Jack London: Der Seewolf (54)
IDass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugung hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod.
ch fühlte mich von einer fremden Macht bezwungen und wandte mich wider Willen, um in Wolf Larsens Augen zu blicken. Aber jetzt hatte er seine Selbstbeherrschung wiedergefunden. Die goldene Farbe und das schimmernde Licht waren erloschen. Seine Augen funkelten kalt und grau, als er sich jetzt plötzlich mit einer unbeholfenen Bewegung abwandte.
„Ich fürchte mich,“flüsterte sie schaudernd, „ich fürchte mich so.“
Auch ich fürchtete mich und befand mich in starker Erregung über die Entdeckung, die ich gemacht hatte, aber es gelang mir, gelassen zu antworten:
„Es wird schon alles gut werden, Fräulein Brewster. Glauben Sie mir, es wird alles gut werden.“
Sie antwortete mit einem kleinen dankbaren Lächeln, das mein Herz klopfen ließ, und ging dann die Kajütstreppe hinunter.
Lange blieb ich dort stehen, wo sie mich verlassen hatte. Es war eine zwingende Notwendigkeit für mich,
mich zu besinnen und mir klar darüber zu werden, welche Wendung die Dinge genommen hatten. Jetzt endlich war sie gekommen, die Liebe, war zu mir gekommen, nun, da ich es am wenigsten erwartet hatte, und unter den schwierigsten Verhältnissen.
Maud Brewster! Meine Erinnerung flog zurück zu dem ersten dünnen Bändchen auf meinem Schreibtisch, und ich sah zum Greifen deutlich die ganze Reihe schmaler Bändchen auf meinem Bücherbrett vor mir. Mit welcher Freude hatte ich jedes von ihnen begrüßt! Alljährlich war eines von ihnen erschienen, und jedesmal war es das Ereignis des Jahres für mich gewesen. Sie hatten eine verwandte Saite in meinem Geiste angeschlagen, und in diesem Sinne hatte ich sie kameradschaftlich begrüßt; aber jetzt hatten sie ihren Platz in meinem Herzen gefunden.
Und dann kehrte mein Geist – ungereimt und sinnlos – zu einer kleinen biographischen Bemerkung in dem roten Bande ,Wer ist’s?‘ zurück. ,Sie ist in Cambridge geboren und 27 Jahre alt.‘ Und ich sagte mir: ,27 Jahre alt und doch noch frei?‘ Wie konnte ich wissen, ob sie noch frei war? Und der Stich neugeborener Eifersucht jagte allen Zweifel in die Flucht. Nein, es war sicher. Ich war eifersüchtig, also war ich verliebt. Und die, die ich liebte, war Maud Brewster. Obgleich ich stets von Frauen umgeben gewesen, hatte ich sie nur rein ästhetisch betrachtet, weiter nichts. Ich hatte wirklich manchmal geglaubt, daß die Regel keine Geltung auf mich hätte, daß ich ein Einsiedler wäre, dem das Glück der Liebe versagt sei. Und nun war es doch gekommen! In einer Art Ekstase verließ ich meinen Platz an der Kajütskappe und schritt über das Deck, indem ich die wundervollen Verse Elisabeth Brownings murmelte:
„Traumbilder waren viele Jahre lang
Genossen statt der Frau’n und Männer mir;
Die besten Kameraden seid doch ihr. Kein süßer Lied ein andrer je mir sang.“
Jetzt aber erklang das süßere Lied in meinen Ohren, und ich war blind und taub für alles um mich her. Die scharfe Stimme Wolf Larsens rüttelte mich auf. „Zum Donnerwetter, was treiben Sie?“
Ich war nach vorn geschritten, wo die Matrosen mit Anstreichen beschäftigt waren, und bemerkte jetzt, daß ich mit dem Fuße fast einen Farbentopf umgestoßen hätte.
„Schlafwandeln, Sonnenstich – wie?“brummte er.
„Nein, Verdauungsstörung“, erwiderte ich und ging weiter, als ob mir nichts Ungewöhnliches begegnet wäre.
Zu den stärksten Eindrücken meines Lebens gehören die Ereignisse auf der ,Ghost‘ in den vierzig Stunden, die der Entdeckung meiner Liebe zu Maud Brewster folgten. Nach einem stillen, geruhigen Leben war ich mit 35 Jahren in eine Reihe der unwahrscheinlichsten Abenteuer verwickelt worden, die ich mir je hatte träumen lassen, aber nie habe ich so viele und so spannende Erlebnisse gehabt wie in diesen vierzig Stunden. Und auch heute noch kann ich meine Ohren nicht ganz der leisen Stimme des Stolzes verschließen, die mir zuflüstert, daß ich, alles in allem, nicht übel dabei abgeschnitten habe.
Das erste war, daß Wolf Larsen den Jägern beim Mittagessen mitteilte, sie sollten in Zukunft im Zwischendeck essen. Das war etwas ganz Unerhörtes auf Robbenschonern, wo die Jäger stets Offiziersrang bekleiden. Er gab keine Gründe an, sie waren aber klar genug.
Horner und Smoke hatten angefangen, Maud Brewster den Hof zu machen; es war dies an und für sich nur lächerlich und durchaus nicht beleidigend für Fräulein Brewster, aber es störte Wolf Larsen offenbar.
Die Ankündigung wurde mit tiefem Schweigen entgegengenommen, wenn auch die vier andern Jäger bedeutungsvoll auf die beiden Schuldigen blickten. Jock Horner verzog, seiner ruhigen Art gemäß, keine Miene. Aber Smoke stieg das Blut zu Kopfe, und er öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Wolf Larsen beobachtete ihn abwartend, den stahlharten Schimmer in den Augen, aber Smoke schloß wortlos wieder den Mund. „Wünschen Sie etwas?“fragte der Kapitän angriffslustig. Das war eine Herausforderung, aber Smoke tat, als verstände er sie nicht.
„Was denn?“fragte er so unschuldig, daß Wolf Larsen aus der Fassung gebracht wurde, während die andern lächelten.
„Ach nichts“, sagte Wolf Larsen friedlich. „Ich dachte nur, Sie wollten gern eine ‘runtergelangt haben.“
„Wofür?“fragte der unerschütterliche Smoke.
Jetzt lächelten Smokes Kameraden ganz unverhohlen. Der Kapitän hätte ihn töten mögen, und ich bin überzeugt, daß Blut geflossen sein würde, wenn Maud Brewster nicht dabeigewesen wäre. Ihre Anwesenheit hatte denn auch Smoke ermutigt. Er war zu vorsichtig, als daß er Wolf Larsens Zorn zu einem Zeitpunkt herausgefordert hätte, da dieser Zorn sich stärker als in Worten hätte äußern können. Ich fürchtete dennoch, daß es zum Kampfe kommen sollte, aber da ertönte ein Ruf vom Rudergast, der die Situation rettete.
„Rauch ahoi!“klang es die Kajütstreppe herab.
„Welche Richtung?“rief Wolf Larsen hinauf.
„Gerade achtern.“
„Vielleicht ein Russe“, meinte Latimer.
Bei seinen Worten zeigte sich Schrecken auf den Gesichtern der andern Jäger. Ein Russe konnte nur eins bedeuten: einen Kreuzer. Die Jäger hatten zwar nur eine annähernde Vorstellung, wo wir uns befanden, aber sie wußten doch, daß wir nicht weit von der Grenze des verbotenen Territoriums sein konnten, und alle kannten Wolf Larsens Ruf als Wilderer. Alle Augen richteten sich auf ihn.
„Wir sind vollkommen sicher“, beruhigte er sie lachend. „Diesmal gibt’s keine Salzminen, Smoke. Aber ich will euch etwas sagen: ich will fünf gegen eins wetten, daß es die ,Macedonia‘ ist.“.
»55. Fortsetzung folgt