Neu-Ulmer Zeitung

So verheizt der Fußball seine Spieler

- VON FLORIAN EISELE

Termine Im Jahr 2022 gibt es eine noch nie dagewesene Belastungs­probe: Die WM im Winter,

Sommer- und Winterpaus­e fallen kurz aus. Wissenscha­ftler und Mediziner schlagen Alarm

Augsburg Das Spiel um Platz drei bei der Nations League dürfte wohl kaum jemandem dauerhaft in Erinnerung bleiben. Vielleicht am ehesten noch den Italienern, die sich nach dem 2:1 gegen Belgien freuen konnten über... Ja, was eigentlich? Schon die Gründung der Nations League im Jahr 2018 rief unter einigen Spielern Befremden hervor. Belgiens Torwart Thibaut Courtois hatte dazu eine klare Meinung: „Dieses Spiel um Platz drei und vier ist nur ein Spiel ums Geld, und da müssen wir ehrlich sein. Wir spielen es nur, weil es für die Uefa zusätzlich­es Geld bedeutet.“

Und einmal in Fahrt, legte der Schlussman­n von Real Madrid nach: „Es ist eine schlechte Sache, nicht über die Spieler zu sprechen. Und jetzt hört man, dass jedes Jahr entweder eine EM oder eine WM ausgetrage­n werden. Wann ruhen wir uns aus? Niemals. Wir sind keine Roboter! Es gibt immer mehr Spiele und weniger Ruhephasen für uns.“

Tatsächlic­h droht den Nationalsp­ielern im Jahr 2022 eine Belastung, wie es sie bislang nicht gegeben hat: Weil die WM in Katar im November und Dezember stattfinde­t, wird der Spielplan aller weltweiten Fußball-ligen zusammenge­staucht, um dort die Weltmeiste­rschaft hineinpres­sen zu können. Das dadurch freigeword­ene Loch im Sommer wird mitnichten für Regenerati­on genutzt, sondern um die ersten Spiele der neuen Nations League austragen zu können. Die Bundesliga soll 2022 bereits im Juli und damit so früh wie seit 19 Jahren nicht mehr starten. Zeitgleich gibt es beim Weltverban­d Fifa Überlegung­en, künftig alle zwei Jahre eine WM auszutrage­n.

Für Dr. Ulrich Boenisch von der Augsburger Hessingpar­k-clinic ein Unding. Der Mediziner ist ein bundesweit bekannter Kniespezia­list und ärztlicher Leiter der Augsburger Hessingpar­k-clinic. Zu seinen Patienten gehören Profis wie Toni Kroos oder Jérôme Boateng. Für ihn stellt die Terminhatz im Jahr 2022 den negativen Höhepunkt einer Spirale dar: „Die Belastung ist ohnehin schon enorm. Und nun knallen Uefa und Fifa den Terminkale­nder derart voll, dass es keinen verantwort­ungsvollen Umgang mit den Athleten mehr geben kann.“Schon in den vergangene­n beiden Spielzeite­n seien die wenigen spielfreie­n Phasen durch den Nachholdru­ck infolge der Corona-pause fast komplett aufgebrauc­ht, beklagt Boenisch. Dazu komme, dass es bei den Verletzung­en, die in seiner Praxis auftauchen, ein ganz klares Muster gibt: „90 Prozent der Verletzung­en betrifft die Beine – und davon ein Viertel sind Verletzung­en der Oberschenk­el-muskulatur.“Muskelverl­etzungen wiederum seien oft eine Folge von schierer Überanstre­ngung und wären bei entspreche­nder Regenerati­on zu vermeiden. Aber was, wenn es keine Zeit mehr zur Regenerati­on gibt? „Wenn man dauerhaft in englischen Wochen spielt, kann die Belastungs­steuerung nicht mehr funktionie­ren.“

Zudem sei der Druck, wieder fit zu sein, enorm: „Wenn ich zu einem Spieler sage: Du brauchst diese Zeit, um wieder fit zu werden. Dann kommen Berater und Manager und fragen, ob das nicht schneller geht.“Vor allem bei auslaufend­en Verträgen wolle sich jeder Spieler zeigen und spielen – notfalls eben auf Kosten der Gesundheit.

Das ist insofern ein Teufelskre­is, weil nach einer Verletzung die Gefahr steigt, sich erneut zu verletzen. „Eine Muskelverl­etzung heilt mit einer Narbe aus. Das ist gewisserma­ßen eine Sollbruchs­telle.“Schon jetzt verletzen sich zwölf Prozent aller am Oberschenk­el verletzten Spieler erneut. Boenisch kommt zu einem harten Urteil: „Hier wird Raubbau am Körper betrieben. Diese Branche hat ihr Verantwort­ungsbewuss­tsein verloren.“

Mit dieser Meinung steht der Mediziner längst nicht alleine da. Toni Kroos gab vor kurzem in seinem Podcast „Einfach mal Luppen“zu, dass die Dauerbelas­tung einer der Gründe für seinen Rücktritt aus der Nationalel­f war: „Am Ende der Tage sind wir bei diesen ganzen zusätzlich­en Sachen, die erfunden werden, als Spieler nur die Marionette­n von Fifa und Uefa. Da wird ja keiner gefragt.“Schon zu seiner Zeit beim FC Bayern sagte Pep Guardiola: „Wir killen die Spieler. Wir verlangen zu viel von ihnen.“

Dabei betreffen die Probleme längst nicht mehr nur die Nationalsp­ieler. Boenisch berichtet, dass sich der Raubbau am Körper mittlerwei­le bis hinunter in die 3. Liga bemerkbar macht. Auch hier sind die Pausen immer knapper, fangen die Ligen immer früher an.

Aber beklagen sich Fußballer vielleicht zu Unrecht? In anderen Sportarten wie im Eishockey, Basketball oder Handball ist eine derart enge Taktung längst an der Tagesordnu­ng. Daniel

Memmert ist Professor am Institut für Trainingsw­issenschaf­t und Sportinfor­matik an der Sporthochs­chule in Köln und warnt davor, Vergleiche zu ziehen: „Das kann man so nicht vergleiche­n. In vielen Sportarten gibt es ebenfalls eine enorm hohe Taktung der Spiele.“So sei es im Us-basketball keine Seltenheit, dass Teams alle zwei Tage ran müssten. „Anderersei­ts ist im Fußball das Spielfeld eben auch relativ groß.“Eine Sache gelte jedoch für alle genannten Sportarten: Die Belastung ist schlichtwe­g zu groß. „Und die Regenerati­on ist ein Riesenprob­lem.“

Um die Spieler zu schützen, müssten die Verantwort­lichen in den Vereinen umdenken, fordert Memmert – und zieht einen Vergleich zum Tennis. „Da spielen die Topspieler auch nicht mehr jedes Turnier. Sie haben erkannt, dass das einfach nicht mehr funktionie­rt. Davon könnten sich manche Fußballer eine Scheibe abschneide­n.“Sprich: Die Topspieler sollten eine Pause erhalten, bevor die Muskeln reißen. „Muss Robert Lewandowsk­i zum Beispiel wirklich gegen Bielefeld spielen?“

Der Pole ist zwar dafür bekannt, in möglichst jeder Spielminut­e auf dem Platz stehen zu wollen, sollte aber in dieser Hinsicht vor sich selbst geschützt werden. „Das müssen sich mehrere Leute überlegen – und notfalls muss hier gegen den Willen von Spieler, Mitspieler, Trainer, Manager, Fans beider Lager, oder Berater entschiede­n werden, die auf einen Einsatz drängen.“Einen Kader, der groß genug ist, um Spielern rechtzeiti­g eine Pause zu geben, sieht auch Ulrich Boenisch als möglichen Ausweg an. In Zeiten von Sparmaßnah­men durch Corona ist das aber ein Luxus, den sich – wenn überhaupt – nur größere Vereine leisten können.

Oder gibt es am Ende einen Aufstand der Spieler? Laut dem eingangs erwähnten Courtois ist das der einzige Weg: „Wenn wir nie etwas sagen, wird es immer dasselbe sein.“ wohl leichter zu verkraften, wenn ein Controller oder eine Qualitätsm­anagerin den Tätigkeits­bereich verlassen müsste.

Der Bauer hat es schwer im Sport. Als sich Mats Hummels in der Partie gegen Ajax Amsterdam im Zweikampf reichlich ungeschick­t anstellte, attestiert­e der im Privatfern­sehen kommentier­ende Ex-fußballer David Odonkor, der Innenverte­idiger habe sich „wie ein Bauer angestellt“. Meint: ungeschick­t. Dabei sind es doch die Landwirte und Landwirtin­nen, die sich wie niemand anderes um das Gemeinwohl verdient machen.

Wenn aber ein Pass die gegnerisch­e Abwehr der Lächerlich­keit preisgibt, wird von „chirurgisc­her Präzision“gesprochen, mit der die Defensive zerschnitt­en wurde.

Einen Kapitän auf dem Spielfeld zu haben, gilt als standesgem­äß für jedes Team, den Metzger aber will keiner in seiner Mannschaft haben. Niemand wird nach einer sauberen Grätsche behaupten, der Spieler oder die Spielerin habe die Situation im Stile eines Gas-wasser-installate­urs bereinigt. Dafür: Mauern als Synonym für destruktiv­es Verteidige­n. Marx und Engels hätten am modernen Sport wirklich keinen Spaß.

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Foto: Lukas Schulze, dpa Kölns Jonas Hector liegt erschöpft auf dem Rasen. Der jahrelange Raubbau am Körper wird bei vielen Spielern Spuren hinterlas‰ sen, die über die Karriere hinaus bleiben.
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Ulrich Boenisch
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Daniel Memmert

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