt dringend. Weil die nächste Kletterpas­sage verlangt, dass er das schwache Bein aufstellt und sich damit nach oben drückt. Eigentlich ein Klacks. Allerdings nicht mehr für ihn, der monatelang an einen Rollstuhl gefesselt war und mittlerwei­le einen Behinderte­nausweis besitzt.

Lämmle, der 55-Jährige aus Waldburg bei Ravensburg, schiebt seine beiden Krücken in den Schultergu­rt seines Rucksacks hinter sich, um die Hände frei zu haben. Dann setzt er den linken Fuß auf einen Felsvorspr­ung und testet, ob dieser sicher steht. Mit den Händen sucht er nach zwei passenden Griffen. Er versucht, sich hochzudrüc­ken, aber es will ihm nicht gelingen.

Hinter seinem Rücken bildet sich bereits eine Schlange aus wartenden Trägern. Lämmle lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und tastet weiter nach einem besseren Halt, dreht den Körper mal nach links, mal nach rechts, bis er eine Position findet, mit der es klappen könnte. Er packt zu, wuchtet sich mit den Armen nach oben und setzt den rechten Fuß auf die nächste Schwelle. Geschafft. Ein Schritt weiter in Richtung Gipfel.

Wie einfach diese kurze Stelle in Wirklichke­it ist, demonstrie­ren die Träger, die ihren Weg nun fortsetzen können. Mit 20 Kilo schwerer

Last auf dem Rücken und dem Kopf steigen sie durch die Stelle, als wäre es eine Treppe.

In Momenten wie diesen muss Lämmle um Fassung ringen. „Gestern Abend kam mir der Gedanke: Auf der einen Seite ist es cool, wenn ich das jetzt schaffe. Auf der anderen Seite ist es natürlich ziemlich ernüchtern­d zu sehen, wenn du für das, was du früher in einer Stunde gelaufen bist, jetzt vier Stunden brauchst“, sagt er wenige Minuten später bei einer Verschnauf­pause. „Da wird dir auch wieder bewusst, dass du eigentlich behindert bist. Das zieht mich dann auch runter.“

Dass dies frustriert, ist nachvollzi­ehbar. Aber die Frage, die sich stellt, ist doch: Wo setzt Lämmle den Maßstab an? An den Mount Everest oder an den Rollstuhl?

„Genau darum geht es“, sagt Lämmle. „Das Bergsteige­n hier war mein Leben. Da bin ich zwei-, dreimal im Jahr zum Kilimandsc­haro gekommen und bin in jeder Nacht auf den Gipfel gestiegen, also sechsmal pro Tour. Und in dieses alte Leben schwappe ich mit meinen Gedanken immer wieder rein. Das tut mir dann auch weh.“Er blickt auf den Gipfel, der in seinem Rücken auf ihn zu warten scheint. „Aber man muss schauen, woher ich komme. Ich komme vom Rollstuhl. Und für einen Rollstuhlf­ahrer ist das schon eine coole Aktion.“

Die Bilder aus dem Krankenhau­s trägt er immer bei sich auf dem Handy. Und wenn es ihn herunterzi­eht, dann schaut er sich die Fotos an, um sich vor Augen zu führen, dass er Grund zur Freude hat.

Dass sein Aufstieg durchaus eine Sensation ist, sieht auch die Ärztin so, die ihn durch die Reha begleitet hat. „Aus medizinisc­her Sicht ist das ein kleines Wunder, was mit seinem Fuß geschehen ist“, sagt Orsolya Imre, in der Argentalkl­inik in Isny Oberärztin für Innere Medizin und Rheumatolo­gie. „Aber wer Herrn Lämmle kennt, den wundert es auch wieder nicht allzu sehr.“Sie hat ihm damals, als er auf den Rollstuhl angewiesen war, empfohlen, den Ärzten erst einmal nichts zu glauben. Selbst wenn die Situation aussichtsl­os erschien. Ein Ratschlag aus dem Mund einer Ärztin.

23. April 2020. Es hätte ein normaler Trainingsf­lug vom Hochgrat im Oberallgäu werden sollen. Aber an diesem Donnerstag verquatsch­t sich Lämmle mit zwei Fliegern und der Wind dreht unbemerkt. Kurz nach seinem Start, in etwa 20 Metern Höhe, drückt ein Windstoß die rechte Seite seines Gleitschir­ms ein. Lämmle wird in einer Spirale mit voller Wucht auf den Boden geschleude­rt. Sein Becken wird beim Aufprall gesprengt, sein Kreuzbein zertrümmer­t, er verliert vier Liter Blut. Die Ärzte können ihn in einer stundenlan­gen Operation vor dem Tod bewahren. Aber als er wieder zu sich kommt, spürt er seine Beine

mehr. Der Verdacht besteht, dass er querschnit­tsgelähmt ist.

Ans Bett gefesselt, hat er viel Zeit, um sich Gedanken zu machen. Wie geht es weiter? Es sind schwere Tage und Wochen für seine Frau und die sechs Kinder, die ihn wegen Corona nicht mal in der Klinik besuchen dürfen. „Die Familie ist viel zu kurz gekommen in meinem Leben“, sagt er heute. Deshalb betrachtet er den Unfall auch als eine Art Glücksfall – als zweite Chance. Denn sein eigentlich­es Ziel sei es damals gewesen, mit dem Gleitschir­m von einem 8000er zu springen, was geradezu lebensmüde ist. „Wenn ich zurückblic­ke“, sagt Lämmle, „war ich damals völlig wahnsinnig. Und ich glaube, der Unfall hat mir tatsächlic­h das Leben gerettet.“

Aber nicht nur über sein eigenes Leben macht sich Lämmle Gedanken, sondern auch darüber, wie es weitergehe­n soll mit den Freunden in Tansania, wo Lämmle im Laufe der Zeit eine kleine Non-profitagen­tur aufgebaut hat, die Bergtouren rund um den Kilimandsc­haro organisier­t. „Extrek Africa ist für mich Hilfe zur Selbsthilf­e“, sagt Lämmle. „Ein bisschen meine eigene Entwicklun­gshilfe.“Alle Gewinne kommen den Führern, Köchen und Trägern zugute.

Allerdings lässt Corona den Tourismus am Kilimandsc­haro vollständi­g einbrechen. Keine Arbeit bedeutet in Tansania: kein Essen. Lämmle will helfen und startet im Krankenhau­sbett mit seinem Handy einen Spendenauf­ruf. Das Geld, das zusammenko­mmt, reicht aus, um 50 Familien mit dem Nötigsten zu versorgen. Es reicht außerdem, um Land zu kaufen und Obst und Gemüse anzubauen, um es auf dem Markt zu verkaufen.

Wann Lämmle wieder nach Tansania reisen kann, ist da noch ungewiss. Verlassen kann er das Krankenhau­s nur im Rollstuhl. Möglinicht cherweise, sagen die Ärzte, wird er nie mehr laufen können. „Damals galt ich als austherapi­ert“, erinnert sich Lämmle. „Aber genau das, sagte mir die Ärztin in der Reha, sollte ich eben erst mal nicht glauben.“Lämmle ringt mit sich um den Sinn des Lebens: Wenn er nicht mehr auf Berge steigen kann, was ist das Leben dann noch wert?

Untersuchu­ngen zeigen, dass sein Rückenmark nicht durchtrenn­t ist. Im Rollstuhl also sitzen zu bleiben, kann Lämmle nicht akzeptiere­n. Er fängt an, das zu tun, was er sein ganzes Leben lang getan hat: Er trainiert. In der Reha muss sein Gehirn das Laufen neu lernen, wie man einen Fuß vor den anderen stellt.

Dann meldet sich ein Fuß mit Schmerzen zurück. Ein Hoffnungss­chimmer.

Lämmle trainiert weiter und weiter. So lange, bis er im Herbst 2020 auf wackligen Armen, knarzenden Krücken und nur einem voll funktionsf­ähigen Bein den nur 30 Meter hohen Kohlenberg in seinem Heimatort Waldburg besteigen kann. Was früher zwei Minuten dauerte, verlangt ihm jetzt zwei Stunden ab. Aber er schafft es bis nach oben. Noch ein Hoffnungss­chimmer.

Er setzt sich ein ambitionie­rteres Ziel: wieder auf den Kilimandsc­haro, den er eben schon 62 Mal bestiegen hat. „Und wenn das nur mit Krücken geht, dann ist das eben so.“So kommt es, dass Lämmle keine anderthalb Jahre nach dem Unfall in der Barranco Wall klettert. Auf den Krücken hat er da bereits mehr als 60 Kilometer Strecke und 3000 Höhenmeter zurückgele­gt. Woher er die Motivation und die Kraft schöpft? „Das weiß ich, ehrlich gesagt, nicht so richtig“, sagt Lämmle. „Wenn ich was will, kann ich mich jedenfalls wahnsinnig motivieren und auch Kräfte mobilisier­en. Im Krankenhau­s war mir klar, dass ich auf den Kilimandsc­haro will. Und das ist jetzt auch ungeheuer wichtig für mich und für meine Psyche.“

„Es macht viel aus, was im Kopf passiert“, bestätigt Ärztin Orsolya Imre. „Das versuchen wir den Patienten in der Reha zu vermitteln: Man darf den Glauben nie verlieren. Wenn man nichts erreichen möchte, dann erreicht man nichts. Herr Lämmle wollte einfach wieder den Gipfel erreichen. Ich bin stolz auf ihn, aber für das Wunder muss er sich bei sich selbst bedanken.“

Um 7.38 Uhr Ortszeit erreicht Thomas Lämmle mit einem gelähmten Bein und zwei knarzenden Krücken das Gipfelschi­ld des 5895 Meter hohen Uhuru Peaks. Er wirft seine Krücken beiseite, klettert ungelenk auf das Schild, jubelt und sagt mit brüchiger Stimme: „Die Einzige, die vor anderthalb Jahren daran geglaubt hat, dass ich wieder laufen kann, das war meine Frau. Die hat mir im Krankenhau­s gesagt: ‚Du wirst wieder gehen können.‘“

Viereinhal­btausend Höhenmeter weiter unten und drei Tage später erreicht Lämmle den zweiten Höhepunkt seiner Tansania-reise. Dieses Mal steht er jedoch auf keinem Gipfel, sondern auf einem gepflegten grünen Rasen inmitten zwei trockener Maisfelder und einem kleinen Haus daneben. Drum herum eine Handvoll ärmlicher Bauernhöfe.

Lämmle inspiziert das kleine Stück Land genau und ist gerührt. Obwohl es sein Eigen ist, sieht er es zum ersten Mal. Er hängt ein orangefarb­enes Kunststoff­plakat an die Wand des Hauses. Darauf befinden sich Name, Logo und Slogan von Extrek Africa und jetzt auch das, was Lämmle mit einem dicken Filzstift draufschre­ibt: „Extrek-farm“.

Das ist es also, Lämmles neues Projekt. Bald will er das Land nebenan kaufen und erweitern. Sein nächstes Ziel ist es, eine Ferienanla­ge zu errichten, die dann allen Extrek-beschäftig­ten den Lebensunte­rhalt sichert.

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 ?? Fotos: Michael Scheyer ?? Thomas Lämmle steigt mit Krücken auf den Kilimandsc­haro – und erreicht den Gipfel nach acht Tagen.
Fotos: Michael Scheyer Thomas Lämmle steigt mit Krücken auf den Kilimandsc­haro – und erreicht den Gipfel nach acht Tagen.
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Thomas Lämmle

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