Neu-Ulmer Zeitung

Wie politisch ist „Squid Game“?

- VON FABIAN KRETSCHMER

Hintergrun­d Umstritten, spannend und brutal: „Squid Game“bricht sich derzeit als erfolgreic­hste Streaming-serie der Welt internatio­nal Bahn.

Nicht alle erkennen darin sofort die beißende Gesellscha­ftskritik am Südkorea von heute. Was hinter der Serie und ihrem Erfolg steckt

Seoul Als am Samstagabe­nd Dunkelheit über Itaewon einbrach, dem Ausgehvier­tel der südkoreani­schen Hauptstadt, zeigte sich das exzessive Nachtleben der Metropole erstmals wie vor der Pandemie. Zehntausen­de junge Menschen bevölkerte­n die engen Gassen, um in Irish Pubs und Nachtclubs „Halloween“zu feiern. Dominierte­n in den letzten Jahren noch Krankensch­wester-kostüme und Vampir-masken das Straßenbil­d, schienen diesmal die meisten Partygänge­r direkt aus dem Filmset von „Squid Game“zu entstammen: die Männer als rote Gefängnisw­ärter mit schwarzen Masken und umgehängte­n Maschinenp­istolen, die Frauen als gelb-orange gekleidete Grusel-puppen.

Kein Wunder, dass sich die Serie auch im Alltag der koreanisch­en Hauptstadt niederschl­ägt: Die Serie ist mit rund 150 Millionen Zuschauern der bislang größte Erfolg des Streaming-giganten Netflix, fünf Millionen neue Zuschauer soll „Squid Game“dem Us-unternehme­n gebracht haben. Erfunden und produziert wurde die Gesellscha­ftssatire nicht zufällig in Südkorea. Künstleris­ch gesprochen entwarf Autor und Regisseur Hwang Donghyuk eine sogenannte Dystopie – das düstere Gegenstück der Utopie. Politisch traf er den Nerv seines Heimatland­es, dass in Südkorea bereits tausende Gewerkscha­ftsmitglie­der in „Squid-game“-kostümen gegen schlechte Arbeitsbed­ingungen, Billiglöhn­e und Turbokapit­alismus demonstrie­rt haben.

Der Plot von „Squid Game“ist schnell nacherzähl­t: Die Serie handelt von knapp 500 Menschen, die zwar aus den unterschie­dlichsten gesellscha­ftlichen Hintergrün­den stammen, sich aber allesamt hoch verschulde­t haben. Sie treten in neun Folgen bei scheinbar harmlosen Kinderspie­len gegeneinan­der an, um dort Preisgelde­r in Millionenh­öhe zu gewinnen - und von ihren finanziell­en Nöten erlöst zu werden. Doch der makabre Wettbewerb duldet keine zweite Chance: Wer es nicht in die nächste Runde schafft, wird umgehend getötet und die Leiche zur Organgewin­nung weitervera­rbeitet.

Wie sehr die Allegorie auf Sozialdarw­inismus und Ellbogenge­sellschaft den universale­n Zeitgeist trifft, lässt sich an den internatio­nalen Reaktionen ablesen. In den VerStaaten und Großbritan­nien meldet der Online-sprachdien­st „Duolingo“einen plötzliche­n Boom an Koreanisch-kursen. Von Belgien bis Deutschlan­d imitieren Schüler auf Pausenhöfe­n die Spiele aus der Serie. In China, dessen Internetze­nsur „Squid Game“bisher gesperrt hat, wurde die Internet-piraterie auf illegalen Streaming-seiten zu einem derart großen Problem, dass sich zuletzt sogar Südkoreas Botschafte­r in Peking zu Wort gemeldet hat. Und selbst Nordkorea konnte angesichts des weltweiten Erfolgs nicht länger schweigen: Die Serie würde beweisen, dass Südkoreas Gesellscha­ft „infiziert“sei von „Korruption, Sittenlosi­gkeit und dem Überleben des Stärkeren“, schreibt die Staatsprop­aganda.

Wenn man die Serie als realistisc­hes Porträt einer Gesellscha­ft lesen würde, dann träfe eine solche Kritik durchaus zu. Man schaue nur einmal auf Seong Gi-hun, den spielsücht­igen Protagonis­ten von „Squid Game“, der in einer herunterge­Kellerwohn­ung im Norden Seouls wohnt: Er hat seine Arbeitsste­lle verloren, wurde von seiner Frau verlassen und hat kaum Erspartes, um sich um seine Tochter zu kümmern. Mit seinem Schicksal sieht er keine andere Wahl: Er muss beim Todesspiel mitmachen, um wieder Boden unter den Füßen zu bekommen. Natürlich ist die Handlung nur als Metapher auf den sozialen Überlebens­kampf zu verstehen. Doch dieser wird in der Tat in Südkorea deutlich härter ausgetrage­n als in europäisch­en Wohlfahrts­staaten.

Südkorea war nach dem Koreakrieg (1950-53) eines der ärmsten Länder der Welt, das Bruttoinla­ndsprodukt vergleichb­ar mit Ghana. In nur einer Generation schuftete sich die Bevölkerun­g des ostasiatis­chen Tigerstaat­s unter unglaublic­her Aufopferun­g zu Wohlstand und nationalem Selbstbewu­sstsein: Südkorea hat mittlerwei­le das zehntgrößt­e Bruttoinla­ndsprodukt aller Staaten der Welt. Doch der vielleicht rasaneinig­ten Wirtschaft­saufstieg des 21. Jahrhunder­ts hat viele gesellscha­ftliche Narben hinterlass­en: Wachsende Ungleichhe­it, fehlende soziale Absicherun­g, hohe Haushaltss­chulden, Konformitä­tszwang und ein ungemeiner Leistungsd­ruck sind nach wie vor verantwort­lich dafür, dass das Land seit der Jahrtausen­dwende fast durchgängi­g die höchste Suizidrate aller Oecd-länder aufweist.

Zudem kennt Südkorea keine Gesellscha­ft, die zweite Chancen zulässt: Wer sich im Wettkampf um die begehrten Universitä­tsplätze durchsetze­n kann, dem winkt ein gut bezahlter Arbeitspla­tz bei den großen Mischkonze­rnen á la Samsung und Hyundai. Der große Rest hingegen profitiert oft kaum vom neugewonne­nen Wohlstand des Landes. Lange Jahre versuchte die Unterhaltu­ngsindustr­ie die sozialen Übel in kitschigen Romanzen und albernen Komödien unter den Teppich zu kehren.

Doch längst stellt sich die konfukomme­nen zianisch geprägte Gesellscha­ft immer mehr den eigenen Problemen, wie sie allesamt in „Squid Game“widergespi­egelt werden. „Ein Grund, warum das rekordverd­ächtige Hit-drama von Netflix bei so vielen Menschen Anklang fand, ist, dass es auch ein sozialer Kommentar zu realen Vorfällen in Korea ist“, schreibt die Tageszeitu­ng Korea Herald. In einem Interview sagte der 50-jährige Regisseur Hwang Donghyuk, dass er das „Überlebens­spiel als eine Metapher, eine Parabel für die moderne kapitalist­ische Gesellscha­ft“darstellen wollte.

Dem Serienerfi­nder und dem Produzente­n Netflix kommt allerdings auch zugute, dass die Regierung in Seoul seit Ende der neunziger Jahre gezielt den Kulturexpo­rt als wirtschaft­liche Wachstumsb­ranche fördert. Der Erfolg des südkoreani­schen „K-pop“und der „K-dramas“entsprang der Asienkrise Ende der neunziger Jahre, als das Land am Han-fluss von Massenarbe­itslosigke­it und stagnieren­teste den Exporten tief getroffen wurde. „Hätte es keine Krise gegeben, wäre es wohl nie zur koreanisch­en Welle gekommen“, schreibt die Autorin Euny Hong in ihrem vielbeacht­eten Buch „The Birth Of Korean Cool“.

Als Lösung stieß der 1998 gewählte Präsident Kim Dae-jung einen Prozess an, den Autorin Euny Hong als „wohl größte nationale Image-kampagne in der Weltgeschi­chte“beschreibt. Das immer noch recht abgeschott­ete Land der Morgenstil­le solle künftig der globalen Gemeinscha­ft beitreten - und die Popkultur würde diese Botschaft in die Welt hinaustrag­en.

Rückblicke­nd war es ein Geniestrei­ch, in den Kulturexpo­rt einzusteig­en. Südkorea verfügt über kaum nennenswer­te natürliche Ressourcen, dafür aber über eine extrem gebildete, krisenerfa­hrene und wandlungsf­ähige Bevölkerun­g. Doch gleichzeit­ig hatte man mit einem

In keinem Industriel­and ist die Selbstmord­rate höher

ernsthafte­n Image-problem zu kämpfen. Im Ausland verbanden die Leute Korea mit emsigen Samsungang­estellten, aber keinesfall­s mit hippen Popikonen.

Erstmals sorgten schließlic­h koreanisch­e Arthouse-regisseure wie Park Chan-wook („Old Boy“), Bong Joon-ho („the Host“) und Kim Ki-duk („Seom - die Insel“) beim europäisch­em Publikum für Respekt. In Asien hingegen kamen vor allem der zuckersüße Pop der „Girls Generation“gut an, auch die kitschigen Seifenoper­n liefen schon bald im Hauptabend­programm. Den tatsächlic­hen Durchbruch der koreanisch­en Welle schafften spätestens BTS: Die Boyband gilt weltweit als erfolgreic­hste ihrer Art.

Die neu gewonnene Soft Power hat das Stadtbild von Seoul verändert. Das Hongik-universitä­tsviertel und die Ausgehmeil­e Itaewon sind längst voll von europäisch­en Austauschs­tudentinne­n und jungen Kreativen, die es aufgrund der Faszinatio­n für koreanisch­e Popmusik, Modedesign und Fernsehser­ien nach Ostasien gezogen hat. „Squid Game“reitet ebenfalls nun auf dieser koreanisch­en Welle und beweist das Kunststück, dass Südkorea nicht nur mit Plastikpop und seichter Unterhaltu­ng erfolgreic­h ist, sondern auch mit beißender und vor allem selbstkrit­ischen Gesellscha­ftssatire.

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 ?? Foto: Ahn Young‰joon, dpa ?? Mitglieder des südkoreani­schen Gewerkscha­ftsbundes demonstrie­ren in „Squid Game“‰kostümen bei einem landesweit­en Streik in Südkorea gegen schlechte Arbeitsbed­in‰ gungen und unsichere Jobs, in dem von sozialen Konflikten geprägten südasiatis­chen Tigerstaat.
Foto: Ahn Young‰joon, dpa Mitglieder des südkoreani­schen Gewerkscha­ftsbundes demonstrie­ren in „Squid Game“‰kostümen bei einem landesweit­en Streik in Südkorea gegen schlechte Arbeitsbed­in‰ gungen und unsichere Jobs, in dem von sozialen Konflikten geprägten südasiatis­chen Tigerstaat.

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