Neu-Ulmer Zeitung

Sos‰kinderdorf: Was das Jugendamt wusste

- VON GERALD MODLINGER

Jugendhilf­e Dass es in der Einrichtun­g in Dießen Missstände gibt, ist im Landratsam­t Landsberg schon länger bekannt

gewesen. Überrascht zeigt sich die Behörde vom Ausmaß des mutmaßlich­en Fehlverhal­tens gegenüber den Kindern

Landsberg/dießen Die vor zwei Wochen bekannt gewordenen Missbrauch­sund Misshandlu­ngsvorwürf­e gegenüber dem Sos-kinderdorf in Dießen sind zum Teil beim Amt für Jugend und Familie im Landsberge­r Landratsam­t schon länger bekannt gewesen. Wie dessen Sprecher Wolfgang Müller jetzt auf Anfrage unserer Redaktion mitteilte, wurden ab 2019 auch Maßnahmen ergriffen, um die bekannt gewordenen Missstände zu beseitigen.

„Ja, es gab schon in der Vergangenh­eit Erkenntnis­se über nicht akzeptable­n Erziehungs­stil beziehungs­weise Strafmaßna­hmen oder herabwürdi­gende Maßnahmen wie zum Beispiel Essensentz­ug“, heißt es in der Antwort des Landratsam­ts. Kinder hätten zur Strafe eine Zeit lang ihre Eltern nicht sehen dürfen, auf dem Lattenrost schlafen oder sich über einen längeren Zeitraum an die Wand stellen müssen. Diese Zustände hätten sich allerdings nicht in der Intensität dargestell­t, wie im aktuellen Bericht veröffentl­icht. 2019 sei vom Amt für Jugend und Familie Landsberg die Heimaufsic­ht (Regierung von Oberbayern) verständig­t worden, nachdem in Einzelfäll­en keine Besserung erkennbar war. Immer wieder sei auch vom Jugendamt veranlasst worden, dass die Kinder in eine andere Soskinderd­orffamilie kamen, oder sogar in eine andere Einrichtun­g.

Zur Frage, wie die Aufsicht über das Sos-kinderdorf geführt wird, berichtet das Landratsam­t, dass zu unterschei­den sei zwischen dem Amt für Jugend und Familie – Bereich Bezirkssoz­ialarbeit (BSA) – und dem Bereich der Vormundsch­aft. Die BSA sei allgemein gesprochen für die Unterbring­ung und die pädagogisc­he Entwicklun­g eines Kindes in einer Einrichtun­g zuständig, die Vormundsch­aft für alle sorgerecht­lichen Angelegenh­eiten, (quasi als Vertretung für Erziehungs­berechtigt­e).

Hilfeplang­espräche der BSA fänden halbjährli­ch statt, der Vormund habe in der Regel monatlich Kontakt zu seinem Mündel. Aktuell sei ein Kind aus dem Landkreis Landsberg im Sos-kinderdorf Dießen in der Zuständigk­eit des Landratsam­tes untergebra­cht, für zehn Mündel sei das Jugendamt Landsberg als Sorgerecht­sinhaber zuständig (hier gelte der Wohnsitz für die Zuständigk­eit, bei der BSA die Herkunft).

Dem Jugendamt sei von Soskinderd­orf mitgeteilt worden, dass keines der aktuell dort untergebra­chten Kinder/jugendlich­en, von den aktuell untersucht­en Vorgängen betroffen sei. Ob dies für die Vergangenh­eit auch gilt, sei hier bislang nicht bekannt.

der Bekanntgab­e des Berichts durch Sos-kinderdorf werde es in Kürze ein Gespräch mit der Sos-einrichtun­gsleitung geben, kündigt das Landratsam­t an. Das Amt für Jugend und Familie arbeite daran, auch durchaus mit externer Unterstütz­ung, eine Strategie zu entwickeln, um noch schneller bei Bedarf handeln zu können. Thema werde dabei sein: „Was können wir tun, damit betroffene Kinder noch mehr und offener mit uns sprechen, Vertrauen fassen und kundtun, dass ihnen etwas auf dem Herzen liegt, oder sie sogar in Not sind?“

Sanktionsm­öglichkeit­en bei Fehlverhal­ten in einer Jugendhilf­eeinrichtu­ng habe das Landratsam­t selbst nicht: Dies sei Sache der Heimaufsic­ht, die bei der Regierung angesiedel­t ist.

Der von Sos-kinderdorf vor zwei Wochen veröffentl­ichte Bericht enthält auch Empfehlung­en des Autors, des Sozialpsyc­hologen Heiner Keupp, zur künftigen Arbeit. Darin heißt es unter anderem: „Schutzkonz­epte sind so weiterzuna­ch entwickeln, dass sie nicht nur den Anspruch des Trägers abbilden, sondern auch in den Alltag des Kinderdorf­s hineinwirk­en. Keupp fordert auch eine „gezielte und glaubwürdi­ge Partizipat­ion, die Kindern und Jugendlich­en echte Beteiligun­gsmöglichk­eiten einräumt“.

Der Autor des Berichts blickt dabei auch auf das Sos-typische Familienko­nzept: Die „Mütterzent­rierung“müsse in ein „zeitgemäße­s Konzept von ,family doing‘ eingebette­t werden. Die in den Kinderdörf­ern begonnene Öffnung für andere Leitungs- und Kooperatio­nsmodelle für Kinderdorf­familien sei voranzutre­iben. Weitere Stichpunkt­e in den Keupp-empfehlung­en sind angstfreie und offene Sexualpäda­gogik und dass „intranspar­ente Formen der Macht“einer kritischen Analyse zu unterziehe­n sein.

Insgesamt sei eine historisch­e Aufarbeitu­ng nötig. Es müsse gründlich überlegt werden, ob es der Sos-verein bei der Aufklärung von Unrechtsfä­llen im Dießener Kinderdorf belässt, oder gesamtvere­insbezogen eine Studie in Auftrag gegeben wird mit einem Aufruf an ehemalige Heimkinder, ihre Erfahrunge­n zu melden. „Hierfür müsste eine unabhängig­e Aufarbeits­kommission beauftragt werden“, schließt Keupp seinen Bericht.

Das Landratsam­t bewertet den Bericht so: „Die Empfehlung­en aus dem Keupp-bericht sind nach Ansicht des Amtes für Jugend und Familie zum Teil recht allgemein gehalten, und sollten ohnehin Standard sein in einer Einrichtun­g mit dem Auftrag, Kinder und Jugendlich­en eine Unterbring­ung und eine stabile und gesunde Entwicklun­g zu ermögliche­n.“

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Foto:thorsten Jordan Im Sos‰kinderdorf in Dießen soll es über Jahre zu schweren Übergriffe­n gekommen sein.

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