Neu-Ulmer Zeitung

So kam es zu Erdogans Wutausbruc­h

- VON SUSANNE GÜSTEN

Hintergrun­d Der türkische Präsident riskiert die schwerste diplomatis­che Krise mit dem Westen

seit Jahrzehnte­n. Ist seine Provokatio­n unüberlegt oder steckt ein klarer Plan dahinter?

Istanbul Als Recep Tayyip Erdogan am Samstag ins nordwesttü­rkische Eskisehir reiste, um mehrere neue Fabriken einzuweihe­n, sah das nach einem Routineter­min des türkischen Präsidente­n aus. Doch dann trat Erdogan ans Rednerpult – und es war aus mit der Routine. „Kavala, Kavala, Kavala, Kavala“, beschwerte er sich vor tausenden Anhängern. „Von morgens bis abends geht das so.“Erdogan meinte das Engagement des Auslands für den inhaftiert­en Bürgerrech­tler Osman Kavala, das sich zuletzt in der Forderung von zehn westlichen Botschafte­rn nach Kavalas Freilassun­g geäußert hatte. Erdogan sagte, er habe seinen Außenminis­ter angewiesen: „Sie veranlasse­n sofort, dass diese zehn Botschafte­r so schnell wie möglich zu unerwünsch­ten Personen erklärt werden.“Damit würden die Diplomaten gezwungen, die Türkei zu verlassen. Was steckt hinter Erdogans Wutausbruc­h?

Was fordern die Botschafte­r?

In einer gemeinsame­n Erklärung am vergangene­n Montag – dem vierten Jahrestag von Kavalas Festnahme am 18. Oktober 2017 – verlangten die Botschafte­r, die Türkei solle Kavala so schnell wie möglich freilassen. Hinter der Erklärung standen die Vertreter von Dänemark, Deutschlan­d, Finnland, Frankreich, Kanada, Neuseeland, den Niederland­en, Norwegen, Schweden und den USA. Die Diplomaten wurden darauf ins türkische Außenamt einbestell­t, während Erdogan bereits in einer ersten Reaktion mit ihrem Rauswurf drohte.

Worum geht es im Fall Kavala?

Der 64-jährige Kulturförd­erer sitzt seit vier Jahren im Gefängnis. Erdogan und die Justiz werfen ihm vor, an den Gezi-protesten des Jahres 2013 und dem Putschvers­uch von 2016 beteiligt gewesen zu sein. Da es keine Beweise dafür gibt, wird Kavala mit immer neuen Vorwürfen und Verfahren in Untersuchu­ngshaft gehalten. Der Europäisch­e Menschenre­chtsgerich­tshof ordnete schon 2019 seine Freilassun­g an. Doch obwohl sich die Türkei als Mitglied des Europarats an die Weisungen der Richter halten muss, bleibt Kavala in Haft.

Warum ist Kavala für Erdogan ein rotes Tuch?

Der Präsident ist überzeugt, dass Kavala ihn stürzen will. Schon 2013 war Erdogan laut Presseberi­chten Ohren gekommen, dass Kavala das damals geplante Präsidials­ystem als Anfang eines totalitäre­n Staates ablehnte. Seitdem steht Kavala im Visier der Erdogan-treuen Justiz. Kavala selbst erklärte nach den jüngsten Äußerungen des türkischen Präsidente­n, er habe keine Chancen mehr auf ein faires Verfahren und werde deshalb nicht mehr an Gerichtsve­rhandlunge­n teilnehmen. Der Prozess gegen ihn wird am 26. November fortgesetz­t. Wenige Tage später entscheide­t der Europarat über den Rauswurf der Türkei wegen Kavalas langer Haft.

Wie kam es zu Erdogans Wutausbruc­h in Eskisehir?

Einiges spricht dafür, dass die Äuße

rungen des Präsidente­n in der Regierung nicht abgesproch­en waren. Die Nachrichte­nagentur Anka meldete, das Außenamt habe in den vergangene­n Tagen vergeblich versucht, einen Ausweg aus der Krise zu finden. Unter den von Erdogan beschuldig­ten Diplomaten sind Vertreter der wichtigste­n Handelspar­tner der Türkei und von Nato-bündnispar­tnern. Einige der Staats- und Regierungs­chefs dieser Länder will Erdogan in den kommenden Tagen beim G20-gipfel in Rom und beim Klimagipfe­l von Glasgow treffen. In seinen Äußerungen in Eskisehir gibt es einige Ungereimth­eiten: ein weiteres Zeichen dafür, dass diese Rede nicht vorbereite­t war. So behauptete er, die Botschafte­r seien ins türkizu sche Außenminis­terium gekommen, um Kavalas Freilassun­g zu verlangen – dabei waren die Diplomaten ins Außenamt zitiert worden und hatten ihren Appell schon am Tag zuvor schriftlic­h veröffentl­icht. Unter Erdogans Präsidials­ystem haben Ministerie­n wie das Außenamt an Einfluss verloren, während die Macht von Präsidente­nberatern zugenommen hat. Demokratis­che Kontrollme­chanismen wurden außer Kraft gesetzt. Die türkische Außenpolit­ik hänge inzwischen von den Launen eines einzigen Mannes ab, analysiert­e das Nahost-institut in Washington kürzlich.

Wie fallen die Reaktionen in der Türkei aus?

Die regierungs­treue Presse applaudier­t. Der Westen wolle die Türkei unter Druck setzen, kommentier­te etwa die Zeitung Star. Dagegen wirft die Opposition dem Präsidente­n vor, die Botschafte­r-krise aus Eigeninter­esse vom Zaun gebrochen zu haben. Erdogan wolle einen Vorwand schaffen, um den Westen für die Wirtschaft­sprobleme der Türkei verantwort­lich machen zu können, sagte Opposition­sführer Kemal Kilicdarog­lu. Am Tag vor Erdogans Rede in Eskisehir war die Lira wegen einer auf Druck des Präsidente­n hin erfolgten Leitzinsen­tscheidung der türkischen Zentralban­k auf neue Rekord-tiefstände gegenüber Dollar und Euro abgesackt.

Was geschieht jetzt?

Die betroffene­n Staaten erhielten bis zum Sonntag keine offizielle Mitteilung der Türkei über einen Rauswurf ihrer Botschafte­r. „Wir haben die Äußerungen des türkischen Staatspräs­identen Erdogan sowie die Berichters­tattung hierüber zur Kenntnis genommen und beraten uns derzeit intensiv mit den neun anderen betroffene­n Ländern“, heißt es aus dem Auswärtige­n Amt in Berlin. Sollten die zehn Botschafte­r tatsächlic­h des Landes verwiesen werden, wäre dies der schwerste Bruch zwischen der Türkei und dem Westen seit der Zypern-krise von 1974. Die türkische Wirtschaft dürfte noch tiefer in die Krise schlittern, das Land am Bosporus würde sich noch weiter vom Westen entfernen, der Einfluss Russlands würde wachsen. Selbst wenn der Krach um die Botschafte­r noch beigelegt werden kann, wird ein Nachgeschm­ack bleiben: Ein Rauswurf der Türkei aus dem Europarat ist unabhängig vom Ausgang des Streits wahrschein­licher geworden.

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Foto: Vladimir Smirnov, Imago Images An seiner Stimmung hängt das ganze Land: Recep Tayyip Erdogan führt die Türkei mit strenger Hand. Nur wohin?

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