Julias einsame Nächte im Böhmerwald
Rettung 45 Stunden lang haben 1400 Menschen und 120 Hunde nach einer vermissten Achtjährigen gesucht – bis zum Happy End.
Eine Rekonstruktion des größten grenzübergreifenden Einsatzes, der Deutschland und Tschechien in Atem hielt
Furth im Wald Das Allradfahrzeug der Bergwacht holpert über die Pfade des Böhmerwalds hinauf zum Gipfel des Cerchovs. Die Bergungsliege im Kofferraum quietscht bei jeder Bodenwurzel ohrenbetäubend. Dominik Schönberger lenkt den Wagen routiniert durch den Matsch. Obwohl er erst zwei Wochen zuvor stundenlang durch den Wald gefahren ist, muss er manchmal innehalten und sich orientieren. Die dichten Bäume schirmen die letzten Sonnenstrahlen vom Waldboden ab, Nebelschwaden kriechen den Hang hinauf. „Hier sieht man den Wald vor lauter Bäumen nicht“, sagt er – und trifft es damit auf den Punkt. Das hat ja alles so schwierig gemacht vor zwei Wochen. Für die achtjährige Julia, die nicht aus dem Wald fand. Und für 1400 deutsche und tschechische Einsatzkräfte, die sie im Wald nicht fanden.
Es war also Sonntag, 10. Oktober, als in der Oberpfalz alles begann und die Bergwacht Furth im Wald wegen einer Vermisstensuche alarmiert wurde. Auf die Meldung folgten 45 dramatische Stunden bis zur erlösenden Nachricht. Dann: Kollektives Aufatmen, Passanten applaudierten, Medienberichte überschlugen sich, Einsatzkräfte weinten vor Freude. Was ist in den zwei Tagen und Nächten passiert?
Das ist eine lange Geschichte, sagt Tobias Muhr vom Bayerischen Roten Kreuz in Cham. Er hatte die Einsatzleitung beim BRK. Der 39-Jährige hat ein Grinsen im Gesicht, das auch die Maske nicht verstecken kann. Jetzt, zwei Wochen später, kann er wieder lachen. Bevor es mit dem Wagen tief in den Wald geht, sitzen Muhr, der gleichaltrige Schönberger von der Bergwacht und vier Frauen der Brk-hundestaffel in ihren bunten Dienstjacken in einem Besprechungsraum und rekonstruieren die größte grenzübergreifende Suchaktion in der Geschichte Bayerns und Tschechiens.
Als die Leitstelle am frühen Sonntagabend die Bergwacht Furth im Wald alarmierte, war zunächst von drei vermissten Kindern die Rede. Eine Familie aus Berlin hatte von Waldmünchen aus auf den Cerchov wandern wollen. Die achtjährige Julia, ihr sechsjähriger Bruder und der neun Jahre alte Cousin waren dann beim Spielen gegen 17 Uhr plötzlich verschwunden.
Einsatzleiter Schönberger fuhr mit zwei Bergwacht-kameraden ins Gebiet. Suchaktionen hat er schon viele erlebt – doch noch keine mit Kindern. Mountainbiker fanden die beiden Buben schnell. Von Julia aber fehlte jede Spur. Um 18.40 Uhr – es war schon stockdunkel und kalt – erhielten die Bergwachtler den Auftrag: Wanderwege absuchen. Schönberger forderte das Lkldfahrzeug an. Die Abkürzung steht für Lokalisation, Kommunikation, Lagebeschreibung und Dokumentation. Darin ist die komplette Ausrüstung für eine Vermisstensuche: Drohnen, Gps-geräte, Funk und Co. Die Polizei ließ einen Hubschrauber kommen. „Wir dachten, das reicht“, erzählt Schönberger. Doch dann meldete einer seiner Kameraden per Funk, dass auf tschechischer Seite ein riesiges Aufgebot an Einsatzkräften anrückt.
Jetzt auf der Fahrt durchs Suchgebiet zeigt Schönberger auf ein Ortsschild: Althütten. Am Waldrand steht zwischen vereinzelten Wohnhäusern eine kleine Hütte der Bergwacht. Hier war zu Beginn die Einsatzzentrale, sagt er. Zu dem Zeitpunkt sei noch nicht klar gewesen, wie groß die Suchaktion wird – und was gerade auf tschechischer Seite passiert.
Auf deutscher Seite kreisten in den Abendstunden Hubschrauber und Drohnen mit Wärmebildkameras über den Wald. Doch das dichte
Blätterdach des Böhmerwaldes versperrte jegliche Sicht von oben – und machte die moderne Technik nutzlos. Es blieb keine andere Möglichkeit, als die Suche auf den Waldboden zu verlagern. Um 22.20 Uhr ging die Meldung über die Alarmapp bei den Mitgliedern der Brkhundestaffel ein, erinnert sich Anna Köck von der Hundestaffel Straubing-bogen. Zwischen 23 und 23.30 Uhr kamen die Helferinnen und Helfer mit ihren Hunden im Suchgebiet an. Der Kriseninterventionsdienst des Landkreises Cham kümmerte sich um Julias Familie. Ihr Vater war noch lange vor Ort und beantwortete Fragen. Schönberger beschreibt ihn als gefasst. Auf tschechischer Seite, so hieß es, suchten Menschenketten das Gebiet ab.
„Jeder große Einsatz beginnt mit einer Chaosphase“, erklärt BRKMANN Muhr. Bei grenzüberschreitenden Aktionen dauere diese länger. Für Muhr stand im Vordergrund, diese Phase zu beenden und die Einsätze beider Länder zusammenzubringen. Gegen Mitternacht wurde die Einsatzzentrale deshalb auf den Gipfel des Cerchovs verlagert. Muhr organisierte eine Dolmetscherin des BRK als „Sprachrohr“zwischen den Beteiligten. „Dann hatten wir die Übersicht.“
Nach langem Geholper über Wurzelwege kommt plötzlich ein breiterer Teerweg. „Im Sommer fahren hier sogar Busse rauf“, sagt Schönberger. Kaum zu glauben, ist an diesem nebligen Nachmittag unter der Woche doch keine Menschenseele unterwegs. Dann lichtet sich der Wald und der Blick schweift über das Gipfelplateau. Mit 1042 Metern über dem Meeresspiegel ist der Cerchov – zu Deutsch Schwarzkopf – die höchste Erhebung in der Region auf tschechischer Seite.
Markant sind zwei Türme, die schon von weitem erkennbar sind. Einen nutzte das Ddr-ministerium für Staatssicherheit als Abhörstation. Heute dient er der Flugsicherung und ist nicht begehbar. Gegenüber steht ein Aussichtsturm, von dem man, das beteuert Schönberger, bei schönem Wetter bis zu den Alpen sieht. Schwer vorstellbar, da sich das ganze Tal unter einer dicken Nebeldecke verbirgt. „Hierher wurde die Einsatzzentrale verlegt“, sagt der Bergwachtler und geht ein paar Schritte. Sofort erkennt man durch den Nebel nur noch die rotblaue Jacke der Bergwacht.
„In der ersten Nacht hatten die Hunde Priorität“, sagt Muhr. Anna Köck, die Einsatzleiterin der Hundestaffel, erklärt, dass Mantrailer und Flächensuchhunde nach Julia suchten. Die Mantrailer bekommen eine Geruchsprobe und spüren diese im Gelände auf. Flächensuchhunde laufen ohne Leine und reagieren auf jede menschliche Witterung. Die Hunde seien so hilfreich, da sie die Vergangenheit „sehen“, also ob Julia durch das Gebiet geirrt ist. Es wurden Teams gebildet: je ein Hund mit Hundeführerin und Helfer. „Wir haben noch einen Guide von der Bergwacht mitbekommen“, sagt Köck. Jedes Team erhielt ein Suchgebiet, das auf ein Gps-gerät gespielt wurde.
Nach einer Weile müssen sich die Hunde ausruhen, erzählt Christina Artmann von der Straubinger Hundestaffel, die mit ihrer Labradorhündin Maja dabei war. Schließlich ist das Gelände sehr anspruchsvoll: dichte Bäume, unebener Untergrund, Felsen und steile Hänge. Dazu kam die Temperatur. Das Thermometer sank laut Schönberger auf minus vier Grad; „scho’ schattig“, wie es der Bergwachtler ausdrückt. Durch den dunklen Wald schallten Rufe nach Julia – doch die Antwort blieb aus. Die dichten Blätter schlucken Schall, sodass sie ihren Namen vielleicht gar nicht hörte, wo immer sie auch war.
Dann wurde es im Gipfelbereich zu eng. Am frühen Montagmorgen zog die Einsatzzentrale ein weiteres Mal um: in die Zollhalle bei Schafberg, direkt an der Grenze. Muhr organisierte die „Unterstützungsgruppe Sanitätseinsatzleitung“– ein „fahrendes Büro“. Darin wurden weitere Einsatzkräfte organisiert, was den Überblick erleichterte.
Um 8 Uhr bildeten Feuerwehrkräfte aufgrund einer Hundespur im Fichtenbachtal eine Menschenkette. Um 10 Uhr traf eine Hundertschaft der bayerischen Bereitschaftspolizei ein. Da Julia weiterhin verschollen blieb, alarmierte Köck 35 weitere Hundestaffeln aus ganz Bayern, damit kein Leerlauf entsteht. Schlimmstenfalls wären die Leute umsonst angereist, sagt sie und fügt an: „Wenn es um ein kleines Kind geht, nimmt man das in Kauf.“
Der Einwand ruft wieder in Erinnerung: Es war ein achtjähriges Mädchen allein im Wald. Es hatte weder Essen noch Trinken. Und auch keine wärmende Kleidung. Schon auf Erwachsene wirkt der Wald in der Dunkelheit bedrohlich. Wie muss es da erst einem Kind ergehen? Auf die Frage, wie sich die Beteiligten in der Situation fühlten, kehrt im Raum kurz Ruhe ein. „Die Befürchtung war von Anfang an groß“, sagt Muhr. Schon nach der ersten Nacht arbeiteten alle mit der Sorge, dass es für die kleine Julia bei der Kälte kritisch werden könnte. „Es war jedoch nie ein Thema, dass die Suche aufgegeben wird.“
Der Wald riecht nach Herbst. Aber nicht nach dem sonnigen, bei dem man einen Spaziergang machen möchte. Sondern nach nassem Holz und totem Laub. Jeder Schritt verlangt Konzentration. Unter der Laubdecke verbergen sich Stolperfallen; Äste und Zweige behindern den Weg und stechen ins Gesicht. Kaum auszumalen, dass ganze Menschenketten dieses Gebiet durchkämmten. Die Ketten wurden rechts und links von jeweils einem Bergwacht-führer mit Gps-system begleitet, erklärt Schönberger. So wurde im Wald Stück für Stück jeder Stein umgedreht. Doch auch in der zweiten Nacht, in der es zu allem Überfluss auch noch regnete, tauchte Julia nicht auf.
Dienstagmorgen lag eine Glocke der Betroffenheit über der Einsatzhalle. „Mit jeder Nacht, die vergangen ist, ist das Gefühl gesunken, dass das Ganze gut ausgeht“, beschreibt Tobias Muhr. Emotional habe sich jeder Helfer nach der zweiten Nacht darauf eingestellt, das Mädchen tot zu finden.
In einer kurzen Pause daheim hat Dominik Schönberger seinen zehnjährigen Sohn gefragt, was er in der Situation machen würde. Er habe geantwortet, dass er sich aus Angst verstecken würde. So ging es auch Julia, wie später aus Polizeiberichten hervorgeht. Nachts habe sie sich gefürchtet und nicht auf sich aufmerksam gemacht.
Während in der Einsatzzentrale neue Kräfte zugeteilt wurden, durchsuchte ein tschechischer Förster am Mittag in Absprache mit der Einsatzleitung ein Gebiet knapp außerhalb des offiziellen Suchradius. Martin Semecky und seine Kollegen kamen zu einer Lichtung. Plötzlich sah er ein Mädchen vor sich. Julia. „Sie saß etwa zehn Meter weit weg im hohen Gras“, erzählte der 31-Jährige später. Er sei überwältigt vom Glück, das kleine Mädchen gefunden zu haben. Als er ihren Namen sagte, habe die Achtjährige nur langsam genickt. Er wickelte das völlig unterkühlte Kind in seine Jacke und trug es zum Auto.
Dass Julia lebend gefunden wurde, erfuhr Tobias Muhr aus den sozialen Medien. Er versuchte, die Meldung zu verifizieren. Es dauerte etwa 20 Minuten. „Das war eine sehr lange Zeit“, sagt er rückblickend. Gegen 14 Uhr bestätigte der Polizeisprecher die gute Nachricht. „Das kann man ruhig zugeben: Da sind Tränen geflossen“, sagt Muhr.
Zuerst werden drei Kinder vermisst gemeldet
Vor lauter Freude sind Tränen geflossen
Die Polizei informierte die Eltern. Julia war bereits im Krankenwagen. Muhr klärte am Telefon die Frage, in welches deutsche Krankenhaus sie gebracht werden soll.
Als die Entscheidung gefallen war und er auflegte, fuhr bereits ein tschechischer Krankenwagen mit Blaulicht an ihm vorbei. „Da habe ich es wirklich realisiert“, erinnert er sich an diesen emotionalen Moment. „Ich war erschöpft, aber glücklich“, wirft Christina Artmann von der Hundestaffel ein. Und ihre Kollegin Anna Köck fügt hinzu: „Man hat gemerkt, was man gemeinsam schaffen kann.“
Bis 16 Uhr waren alle aus der Einsatzzentrale verschwunden. Julia wurde im Krankenhaus langsam aufgewärmt. Bis auf einen Kratzer am Bein habe sie keine Verletzungen erlitten, berichtet die Polizei. Schon einen Tag später wurde sie entlassen. Dass die Achtjährige ohne Essen und Trinken 45 Stunden in der Kälte überlebte, bezeichnen viele als Wunder. Gegenüber der Polizei erzählte sie, dass sie immer in Bewegung war und mehrere Kilometer lief. Zu ihrem Fundort hätte sie auf direktem Weg schon mehr als zwei Stunden benötigen müssen. Etwa einen Kilometer entfernt liegt eine Quelle mit Trinkwasser, die sie jedoch nicht gefunden habe. Nachts habe sie im hohen Gras geschlafen und Tiere wie Rehe, Füchse und ein Wildschwein gesehen.
Und wie geht es ihr jetzt? Besucht sie schon wieder die Schule? Das Polizeipräsidium Oberpfalz macht aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes keine näheren Angaben. Julias Familie lasse ausrichten, dass sie überglücklich sei und sich bei allen Helferinnen und Helfern bedanke.
Tobias Muhr wünscht ihr jedenfalls, dass sie das Ganze gut verarbeitet. Er stellt sich vor, dass sie eines Tages als Erwachsene von dem einen Urlaub in Bayern erzählen wird, der etwas blöd gelaufen ist.