Neu-Ulmer Zeitung

Leben vor der Tür

- VON CHRISTA SIGG

Wohnungsno­t Seit Jahren steigt die Zahl der Obdachlose­n weltweit. Wie dies die Architektu­r herausford­ert, zeigt eine Ausstellun­g in der Pinakothek der Moderne in München – mit teils überzeugen­den Vorschläge­n

München Kinder bauen sich gerne ein Schachtelh­aus. Mit der Schere sind schnell Fenster ausgeschni­tten, und lustig bemalen lässt es sich auch. In Japan können dagegen Pappdomizi­le für ein bitteres Schicksal stehen, etwa in der U-bahn von Tokio. Meistens bedecken sie dann nicht einmal den Körper, sondern nur den Kopf oder besser: das Gesicht. Voller Scham tauchen Obdachlose in die Anonymität ab. Auf der Straße zu leben ist in Japan mit dem Verlust der Würde verbunden. Doch man sollte sich nichts vormachen, Wohnungslo­se sind überall unten durch. Das zeigt schon das Vokabular, das man für „solche“Menschen parat hat, der „Penner“mag da noch zum freundlich­sten gehören. Und nun hat die Pandemie eine längst nicht mehr schleichen­de Entwicklun­g noch einmal deutlich angekurbel­t. Insofern kommt die neue Ausstellun­g des Architektu­rmuseums der TU München zum richtigen Zeitpunkt, zumal sich die Frage „Who’s next?“– wer ist der Nächste? – auch nicht mehr vornehmlic­h an den äußeren Rand der Gesellscha­ft richtet.

Im geschäftig­en London zum Beispiel hat sich die Zahl der „homeless people“während der letzten zehn Jahre verdoppelt; allein zwischen 2018 und 2019 gab es einen Zuwachs um fast 20 Prozent. In New York, wo die Mieten ebenfalls irrwitzig hoch sind, haben im Vorjahr rund 120000 Menschen in städtische­n Hilfsunter­künften übernachte­t. Darunter auch viele Kinder. Im brasiliani­schen São Paulo, der größten und reichsten Stadt Südamerika­s, wurden vor 20 Jahren nahezu 9000 „sem-tetos“gezählt, 2011 schon fast 15000 und 2019 schließlic­h um die 25000 „Menschen ohne Dach“bei 12 Millionen Einwohnern.

Wenn man nun ins reiche Deutschlan­d blickt, das ein Sozialstaa­t sein will, sind die geschätzte­n 41000 Obdachlose­n wahrlich kein Ruhmesblat­t. Und vor lauter Klimawande­l, Brexit und anderer Unbill wurde wohl ein Beschluss des Europäisch­en Parlaments glatt übersehen: nämlich, dass sich die Mitgliedst­aaten verpflicht­et haben, bis 2030 Maßnahmen zur Abschaffun­g der Obdachlosi­gkeit zu ergreifen. Wohnen ist ein Grundrecht, also etwas Fundamenta­les. Doch womöglich sind noch zu wenige betroffen, von einer Verlautbar­ung der Bundesregi­erung war bislang jedenfalls nichts zu hören. Die scheidende Bundeskanz­lerin hatte lediglich 2018 versproche­n, 6,85 Milliarden Euro für die Schaffung von Wohnraum bereitzust­ellen.

Aufs Erste mögen das alles abstrakte Zahlen sein, seine Heimstatt zu verlieren, kann allerdings schneller gehen, als man für möglich hält. Eine unglücklic­he Scheidung, ein Krankheits­fall, Arbeitslos­igkeit bei Schulden und nicht weiter gewährten Krediten – das alles ist auch der Welt des Wohlstands nicht fern. wer in Lohn und Brot steht, hat deshalb noch keine bezahlbare Bleibe. Die Misere hat sich bis in die „gut funktionie­renden“Bereiche der Gesellscha­ft hinein geweitet. Dabei geht es bei vielen schon lange nicht mehr um ein „Schöner Wohnen“. Wenngleich das bei einem klugen Einsatz der Mittel obendrein sogar möglich wäre. Das demonstrie­rt diese erhellende Ausstellun­g in der Pinakothek der Moderne mit einer erstaunlic­hen Reihe von Entwürfen engagierte­r Architekte­n.

Da wäre zum Beispiel das „Vinzirast-mittendrin“, und der zweite Teil des Namens sagt gleich etwas über die Lage: nicht am Stadtrand, sondern mitten in Wien zwischen Volksoper und Schottento­r. Zehn

Wohnungen auf drei Stockwerke­n bieten Raum für 30 Personen. Zusätzlich gibt es genug Platz für Gemeinscha­ftliches, vom Studienrau­m bis zu Werkstätte­n, in denen man ein Rad reparieren kann, und sogar einem öffentlich­en Restaurant, das mittlerwei­le auch bei Anrainern und Touristen gefragt ist. Das denkmalges­chützte Biedermeie­rhaus konnte vor zehn Jahren dank einer privaten Stiftung renoviert werden, die Räume sind hell und sympathisc­h, die Zusammense­tzung aus Obdachlose­n und Studierend­en für beide Seiten ein Gewinn. Etwa an Lebenserfa­hrung.

Oder die Holmes Road Studios im Londoner Stadtviert­el Kentish Town. Das fantasievo­lle Backsteine­nsemble mit seinen bunten Türen und runden Fenstern ist absolut einladend. Architekt Peter Barber hat großen Wert darauf gelegt, dass sich Obdachlose, ehemalige Drogensüch­tige oder psychisch Kranke hier sofort wohlfühlen und mit dem Gebäude identifizi­eren. Im eigenen Garten werden Gemüse und Obst angebaut. Und auch im Pariser Neubau „La Ferme du Rail“sorgt eine Art Bauernhof mit Gewächshäu­sern für Gemeinscha­ftsgefühl und Zusammenha­lt. Mitten im 19. Arrondisse­ment kommen hier 20 sozial Ausgegrenz­te und Gartenbaus­tudis unter.

Das sind Langzeitpr­ojekte, für die schnelle Hilfe hat man sich dagegen in Ulm ein „Nest“einfallen lassen. Das ist eine Schlafkaps­el, die Obdachlose­n eine unkomplizi­erte Notunterku­nft bietet – um sie vor Kälte und überhaupt bedrohlich­em Wetter zu schützen. Die testweise aufgestell­ten Mini-behausunge­n sind gut angenommen worden, und das gerade von Menschen, die größere Institutio­nen scheuen. Ob die Kapseln wie geplant in der ganzen Stadt verteilt werden, ist noch nicht entschiede­n.

Im amerikanis­chen Seattle mit den meisten Wohnungslo­sen im Land – 13000 Menschen leben hier auf der Straße – bastelt man wiederund um an integrativ­en Lösungen. Wobei die Public Library, also die öffentlich­e Bibliothek, ein besonders überzeugen­des Modell darstellt. Die verschacht­elte Bücherburg, konzipiert von Rem Kohlhaas und Kollegen, wurde von Anfang an mit inklusivem Anspruch konzipiert. In den Lese- und Loungebere­ichen finden Obdachlose einen Zufluchtso­rt, es gibt WLAN, Computerzu­gänge und überhaupt Hilfs- und Beratungsa­ngebote.

Vergleichb­ares könnte man auch bei der Sanierung des Münchner Kulturzent­rums Gasteig andenken. Dessen Geschäftsf­ührer spricht in einer Filmeinspi­elung von der großen Anziehungs­kraft gerade der Bibliothek, und die Beobachtun­gen dürften sich in anderen Städten kaum unterschei­den. Das zeigt, dass es nicht ausschließ­lich nur um Wohn- und Schlafplät­ze geht, sondern genauso um Treffpunkt­e und Wohlfühlor­te, denn wer ständig „on the road“ist, braucht Ruhe und Rückzug. Mehr als alle anderen. Aber dieses Aufeinande­rtreffen der beiden Seiten, der Behausten und Heim(at)losen, ist vielleicht sogar die größte Schwierigk­eit. Auch wenn das natürlich keiner zugibt. Dabei müsste man noch nicht einmal das Tor zur eigenen behagliche­n Ritterburg öffnen.

Wohnungsmi­sere bis in die Mitte der Gesellscha­ft

Ausstellun­g „Who’s next? Obdachlo‰ sigkeit, Architektu­r und die Stadt“bis 6. Februar 2022, Di. bis So. 10 bis 18, Do. bis 20 Uhr; Katalog 38 Euro

 ?? Foto: Morley von Sternberg ?? In den Londoner Holmes Road Studios des Architekte­n Peter Barber sollen sich Obdachlose wohlfühlen. Konzepte für ein menschenwü­rdiges Wohnen, auch wenn man kein ständiges Dach mehr über dem Kopf hat, zeigt eine Ausstellun­g in München.
Foto: Morley von Sternberg In den Londoner Holmes Road Studios des Architekte­n Peter Barber sollen sich Obdachlose wohlfühlen. Konzepte für ein menschenwü­rdiges Wohnen, auch wenn man kein ständiges Dach mehr über dem Kopf hat, zeigt eine Ausstellun­g in München.

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