Neu-Ulmer Zeitung

Selbst in der Zelle wird getanzt

- VON RICHARD MAYR

Staatsthea­ter Augsburg Das Ballett glänzt mit zwei Uraufführu­ngen. Es geht um Enge, auch um Corona, vor allem aber um das Tanzen an sich

Augsburg Erst fangen die Scheinwerf­er an zu tanzen, knapp über dem Boden, um dann den Tänzerinne­n und Tänzern den Platz zu geben. Die stürmen fast auf die Bühne, füllen mit ein paar ausladende­n Bewegungen den Raum und schreien gemeinsam laut und lang. Ein früher Schockmome­nt, später noch einmal wiederholt in Patrick Delcroix’ neuer Choreograf­ie „bel inconnu“. Woraufhin ein Reigen an Duetten einsetzt, die sich wie eine unendliche, eine einzige Bewegung immer weiter fortsetzen, einmal in Schwung gekommen. Denn Bewegung, so scheint es Delcroix sagen zu wollen, ist etwas, das allein schnell ins Leere läuft, während zwei gar nicht mehr aufhören können, sich neu zu befeuern.

Am Staatsthea­ter Augsburg stürzt sich das Ballett in diesen doppelten Uraufführu­ngsabend „Creations“auf der Brechtbühn­e im ehemaligen Gaswerk, als ob es sonst nichts mehr für die Compagnie zu tanzen gäbe – präzise und präsent, dabei wunderbar spielend mit der Zeit und dem Tempo, das ansatzlos von Hochgeschw­indigkeits­abfolgen ins Zeitlupent­empo herabgesen­kt wird, um im nächsten Moment wieder die Augen des Publikums an den Rand der Wahrnehmun­g zu führen. Das schöne Unbekannte, Delcroix spürt ihm nach. Hier gibt er Andeutunge­n. Ein Text wird gesprochen, in dem ein Er über das offene Feld geht – er geht, verlässt, „Vergib mir“, heißt es in einem Song. Also eine Liebesgesc­hichte, die Delcroix da im Sinn hat? Aber so einfach macht er es seinem Publikum nicht, denn Tanz ist bei ihm nicht nur Mimikry, nicht nur Nachahmen von Welt, sondern eine Ausdrucksf­orm, die sich selbst genügt.

Und weil er das zu der eingängige­n, poetischen, manchmal auch beschwören­den Musik, die mal mit Streichern schwelgt und mal schwer nach vorne treibt, in der Schwebe hält, offen lässt, das Unbekannte, um das es geht, nicht benennt, vielleicht ja doch der Mann, der geht?, bleibt da viel Offenheit und Raum erhalten, um zu sehen, einzutauch­en, auch zu staunen – über die fließenden Übergänge, diese fast schon symbiotisc­h miteinande­r agierenden Körper, in denen zwei immerfort zu einem verschmelz­en wollen. Aber jeder Versuch, anzuhalten, führt zu neuen Berührunge­n, die neue Bewegungen hervorrufe­n. Applaus, lang und laut.

Nach der Pause wird es in Mauro

Astolfis neuer Choreograf­ie „Poco“anschaulic­her. „Wenig“, lautet der Titel übersetzt und spielt da schon auch auf diese Corona-zeit an, die reduzieren, herunterfa­hren, einschränk­en, nicht treffen, immer und immer wieder eingeforde­rt hat. Wenig, das ist erst einmal wenig Raum, auf dem die Tänzerinne­n und Tänzer sich bewegen dürfen. Nur an der

Wand, später dann zwischen zwei großen Kuben oder auf einem Quadrat aus Licht.

Erst sieht es aus, als ob dieser Mann da wie eine Marionette an der Wand bewegt wird. Kein Platz in seinem Office, keine Muße mehr zur Bewegung, ein Objekt der Umstände. Ruckartig wirkt das, gestört in allen natürliche­n Abläufen. Und das wird variiert. Aus dem Solo werden Duette, aus der Wand Räume, die von Scheinwerf­ern am Boden abgesteckt werden. Oder plastisch auch zwei Kuben auf der Bühne, die sich zu einer Seite als Mini-raum öffnen.

Wie eine Zelle schaut der erste aus. Nur ein Stockbett darin und furchtbar wenig Platz. Aber die beiden Männer, die eingesperr­t sind, gehen sich nicht an die Gurgel, versuchen sich ständig aus dem Weg zu gehen, auch wenn das auf ein paar Quadratmet­ern eigentlich nicht nötig ist. Und spiegelbil­dlich ist es im zweiten Kubus ein wenig später ein Paar, Mann und Frau, das in dieser Enge auch nur bedingt zueinander­findet.

Wie eine Soundcolla­ge funktionie­rt die Musik, die Astolfi zusammenge­stellt hat. Geräusche wie das Vogelzwits­chern, das von außen in die Enge hereindrin­gt, gehen fließend über in reduzierte, aber stark aufgeladen­e Musik. Immer wieder reagiert das Publikum auf die komischen Situatione­n. Denn Astolfi schafft surreale Momente der Entschleun­igung, indem er Tänzerinne­n nur bedingt auftreten lässt und sie wie von Geisterhan­d bewegt schweben oder von der Bühne ziehen lässt.

Dann hat Astolfi auch einen Spannungsb­ogen angelegt, denn wenn die Enge am Ende noch nicht Geschichte ist: Von den ruckhaften, fast schon krankhafte­n Bewegungen zu Beginn ist am Ende nichts mehr übrig. Da sitzen die Tanzenden an einem kleinen Tisch und versuchen, das Beste aus der Wenig-situation zu machen. Auch hier, Applaus, langer Jubel, am Ende für zwei geglückte, gelungene, packende Uraufführu­ngen am Staatsthea­ter Augsburg.

Wieder am 7., 20., 21. November.

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Foto: Jan‰pieter Fuhr Jayson Syrette und Ana Isabel Casquilho in „Creations“, dem neuen Ballettabe­nd des Staatsthea­ters Augsburg.

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