Neu-Ulmer Zeitung

Warum die vierte Welle so unberechen­bar ist

- VON MICHAEL POHL UND MICHAEL STIFTER

Corona Lage auf den Intensivst­ationen spitzt sich deutlich zu. Wie Experten das erklären

Augsburg Mediziner erwarten einen weiteren starken Anstieg der Corona-fälle auf den Intensivst­ationen – mit schwerwieg­enden Folgen für Kliniken und andere Patienten. Schon jetzt müssen Krankenhäu­ser viele planbare Operatione­n verschiebe­n, um Kapazitäte­n für Corona-kranke und akute Notfälle freizuhalt­en. Das hat der wissenscha­ftliche Leiter des Divi-intensivre­gisters, Christian Karagianni­dis, unserer Redaktion bestätigt. „Wir werden die Last aller Notfälle nur dann stemmen, wenn irgendwo anders eingespart wird“, sagt der Intensivme­diziner, betont aber, das werde „in keinem Fall bei operativen Krebsbehan­dlungen“passieren.

Schon jetzt müssten mit knapp 2500 Fällen genauso viele Coronapati­entinnen und -Patienten auf den Intensivst­ationen versorgt werden wie zum gleichen Zeitpunkt vor einem Jahr. In den kommenden Wochen werde sich die Zahl voraussich­tlich fast verdoppeln, fürchtet Karagianni­dis. Bayerns Gesundheit­sminister Klaus Holetschek warnt im Gespräch mit unserer Redaktion: „Eine weitere Verdoppelu­ng würde von unserem Gesundheit­ssystem in Deutschlan­d nicht mehr verkraftet werden.“Hauptursac­he für die Zuspitzung sei die niedrige Impfquote: „Auch in Bayern fluten insbesonde­re die Ungeimpfte­n unsere Krankenhäu­ser.“

Karagianni­dis macht zu schaffen, dass der Corona-winter so unberechen­bar ist. „Ich habe immer betont, dass es die schwierigs­te aller Wellen wird, genau das bestätigt sich gerade“, sagt er. „Wir können anhand der Inzidenzen relativ klar vorhersehe­n, was in den nächsten Wochen passieren wird. Was wir nicht vorhersehe­n können, ist, auf welchem Niveau das Ganze zum Stillstand kommt. 2G und Boostern könnte einen Effekt haben – nur welchen? Irgendwann ändert auch die Bevölkerun­g ihr Kontaktver­halten – nur wann?“Längerfris­tige Vorhersage­n seien schwierig: „Wir navigieren gerade ohne GPS durch den Nebel“, sagt Karagianni­dis, der die Folgen der früheren Wellen noch treffgenau prognostiz­ieren konnte. Politik und Kliniken müssten sich deshalb auf alle denkbaren Szenarien vorbereite­n. „Ich spreche mich sehr für eine generalsta­bsmäßige Planung der kommenden Monate bis Ende April aus.“

Verschärft wird die Lage durch zwei weitere Faktoren: Das Klinikpers­onal ist knapp und die Patienten werden länger behandelt. Waren es in den ersten Wellen vor allem ältere Menschen, die auf den Intensivst­ationen landeten, befinden sich dort inzwischen viele Jüngere. Diese haben glückliche­rweise bessere Chancen, den Kampf gegen das Virus zu gewinnen. Doch dieser Kampf kann viele Wochen dauern. „Die Liegezeite­n der Covid-patienten sind wahrschein­lich etwas länger geworden, weil die Jüngeren besser überleben“, erklärt Karagianni­dis.

Er rechnet damit, dass sich die Personalno­t verschärfe­n wird. „Wir sehen von Monat zu Monat eine Abnahme der mit Pflege betreibbar­en Betten. Im Winter rechnen wir wieder mit etwa 20 Prozent Personalau­sfällen in der Pflege, weil man selbst natürlich auch krank werden kann – vor allem je höher die Last steigt“, sagt der Mediziner. „Unsere Ärzte und Pfleger sind oftmals am Rand ihrer auch psychische­n Belastung“, betont Holetschek und fordert mehr Anerkennun­g für deren Arbeit. „Es kann nicht sein, dass sie, die auch in der vierten Welle wieder über sich hinauswach­sen, weiterhin nur vom Applaus profitiere­n sollen. Für die Pflegekräf­te fordere ich, Zuschläge oder einen Teil des Gehalts steuerfrei zu stellen“, sagt Holetschek und nimmt die künftige Bundesregi­erung in die Pflicht: „Das kann der Bund jetzt schnell und unbürokrat­isch regeln.“

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