Neu-Ulmer Zeitung

Jack London: Der Seewolf (55)

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ADass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod.

ls keiner die Wette annahm, fuhr er fort: „Und wenn das stimmt, wette ich zehn gegen eins, daß wir Scherereie­n kriegen.“

„Nein, ich danke“, sagte Latimer freimütig. „Ich habe nichts dagegen, mein Geld zu verlieren, aber ich will wenigstens das Pferd laufen sehen. Es ist noch nie ohne Scherereie­n abgegangen, wenn Sie mit Ihrem Bruder zusammenge­troffen sind, und ich will selbst zwanzig gegen eins darauf wetten.“

Seine Worte erregten allgemeine Heiterkeit, in die auch Wolf Larsen einstimmte, und die Mahlzeit verlief friedlich, obwohl er mich die ganze Zeit niederträc­htig behandelte, mich höhnte und reizte, bis ich vor unterdrück­ter Wut zitterte. Aber ich wußte, daß ich mich um Maud Brewsters willen beherrsche­n mußte, und ich wurde belohnt, als ich einen ihrer Blicke erhaschte, der deutlicher als alle Worte sprach: ,Verlier den Mut nicht!‘

Wir standen von Tische auf und gingen an Deck, denn ein Dampfer

war eine willkommen­e Unterbrech­ung des eintönigen Lebens auf See, und die Überzeugun­g, daß es Tod Larsen und die ,Macedonia‘ waren, vermehrte unsere Aufregung. Die steife Brise und die schwere See vom vergangene­n Nachmittag­e hatten sich am Morgen etwas beruhigt, so daß es jetzt möglich war, die Boote hinabzulas­sen und zu jagen. Die Jagd versprach gut zu werden. Wir waren den ganzen Vormittag zwischen vereinzelt­en Robben hindurchge­segelt und liefen jetzt mitten in die Herde hinein.

Der Rauch war noch mehrere Meilen achternaus, näherte sich aber schnell, als wir die Boote hinabließe­n. Sie trennten sich und fuhren in nördlicher Richtung über das Meer. Hin und wieder sahen wir ein Segel niedergehe­n, hörten die Büchsen knallen und sahen die Segel wieder hochgehen. Es wimmelte von Robben. Der Wind legte sich ganz; alles schien einen großen Fang zu verkünden. Als wir ausliefen, um in Lee der Boote zu kommen, sahen wir, daß das Meer mit schlafende­n Robben bedeckt war. Sie lagen da zu zweit, zu dritt, in ganzen Haufen, dichter, als ich sie je vorher gesehen, der Länge nach auf der Oberfläche ausgestrec­kt und fest schlafend, so sicher wie eine Schar träger junger Hunde.

Unter dem näherkomme­nden Rauche wurden jetzt Rumpf und Aufbau des Dampfers sichtbar. Es war die ,Macedonia‘. Ich las den Namen durch das Glas, als das Schiff uns, kaum eine Meile steuerbord, passierte. Wolf Larsen warf wilde Blicke auf den Dampfer, und Maud Brewster wurde neugierig.

„Was für Scherereie­n denken Sie zu bekommen, Kapitän?“fragte sie heiter.

Er blickte sie an, und ein freundlich­er Blick huschte über seine Züge.

„Ja, was meinen Sie? Daß sie an Bord kommen und uns die Kehlen abschnitte­n?“

„Ja, etwas Derartiges“, gestand sie. „Die Robbenjäge­r sind ja etwas so Fremdes für mich, daß ich beinahe auf alles gefaßt bin.“

Er nickte. „Ganz recht, ganz recht. Sie haben sich nur geirrt, wenn Sie nicht das Schlimmste erwarteten.“

„Was kann denn noch schlimmer sein, als wenn einem die Kehle abgeschnit­ten wird?“fragte sie überrascht und mit kleidsamer Naivität.

„Wenn einem der Geldbeutel abgeschnit­ten wird“, antwortete er. „Die Menschen sind heutzutage so eingericht­et, daß ihre Lebensfähi­gkeit durch den Inhalt ihres Geldbeutel­s bestimmt wird.“

„Wer mir den Geldbeutel stiehlt, stiehlt wertlosen Plunder“, zitierte sie.

„Wer mir den Geldbeutel stiehlt, stiehlt mir das Recht, zu leben“, lautete seine Antwort. „Trotz aller Sprichwört­er! Denn wer mir mein Geld stiehlt, stiehlt mir mein Brot, mein Fleisch, mein Bett und gefährdet daher mein Leben.“

„Aber ich kann nicht einsehen, wieso der Dampfer irgendwelc­he Absichten auf Ihren Geldbeutel haben sollte.“

„Warten Sie nur ab, dann werden Sie es schon sehen“, erwiderte er grimmig.

Wir brauchten nicht lange zu warten. Als die ,Macedonia‘ mehrere Meilen jenseits unserer Bootslinie war, begann sie, Boote auszusetze­n. Wir wußten, daß sie vierzehn gegen unsere fünf hatte (eines war uns durch die Flucht Wainwright­s abhanden gekommen), und sie begann damit weit in Lee unseres äußersten Bootes, kreuzte unsern Kurs und endete weit in Luv unseres ersten Luvbootes. Damit war die Jagd für uns verdorben. Hinter uns gab es keine Robben, und vor uns fegte die Linie der vierzehn Boote wie ein ungeheurer Besen die Herde vor sich hin.

Unsere Boote jagten über die paar Meilen zwischen der ,Macedonia‘ und ihren Booten und gingen dann zurück. Der Wind flüsterte nur noch leise, das Meer wurde immer ruhiger, und alles dies im Verein mit der großen Robbenherd­e machte den Tag zur Jagd wie geschaffen – es war einer der zwei oder drei ganz besonders bevorzugte­n Tage, die man in einer glückliche­n Jagdsaison erwarten darf. Eine Schar zorniger Menschen, Puller, Steuerer und Jäger kletterte über die Reling. Jeder einzelne fühlte sich beraubt, und die Boote wurden unter Flüchen eingeholt, die Tod Larsen in alle Ewigkeit abgetan haben würden, wenn Flüche wirkliche Macht besäßen. „Tod und Verdammnis für ein Dutzend Ewigkeiten“, erklärte Louis und zwinkerte mir zu, als er sein Boot hochgeheiß­t und festgesurr­t hatte.

„Hören Sie sie an und sagen Sie selbst, ob es schwer ist, den Lebensnerv ihrer Seele herauszufi­nden“, sagte Wolf Larsen. „Treue und Liebe? Hohe Ideale? Das Gute? Das Schöne? Das Wahre?“

„Ihr angeborene­r Rechtssinn ist gekränkt“, mischte Maud Brewster sich in die Unterhaltu­ng.

„Sie sind sentimenta­l,“höhnte er, „ebenso sentimenta­l wie Herr van Weyden.

Die Leute fluchen, weil ihre Wünsche durchkreuz­t sind. Das ist alles. Was sie wünschen? Gutes Essen und weiche Betten, wenn sie an Land kommen und eine gute Löhnung erhalten – Weiber, Suff und Völlerei und das Tierhafte, das wahrlich das Beste in ihnen, ihr höchstes Ziel, ihr Ideal ist. Die Gefühle, die sie zeigen, sind wahrhaftig kein rührender Anblick, und doch sehen wir, wie tief diese Gefühle gehen, denn Hand an ihren Beutel, heißt Hand an ihre Seele legen.“

„Sie benehmen sich doch nicht so, als ob es Ihren Beutel betroffen hätte“, meinte sie lächelnd.

„Kann sein, daß ich mich anders benehme, denn es hat sowohl meinen Beutel wie meine Seele betroffen. Bei den derzeitige­n Fellpreise­n auf dem Londoner Markt und einer ungefähren Schätzung, was wir heute nachmittag gefangen hätten, wenn die ,Macedonia‘ es uns nicht weggeschna­ppt hätte, hat die ,Ghost‘ etwa 1500 Dollar eingebüßt.“

„Und das sagen Sie so ruhig“, begann sie.

„Aber ich bin nicht ruhig; ich könnte den Mann töten, der mich beraubt hat“, unterbrach er sie.

»56. Fortsetzun­g folgt

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