Selbst in der Zelle wird getanzt
Staatstheater Augsburg Das Ballett glänzt mit zwei Uraufführungen. Es geht um Enge, auch um Corona, vor allem aber um das Tanzen an sich
Augsburg Erst fangen die Scheinwerfer an zu tanzen, knapp über dem Boden, um dann den Tänzerinnen und Tänzern den Platz zu geben. Die stürmen fast auf die Bühne, füllen mit ein paar ausladenden Bewegungen den Raum und schreien gemeinsam laut und lang. Ein früher Schockmoment, später noch einmal wiederholt in Patrick Delcroix’ neuer Choreografie „bel inconnu“. Woraufhin ein Reigen an Duetten einsetzt, die sich wie eine unendliche, eine einzige Bewegung immer weiter fortsetzen, einmal in Schwung gekommen. Denn Bewegung, so scheint es Delcroix sagen zu wollen, ist etwas, das allein schnell ins Leere läuft, während zwei gar nicht mehr aufhören können, sich neu zu befeuern.
Am Staatstheater Augsburg stürzt sich das Ballett in diesen doppelten Uraufführungsabend „Creations“auf der Brechtbühne im ehemaligen Gaswerk, als ob es sonst nichts mehr für die Compagnie zu tanzen gäbe – präzise und präsent, dabei wunderbar spielend mit der Zeit und dem Tempo, das ansatzlos von Hochgeschwindigkeitsabfolgen ins Zeitlupentempo herabgesenkt wird, um im nächsten Moment wieder die Augen des Publikums an den Rand der Wahrnehmung zu führen. Das schöne Unbekannte, Delcroix spürt ihm nach. Hier gibt er Andeutungen. Ein Text wird gesprochen, in dem ein Er über das offene Feld geht – er geht, verlässt, „Vergib mir“, heißt es in einem Song. Also eine Liebesgeschichte, die Delcroix da im Sinn hat? Aber so einfach macht er es seinem Publikum nicht, denn Tanz ist bei ihm nicht nur Mimikry, nicht nur Nachahmen von Welt, sondern eine Ausdrucksform, die sich selbst genügt.
Und weil er das zu der eingängigen, poetischen, manchmal auch beschwörenden Musik, die mal mit Streichern schwelgt und mal schwer nach vorne treibt, in der Schwebe hält, offen lässt, das Unbekannte, um das es geht, nicht benennt, vielleicht ja doch der Mann, der geht?, bleibt da viel Offenheit und Raum erhalten, um zu sehen, einzutauchen, auch zu staunen – über die fließenden Übergänge, diese fast schon symbiotisch miteinander agierenden Körper, in denen zwei immerfort zu einem verschmelzen wollen. Aber jeder Versuch, anzuhalten, führt zu neuen Berührungen, die neue Bewegungen hervorrufen. Applaus, lang und laut.
Nach der Pause wird es in Mauro
Astolfis neuer Choreografie „Poco“anschaulicher. „Wenig“, lautet der Titel übersetzt und spielt da schon auch auf diese Corona-zeit an, die reduzieren, herunterfahren, einschränken, nicht treffen, immer und immer wieder eingefordert hat. Wenig, das ist erst einmal wenig Raum, auf dem die Tänzerinnen und Tänzer sich bewegen dürfen. Nur an der
Wand, später dann zwischen zwei großen Kuben oder auf einem Quadrat aus Licht.
Erst sieht es aus, als ob dieser Mann da wie eine Marionette an der Wand bewegt wird. Kein Platz in seinem Office, keine Muße mehr zur Bewegung, ein Objekt der Umstände. Ruckartig wirkt das, gestört in allen natürlichen Abläufen. Und das wird variiert. Aus dem Solo werden Duette, aus der Wand Räume, die von Scheinwerfern am Boden abgesteckt werden. Oder plastisch auch zwei Kuben auf der Bühne, die sich zu einer Seite als Mini-raum öffnen.
Wie eine Zelle schaut der erste aus. Nur ein Stockbett darin und furchtbar wenig Platz. Aber die beiden Männer, die eingesperrt sind, gehen sich nicht an die Gurgel, versuchen sich ständig aus dem Weg zu gehen, auch wenn das auf ein paar Quadratmetern eigentlich nicht nötig ist. Und spiegelbildlich ist es im zweiten Kubus ein wenig später ein Paar, Mann und Frau, das in dieser Enge auch nur bedingt zueinanderfindet.
Wie eine Soundcollage funktioniert die Musik, die Astolfi zusammengestellt hat. Geräusche wie das Vogelzwitschern, das von außen in die Enge hereindringt, gehen fließend über in reduzierte, aber stark aufgeladene Musik. Immer wieder reagiert das Publikum auf die komischen Situationen. Denn Astolfi schafft surreale Momente der Entschleunigung, indem er Tänzerinnen nur bedingt auftreten lässt und sie wie von Geisterhand bewegt schweben oder von der Bühne ziehen lässt.
Dann hat Astolfi auch einen Spannungsbogen angelegt, denn wenn die Enge am Ende noch nicht Geschichte ist: Von den ruckhaften, fast schon krankhaften Bewegungen zu Beginn ist am Ende nichts mehr übrig. Da sitzen die Tanzenden an einem kleinen Tisch und versuchen, das Beste aus der Wenig-situation zu machen. Auch hier, Applaus, langer Jubel, am Ende für zwei geglückte, gelungene, packende Uraufführungen am Staatstheater Augsburg.
Wieder am 7., 20., 21. November.