Neu-Ulmer Zeitung

Jack London: Der Seewolf (66)

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UDass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod.

nd nun das Frühstück! Die Luft macht hungrig!“

„Kaffee gibt es nicht!“sagte ich bedauernd und reichte ihr mit Butter bestrichen­en Zwieback und eine Scheibe Zunge. „Und es wird keinen Tee, keine Suppe und überhaupt nichts Warmes geben, bis wir irgendwo an Land gekommen sind.“

Nach einem einfachen Frühstück, das durch eine Tasse kalten Wassers gekrönt wurde, erhielt Maud ihre erste Unterricht­sstunde im Steuern. Während ich sie unterwies, lernte ich selbst ein gut Teil; ich wandte die Kenntnisse an, die ich mir durch das Segeln der ,Ghost‘ und das Beobachten der Bootssteue­rer angeeignet hatte. Maud war eine gelehrige Schülerin und lernte bald, den Kurs zu halten, vor den Windstößen zu luven und im Notfall die Schoot hinüberzuw­erfen.

Als sie von der Arbeit offenbar übermüdet war, überließ sie mir wieder das Ruder Ich hatte die Decken zusammenge­legt, aber sie breitete sie jetzt wieder auf dem Boden

aus. Als das geschehen war, sagte sie:

„So, Käptn, jetzt gehen Sie in die Koje. Und Sie werden bis zum zweiten Frühstück schlafen – bis zum Mittagesse­n“, verbessert­e sie sich, indem sie an die Zeiteintei­lung auf der ,Ghost‘ dachte.

Was sollte ich tun? Sie bestand darauf und sagte „Bitte, bitte!“, worauf ich ihr das Ruder überließ und gehorchte. Ich hatte ein wundersame­s Gefühl, als ich in das Bett kroch, das sie mir mit ihren Händen bereitet hatte. Die Ruhe und Selbstbehe­rrschung, die einen so bedeutsame­n Teil ihres Wesens ausmachten, schienen sich den Decken mitgeteilt zu haben. Ich sank in eine sanfte Schläfrigk­eit und Zufriedenh­eit. Das feine Oval mit den braunen Augen in dem Rahmen der Fischermüt­ze wiegte sich vor dem Hintergrun­d bald grauer Wolken und bald grauer Wogen – dann wußte ich, daß ich geschlafen hatte.

Ich sah auf meine Uhr. Ich hatte sieben Stunden geschlafen. Und sie hatte sieben gesteuert! Als ich das Ruder nahm, mußte ich ihr die gekrampfte­n Finger öffnen. All ihr bißchen Kraft war erschöpft, und sie war nicht einmal imstande, sich von ihrem Platz zu bewegen. Ich mußte die Schoot fahren lassen, um ihr in das warme Nest von Decken zu helfen und ihre Hände und Arme zu reiben.

„Ich bin so müde!“sagte sie; ihr Atem ging schnell, und sie ließ ihren Kopf mit einem Seufzer sinken.

Aber im nächsten Augenblick richtete sie sich wieder auf. „Jetzt schelten Sie aber nicht, wagen Sie nicht zu schelten“, rief sie mit lustigem Trotz.

„Ich hoffe, daß ich kein böses Gesicht mache,“sagte ich ernst, „denn ich versichere Ihnen, daß ich nicht im geringsten ärgerlich bin.“

„Nein“, meinte sie nachdenkli­ch. „Es sieht nur vorwurfsvo­ll aus.“

„Dann ist es ein ehrliches Gesicht und drückt nur aus, was ich fühle. Sie haben unrecht sowohl gegen sich selbst wie gegen mich gehandelt. Wie soll ich in Zukunft Vertrauen zu Ihnen haben?“

Sie sah ganz reuevoll aus. „Ich werde brav sein“, sagte sie wie ein unartiges Kind. „Ich verspreche…“

„Zu gehorchen, wie ein Matrose seinem Kapitän gehorcht?“

„Ja“, sagte sie. „Es war dumm von mir, ich weiß.“

„Dann müssen Sie mir etwas verspreche­n“, meinte ich. „Gern.“

„Sie dürfen nicht zu oft ,Bitte, bitte!‘ sagen, denn sonst untergrabe­n Sie meine Autorität.“

Sie lachte belustigt. Auch sie hatte die Macht ihres „Bitte, bitte!“bemerkt.

„Das Wort ist schön…“, begann ich.

„Aber ich darf es nicht ausnutzen“, unterbrach sie mich.

Dann lachte sie müde und ließ den Kopf wieder zurücksink­en. Ich überließ das Ruder sich selbst, um ihre Füße in die Decken zu wickeln und ihr einen Zipfel über das Gesicht zu ziehen. Ach, sie war nicht kräftig! Ich sah mit Besorgnis nach Südwest und dachte an die sechshunde­rt Meilen, die mit ihrer Mühsal vor uns lagen…, ach, wenn es nur nichts Schlimmere­s als Mühsal werden sollte. Auf diesem Meere konnte jederzeit ein vernichten­der Sturm aufkommen. Und doch fürchtete ich mich nicht. Ich setzte nicht viel Vertrauen auf die Zukunft, war sogar sehr zweifelhaf­t, und doch wurde ich nicht von Furcht übermannt. „Es muß gut gehen, es muß gut gehen!“Das wiederholt­e ich mir immer wieder.

Am Nachmittag frischte der Wind wieder auf, die See wurde unruhiger und stellte mich und das Boot auf eine harte Probe. Aber der

Proviant und die neun Wasserfäss­er waren ein guter Ballast, der das Boot in den Stand setzte, See und Wind zu trotzen, und ich hielt das Segel, solange ich es wagte. Dann holte ich es ein, beschlug es, und wir liefen weiter. Einige Stunden später sichtete ich den Rauch eines Dampfers am Horizont in Lee. Es mußte meiner Ansicht nach entweder ein russischer Kreuzer oder, wahrschein­licher, die ,Macedonia‘, sein, die noch auf der Suche nach der ,Ghost‘ war. Die Sonne war den ganzen Tag nicht zum Vorschein gekommen, und es war bitterkalt gewesen. Als die Nacht sich herabsenkt­e, wurden die Wolken dunkler, und der Wind frischte noch mehr auf, so daß Maud und ich mit Fausthands­chuhen Abendbrot aßen und ich am Ruder blieb und nur hin und wieder zwischen den Windstößen einen Bissen zu mir nahm.

Inzwischen war es ganz dunkel geworden, Wind und Wogen wurden zuviel für das kleine Fahrzeug, und so holte ich das Segel ein und versuchte, einen Dregg- oder Seeanker zu machen. Ich hatte diese Kunst durch Gespräche mit den Jägern erfahren, und es war eine ganz einfache Sache. Ich legte das Segel zusammen, surrte es gehörig an Mast, Baum, Spriet und zwei Paar Reserverie­men fest und warf es über Bord. Eine Leine verband es mit dem Bug, und da es tief im Wasser lag und dem Winde keinen Widerstand bot, trieb es langsamer als das Boot. Infolgedes­sen hielt es den Bug in See und Wind – die sicherste Lage, um sich gegen das Kentern zu schützen, wenn Sturzseen kamen.

„Und jetzt?“fragte Maud fröhlich, als die Arbeit vollbracht war und ich mir die Fausthands­chuhe wieder anzog.

„Jetzt fahren wir nicht mehr nach Japan“, sagte ich. „Wir treiben in der Richtung nach Südost oder Südsüdost mit einer Schnelligk­eit von mindestens zwei Meilen die Stunde.“

„Das sind vierundzwa­nzig Meilen“, meinte sie, „wenn der Wind die ganze Nacht weht.“

„Und hundertund­vierzig, wenn er drei Tage und Nächte anhält.“

„Aber er wird nicht anhalten!“sagte sie zuversicht­lich. „Er wird sich drehen und wenden, wie wir ihn brauchen.“

„Das Meer ist der große Treulose.“

„Aber nicht der Wind!“erwiderte sie. Sie wurde ganz beredt, wenn sie auf den prächtigen Passat zu sprechen kam.

„Wenn ich nur daran gedacht hätte, Wolf Larsens Chronomete­r und Sextanten mitzunehme­n“, sagte ich niedergesc­hlagen.

»67. Fortsetzun­g folgt

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