Wenn zu Pessach das Familienchaos ausbricht
Literatur Jüdische Jugendbücher können keine heile Welt widerspiegeln. Zu mächtig ist dafür die Vergangenheit. Doch müssen die Juden ewig Opfer sein? Die neuere Jugendkultur begehrt auf, zeigt eine Tagung in Ichenhausen auf
Ichenhausen Jüdisches im Kinderbuch? Womöglich samt Verfolgung und Vernichtung im Dritten Reich? Lehrerinnen und Pädagogen schrecken davor zurück. Würden die Kleinen das schon ertragen, würden sie es verstehen? Der Schrecken muss ja nicht das Ende sein, so wie er es im wirklichen Leben auch nicht war. Was jüdische Kinderliteratur zu leisten vermag, erwies eine Fachtagung in der ehemaligen Synagoge Ichenhausen.
Bei Michael Wolffsohn, dem bekannten Historiker und Publizisten, war die Frage seines Enkels Noah der Anlass für die Erzählung seiner Familiengeschichte. Er wurde 1947 in Tel Aviv geboren, aber nach sechs Jahren verließen seine Eltern Israel und gingen – wieder zurück – nach Deutschland. Warum sind sie überhaupt weggegangen? Und was zog sie wieder hin? Episodisch schildert Wolffsohn in dem Buch „Wir waren Glückskinder – trotz allem“(2021) – und bei seiner Lesung in Ichenhausen – das Leben seiner Eltern und Großeltern in Deutschland. Vom Berliner Kommerzienrat Karl Wolffsohn, der geschäftlich sehr erfolgreich war und seinen Sohn ins Fürst-bismarck-gymnasium schickte. Die Judenhetze der Nazis lässt er in einem Dialog eines couragierten Mitschülers mit dem verbohrten Professor gipfeln. Die Mame indes wuchs in Bamberg auf und besuchte die katholische Mariaward-schule – selbstverständlich in Klasszimmern mit dem Kruzifix, man habe diese Schule ja freiwillig gewählt und solle die Gepflogenheiten der Mehrheit achten, erklärte ihr Vater. Wolffsohn schreibt mit der erklärten Absicht, die Jugend zu belehren und aufzuklären.
Eva Lezzi dagegen hat in ihren Geschichten von Beni das Mischmasch der heutigen Gesellschaft im Blick. Die Berliner Autorin, geboren in New York und aufgewachsen in der Schweiz, bekennt sich zur Cultural Appropriation – zur Überschneidung der Kulturen, wie sie Jugendliche in ihren Medien selbstverständlich darstellen. Beni wächst jüdisch auf, doch er hat keine Bilderbuchfamilie. So bricht am Pessachfest wieder mal das Chaos aus. Während der eine Onkel den Stadtneurotiker Woody Allen liebt, hält’s
andere Onkel streng mit der Religion. Benis Papa ist gar ein Christ. Sollen sie sich traditionell „Nächstes Jahr in Jerusalem!“wünschen oder lieber „in Berlin!“?
Eva Lezzi erzählt erfrischend unbefangen Geschichten der jüdischen Gegenwart in Deutschland, in der auch mal etwas „falsch“oder „anders“sein darf. Lezzi findet, Kinderliteratur müsse aus dem Leben schöpfen und nicht geschönte Idealfiguren zeichnen. Wenn Benis nervige Schwester ihre Bat Mitzwa in der Synagoge feiert, ist Fotografieren dort streng verboten. Aber jeder tut es. Und dass der christliche Papa ans Lesepult aufgerufen wird, sprengt jeden jüdischen Ritus. Omas Leben im Exil verpackt Lezzi elegant in einem Spaziergang durch die Gärten der Welt, wo im Duft von Lavendel der reale orientalische und der französische Garten ihrer verschmelzen. Diese Zwischenwelten illustriert Anna Adam mit aufwendigen, fantasievollen Dioramen voller Anspielungen.
Sie zu entschlüsseln, setzt ein bestimmtes Wissen voraus. Weshalb in der jüdischen Jugendliteratur oft der Blick in die Vergangenheit geht. In „Stellas Reise“(2016) schlägt Ursula Muhr mithilfe eines Spiegels im Dachboden die Brücke vom Mädchen aus der Gegenwart zur jüdischen Stella, die Oma einst zu retten versuchte. In „Bella und das Mädel aus dem Schtetl“(2015) erzählt Marina B. Neubert das biblische Buch von Königin Esther und dem bösen Judenfeind Haman als einen poetischen Roman um ein magisches Familienerbstück, nämlich die geraubte Purim-krone.
Die Bremer Literaturwissenschaftlerin Hadassah Stickmothe erkennt in diesem Roman das Anlieder gen, einer Generation jüdischer Auswanderer aus der ehemaligen Sowjetunion wieder ein Gespür für ihre religiösen Wurzeln zu geben. Die Reise in die Vergangenheit, womit sich der Zusammenhalt einer Familie bewährt, wird zum Vorbild für die Zukunft. David Safier indes nivelliert in seinem Roman „28 Tage lang“(2014) über den Aufstand im Warschauer Getto das spezifisch Jüdische an Mira, dem Mädchen im Widerstand, zugunsten der größeren Nahbarkeit an die Figur. Die jüdische Tradition erscheine im Kampf sogar störend, so Stickmothe.
In Mirjam Presslers letztem Jugendroman „Dunkles Gold“(2019) verschränken sich die Zeiten und die Räume. Lauras Mutter ist Archäologin in Erfurt und erforscht den 1349 vergrabenen Goldschatz eines jüdischen Händlers. Laura denkt sich dazu eine Graphic Novel mit eijugend ner Familienstory aus dem Mittelalter aus, bei der ihr Mitschüler Alexej hilft. Doch auch Alexejs eingewanderte Familie musste während der Nazi-besetzung Russlands ihren jüdischen Schatz verbergen. „Man gesteht den Juden keine Normalität zu“, resümiert Stickmothe.
Dieselbe Zielrichtung visualisiert der rasante, respektlose Film „Masel Tov Cocktail“von Arkadij Khaet und Mickey Paatzsch, der seit 2020 mit einer Reihe von Filmpreisen ausgezeichnet worden ist. Im Zentrum steht Dimitrij „Dima“Liebermann, der junge russische Jude im Ruhrpott. Wird er in der Schule gemobbt, schlägt er zu. Himmelt ihn die Lehrerin verdruckst an, durchschaut er ihr Opfer-mitleid. Selbstvergessen sind die Deutschen über ihr jüdisches Erbe und seien’s Tempotaschentücher. Er wollte schon immer zeigen, wie es sich anfühlt, als Jude in Deutschland zu leben, sagt Arkadij Khaet. „Wir wachsen in einer Generation heran, die jüdische Kultur aus sich heraus erzählt.“Jenseits von Kippa und Klezmer mit einem unerhört wilden Sound.
Jedenfalls lässt sich nicht mehr so ohne Weiteres Zugehörigkeit literarisch vermitteln, wie es in den 1920ern möglich war. Als Ilse Herlinger ihre jüdischen Kindermärchen schrieb und von Mendel Rosenbusch erzählte. Neugierige, mutige Kinder stehen im Mittelpunkt, die zur Entscheidung für das Gute und Wahre angeleitet werden, fasst die Augsburger Germanistin Theresia Dingelmaier zusammen. Auch die Sage vom Golem, dem aus Lehm geformten, starken Helfer der Juden, entfaltet sich aufs Neue.
Eine ganze jüdische Superheldenwelt ersteht in den amerikanischen Comics der 1930er, wie die Erlanger Germanistin Ingold Zeisberger darlegte. Viele Illustratoren aus Osteuropa waren nach New York eingewandert, sie kamen aber in der Werbung nicht unter. So fantastische und unheimliche Figuren wurden ihre Comics, bis der Psychiater Fredric Wertham 1954 vor ihrer jugendgefährdenden Wirkung warnte. Die Superhelden erfanden sich daraufhin neu, sie wurden menschlicher und psychologisierter. Michael Chabon schrieb sogar den Roman über Comics: „Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier & Clay“, der 2001 den Pulitzerpreis erhielt.