Am Hoden zerstört
Justiz Heinz D. bietet im Internet Kastrationen an. Das Problem: Er ist nicht Arzt, sondern Elektriker. Nun steht der 66-Jährige vor Gericht. Denn bei einer Razzia gibt es noch eine ganz böse Überraschung
München Es gibt Geschichten, bei denen will man jedes Detail wissen. Dies ist nicht so eine Geschichte. Denn die genauen Einzelheiten sind teils zu verstörend, als dass sie ausführlich beschrieben werden könnten. Wir erzählen die Geschichte trotzdem. Weil sie zu aufwendigen Ermittlungen der Polizei geführt hat. Weil zurzeit eine öffentliche Gerichtsverhandlung darüber stattfindet. Weil sie unfassbare Einblicke in eine bizarre, fremde Welt gibt. Und weil es um Menschenleben geht.
Das Ehepaar S.* aus dem Landkreis Günzburg hat ein Problem. Thomas S. ist süchtig nach Pornofilmen. Das missfällt ihm und seiner Frau zunehmend. Die beiden suchen Hilfe, und wie das heute häufig so ist, beginnen sie damit im Internet. In einem Forum stoßen sie Anfang 2019 auf Heinz D. aus der Nähe von München. Der behauptet, er könne die Pornosucht von Thomas S. heilen. Nach dem ersten Kennenlernen diskutiert vor allem Frau S. über soziale Netzwerke mit Heinz D., wie die vermeintliche Krankheit geheilt werden kann. Dabei wird klar: D. will es mit operativen Eingriffen an den Genitalien des Pornosüchtigen versuchen.
Schon knapp zwei Wochen später kommt es zum ersten „Hausbesuch“bei dem Ehepaar. Und es kommt zum ersten Eingriff: D. durchtrennt einen großen Nerv am Penis seines „Patienten“und verätzt die Nervenenden mit einer nicht näher bekannten Säure. Doch die Pornosucht geht davon nicht weg.
Unbeirrt begibt sich Thomas S. in der Folgezeit vier weitere Male bei Heinz D. in Behandlung. Das große Problem: D. ist kein Arzt. Er ist auch kein Rettungssanitäter oder Krankenpfleger oder irgendetwas, was im Entferntesten mit Medizin zu tun hat. Heinz D., 66, ist Elektriker.
Er hat Schulden, als er im Jahr 2018 zufällig von einem Arbeitskollegen erfährt, dass im Internet sadistische und masochistische Sexualpraktiken angeboten werden und dass sich damit eine Menge Geld verdienen lässt. Er beschließt, so etwas selbst anzubieten. Das Geschäft läuft nicht so schlecht. Ein- bis zweimal im Monat traktiert er Kunden mit Stromstößen, Nadeln oder Schlägen und kassiert dafür jeweils 250 bis 400 Euro. Irgendwann entschließt sich Heinz D. dann, zusätzlich zu den Sadomaso-praktiken massive operative Eingriffe anzubieten. Das Angebot findet Interessenten. Mehrere Männer wenden sich an D. Einer will sich
einem inneren Zwang von seinen Hoden trennen, ein anderer hält sich für transsexuell und will zur Frau werden, wieder ein anderer möchte fürderhin als Eunuch leben. Männer, die aus unterschiedlichen Gründen ihre Hoden loswerden wollen, landen beinahe zwangsläufig in dubiosen Internetforen. In Deutschland dürfen Ärzte kein intaktes, gesundes Körperteil nur auf Basis eines Wunsches entfernen.
In diesem konkreten Fall begeben sie sich alle in die Hände von Heinz D. Es kommen Skalpelle, Nadeln und Zangen zum Einsatz. Oft in seiner Wohnung auf dem Küchentisch. Und immer wird es sehr blutig.
D. verschweigt den Kunden, dass er keine entsprechende Ausbildung hat, und gibt stattdessen vor, er sei Rettungssanitäter oder flöge einen Rettungshubschrauber. Ein Koffer unklarer Herkunft mit medizinischem Werkzeug und lokalen Betäubungsmitteln macht zusätzlich Eindruck. Auch auf Thomas S. aus dem Landkreis Günzburg. Da dessen Pornosucht ein hartnäckiger Fall zu sein scheint, trennt ihm D. im März 2019 mit einer Zwickzange circa drei Zentimeter des Penis ab, inklusive der
Eichel. S. verblutet beinahe durch den unsachgemäßen Eingriff. Doch erst auf das Drängen der Frau fährt D. mit ihm ins Augsburger Klinikum, wo die Wunde versorgt und S. tagelang behandelt wird. Dennoch geht S. danach noch ein weiteres Mal zu dem gefährlichen Hochstapler: Nach der letzten Operation hat er Probleme beim Urinieren und bittet D. um eine Verlegung der Harnröhre. Die scheitert. Insgesamt kassiert D. 600 Euro Honorar.
Trotz der massiven operativen Eingriffe und der Lebensgefahr ist Thomas S. nicht unzufrieden mit der „Behandlung“. Denn seine Pornosucht scheint tatsächlich geheilt. Andere Kunden sind weniger glücklich. Es kommt zu Strafanzeigen und zu einer Durchsuchung bei Heinz D. Und da erleben die Ermittler im März 2020 eine ganz böse Überraschung. Neben Chat-protokollen auf den Rechnern und dem ominösen Behandlungskoffer stoßen sie auf einen großen Karton. Ursprünglich war darin ein Kinderwagen. Jetzt liegt darin die Leiche eines Mannes.
Die Ermittlungen ergeben, dass sich der Kunde an D. mit dem Wunsch nach einer Hodenentferaus nung gewandt hatte. Der Elektriker nimmt sich dessen an. Zunächst foltert er den Mann mit Stromstößen im Genitalbereich, danach schneidet er beide Hoden heraus. Doch in den Tagen darauf verschlechtert sich der Zustand des „Patienten“dramatisch. Mit letzter Kraft unterschreibt er eine Vorsorgevollmacht für D. und bestellt ihn damit zu seinem Vormund. Dem selbst ernannten Operateur soll zu diesem Zeitpunkt klar sein, dass sein Kunde sich in Lebensgefahr befindet. Doch er unternimmt nichts. Der Mann stirbt – laut Anklage in der Obhut des Elektrikers.
Die Staatsanwaltschaft wirft D. Mord durch Unterlassen sowie schwere und gefährliche Körperverletzung vor. Der Prozess hat am Donnerstag vor dem Landgericht München II begonnen. D. gibt zu, dass er zwischen Juli 2018 und März 2020 acht Männer verstümmelt hat. Motiv: Er wollte seine Schulden begleichen. Mit dem Tod des einen „Patienten“habe er „absolut nichts zu tun“, sagt Heinz D. Die Staatsanwaltschaft glaubt, dass D. in gewissem Maße auch Freude an den körperlichen Eingriffen empfand.
*Namen geändert