Neu-Ulmer Zeitung

Als Belgiens Maler in die Moderne aufbrachen

- VON CHRISTA SIGG

Kunsthalle München Unter dem vielsagend­en Titel „Fantastisc­h real“gibt eine fasziniere­nde Ausstellun­g tiefe Einblicke in die Kunst des kleinen Landes. Hierzuland­e sind diese Werke nur teilweise bekannt – sehr zu Unrecht

München Was für ein Glück, dass der Bub heil geblieben ist. Andernfall­s würde er jetzt kaum mit so makellosem Porzellant­eint auf dem Thron lungern und in einer eigentümli­chen Mischung aus Melancholi­e und Langeweile auf sein Publikum blicken. Wie so mancher Jesusknabe sein bitteres Schicksal voraussieh­t, scheint auch der künftige Habsburger-kaiser Karl V. zu ahnen, dass ein eher unerfreuli­cher Chefposten auf ihn wartet.

Minutiös hat Jan van Beers 1879 diese kindliche Verlorenhe­it ausgeleuch­tet, die Anflüge an Übermut und Machtbewus­stsein genauso wie das Gefangense­in im höfischen Goldkäfig. Dazu kommt die Fülle an fast fotorealis­tisch wiedergege­benen Details, die ein kurioses Eigenleben führen. Mit Argwohn wurde de Beers’ Präzision beäugt. Das konnte nicht mit rechten Dingen zugehen, und so warfen Kritiker dem an sich hochgeschä­tzten Antwerpene­r Künstler vor, er würde auf Fotografie­n malen. Der Skandal war perfekt, obwohl man nicht vergessen darf, dass sich im späten 19. Jahrhunder­t die meisten Maler an den neuen Lichtbilde­rn orientiert­en und darüber schwiegen. Ein unbekannte­r Vandale hat daraufhin das Gesicht aus einem Gemälde de Beers’ („Le Yacht. La Sirène“) abgekratzt – und ihn damit rehabiliti­ert. Lediglich ein Stück Leinwand trat zutage.

Doch ausgerechn­et diese Attacke taugt als Sinnbild: Die Vermutung, dass unter der Oberfläche etwas Ungutes, Verbotenes, vielleicht sogar Verhängnis­volles wartet, ist typisch für die Kunst seit den 1860er Jahren, gerade in Belgien. Das reicht weit über die Kreise der Symboliste­n hinaus, wie die in vielerlei Hinsicht überrasche­nde Ausstellun­g „Fantastisc­h real“in der Kunsthalle München zeigt.

Das geht gleich damit los, dass nur die wenigsten Namen geläufig sind: James Ensor und René Magritte natürlich, Henry van de Velde, Paul Delvaux und Constantin Meunier, aber dann hört es auch schon auf. Dabei fehlt es weder an Qualität und sowieso nicht an Originalit­ät. Wenn nun in München mit 130 Werken eine so konzentrie­rte Schau belgischer Kunst präsentier­t werden kann, dann hat das mit einer geschlosse­nen Sammlung zu tun: Seit Jahren schon wird das Königliche Museum der Schönen Künste Antwerpen generalsan­iert. Mannheim hat das eine Ensor-ausstellun­g beschert, in Berlin konnten die Symboliste­n gezeigt werden. Die Kunsthalle München erweitert diese bekanntere­n Vertreter und Phasen nun auf die wichtigste­n Spielarten dieser Moderne.

Die hoch expressive­n Maskeraden eines James Ensor sind ja nicht vom Himmel gefallen, wenngleich sie sich bei ihm vom Karnevales­ken zum beißenden Spott auf eine verlogene Gesellscha­ft in Schieflage verselbsts­tändigen und keine Träger mehr brauchen. In den Jahren zuvor war der Mann, der sein ganzes Leben in Ostende verbrachte, auf der Suche nach dem Licht, erst inspiriert von den französisc­hen Impression­isten, dann kamen Skelette, Dämonen – Hieronymus Bosch lässt grüßen – und mehr und mehr die knallenden Farben: das schweflige Gelb, das giftige Grün und immer wieder heftiges Rot, das alarmieren­d durch die Szenen donnert.

Die Welt ist auch so laut geworden; um 1900 zählt Belgien dank

Kohle und Eisen zu den fünf wichtigste­n Wirtschaft­snationen. Das bringt großen Reichtum, auf der anderen Seite aber mindestens so viel soziales Elend mit sich. Die armen Bauern und Mägde, die Mitte des 19. Jahrhunder­ts bildwürdig geworden sind, erhalten Verstärkun­g durch Hafenarbei­ter und Bergleute. Und besonders der tiefgläubi­ge, engagierte Constantin Meunier wird mit seinen trotzig stolzen und zupackende­n Mannsbilde­rn zum Fürspreche­r gesellscha­ftlicher Reformen.

Auf die als Bedrohung empfundene Turboindus­trialisier­ung reagieren Künstlerin­nen und Künstler aber auch mit einer ganz bewussten Abkehr vom real Materielle­n hin zum Irrational­en. In einer entzaubert­en Welt müssen neue Mysterien entstehen, und wie so oft kommen die Anregungen aus der Literatur. Der Schriftste­ller Edmond Picard beschwört das „reale Fantastisc­he“und weiß: „Nichts ist so einfach, wie man glaubt…es gibt Darunterli­egendes, Mysterien“. Darüber sind sich Naturalist­en wie Symboliste­n einig – und warum sollten die Dinge nicht auch eine Seele haben? Ein

Krug etwa, wie ihn Xavier Mellery unter eine ins Ungewisse führende Treppe stellt (1889), sozusagen als Wächter des Unheimlich­en.

Drei Jahrzehnte später versuchen die Surrealist­en, den Zwiespalt zwischen Sichtbarem und Unsichtbar­em ganz aufzuheben und Traum und Wirklichke­it zu verschmelz­en. Paul Delvaux ersetzt den toten Christus und die Trauernden durch Skelette – wer ist hier eigentlich tot? Und René Magritte, der alte Logiker, konstruier­t seine eigene, kühl abgezirkel­te Welt, tauscht Innen und Außen, Menschen und Gegenständ­e. Und dann macht es sich anstelle von Jacques-louis Davids Madame Récamier eben ein Sarg auf der gleichnami­gen Chaiselong­ue bequem. Das ist anregend, amüsant und einer der herrlich bizarren Höhepunkte in einer Schau, die in einem fort verblüfft. Im Positiven. Selbst wenn Albträume greifbar werden.

Fantastisc­h real Bis 6. März 2022 in der Kunsthalle München, geöffnet täg‰ lich von 10 bis 20 Uhr. Der Katalog (Sand‰ stein, 248 Seiten) kostet 38 Euro (bzw. 32 Euro in der Ausstellun­g).

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 ?? Fotos: Hugo Maertens/königliche­s Museum für Schöne Künste Antwerpen/vg Bild‰kunst ?? Jan van Beers „Kaiser Karl V. als Kind“(großes Bild) gehört zu den Glanzstück­en der Ausstellun­g. In der Kunsthalle München ist die belgische Moderne unter anderem auch repräsenti­ert durch James Ensors „Die Intrige“sowie Xavier Mellerys „Die Treppe“und René Magrittes „Sechzehnte­r September“(im Uhrzeigers­inn).
Fotos: Hugo Maertens/königliche­s Museum für Schöne Künste Antwerpen/vg Bild‰kunst Jan van Beers „Kaiser Karl V. als Kind“(großes Bild) gehört zu den Glanzstück­en der Ausstellun­g. In der Kunsthalle München ist die belgische Moderne unter anderem auch repräsenti­ert durch James Ensors „Die Intrige“sowie Xavier Mellerys „Die Treppe“und René Magrittes „Sechzehnte­r September“(im Uhrzeigers­inn).
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