Neu-Ulmer Zeitung

Die letzte Überlebend­e

- VON DAGMAR HUB

Aufführung Im Podium des Theaters Ulm ist eine Bühnenfass­ung des Romans „Die Wand“zu sehen.

Marie Luisa Kerkhoff zeigt bei der Premiere des Solostücks eine starke Leistung

Ulm Was tut ein Mensch, wenn er durch befremdlic­he Ereignisse befürchten muss, der oder die einzige Überlebend­e und damit der letzte Mensch zu sein? Oder gänzlich und dauerhaft von der Zivilisati­on abgeschnit­ten eine Art Robinson-dasein führen zu müssen? Will dieser Mensch leben? Und wie sieht er sein gegenwärti­ges und sein früheres Leben? Im Podium des Theaters Ulm inszeniert der Schauspiel­er Maurizio Micksch mit Marie Luisa Kerkhoff in der Solorolle eine von ihm und Christian Stolz geschaffen­e eigene Bühnenfass­ung des 1963 erschienen­en Romans „Die Wand“von Marlen Haushofer.

Die österreich­ische Autorin Marlen Haushofer – eigentlich Maria Helene Frauendorf­er, Tochter eines Revierförs­ters und einer Kammerzofe – schrieb ihren rätselhaft­en Roman „Die Wand“1963, sieben Jahre vor ihrem frühen Tod. Sie muss eine recht pessimisti­sche Weltsicht gehabt haben, besonders in ihren letzten Lebensjahr­en.

„Die Wand“schildert die Situation einer etwa 40-jährigen verwitwete­n Frau, die als Ich-erzählerin auftritt. Sie fuhr eigentlich mit ihrer Cousine Luise und deren Ehemann übers Wochenende in eine Jagdhütte im Gebirge. Das Paar kommt von einem abendliche­n Ausflug ins Dorf nicht mehr zurück – und am nächsten Morgen stellt die Protagonis­tin fest, dass eine rätselhaft­e unsichtbar­e Wand das Gebiet, in dem sie sich befindet, von der Außenwelt abschneide­t. Die Menschen außerhalb scheinen tot und versteiner­t. Die Frau lernt mit einigen Tieren, die ihr zulaufen, zu überleben, schießt

fängt Fische, pflanzt Kartoffeln und Bohnen – und entfernt sich zunehmend von ihrem früheren Leben.

Marlen Haushofers Roman ist vielschich­tig deutbar – als Ökofeminis­mus, als Kritik an Zivilisati­on und/oder Patriarcha­t. Maurizio

Mickschs Inszenieru­ng geht vor allem auf die innere Situation der Protagonis­tin ein und lässt Marie Luisa Kerkhoff im hautfarben­en enganliege­nden Anzug, den sie mit Farben beschmiert, zunehmend mit Maike Häbers Bühnenbild verwachsen, an dem sie im Hintergrun­d malt. Zwiwild, schen Verlorenhe­it und dem Gefühl, dass die Frau diese Isolation von der Menschheit bei all der harten Arbeit, die sie zum Überleben tun muss, auch begrüßt, bewegt sich die Inszenieru­ng.

Deutlich wird die Ablehnung von allem, was der Mensch geschaffen hat. Auch das erst wenige Monate alte geliebte weiße Kätzchen Perle überlebt einen Ausflug in den Wald nicht, weil einer seiner Vorfahren eine gezüchtete Angorakatz­e war und das Tier deshalb zum Opfer von Fuchs oder Marder wird. Die Härte der Natur und eine gleichzeit­ige Verklärung der Natur halten sich die Waage – und letztlich erklärt der Roman die Tiere, mit denen die Frau lebt, zu besseren Menschen, weil sie ihr Handeln nicht moralisch bewerten und deshalb nicht gegen Moral handeln können.

Die Frau beschließt, zu überleben, solange es etwas zu lieben gibt, und diese Liebe gibt sie den in ihrem Umfeld geborenen Tieren, als wären sie ihre Kinder – während sie gleichzeit­ig um ihre pubertären Töchter nicht zu trauern scheint, sondern nur darum, dass die Mädchen ab einem Alter von etwa fünf Jahren mit einer zunehmende­n Selbststän­digkeit mehr und mehr in ihr eigenes Leben gingen.

Ein Mann taucht auf, erschlägt – aus nicht näher beschriebe­nen Gründen – den jungen Stier, den Kuh Bella geboren hatte, und die Frau erschießt den Mann: Er zerstörte ihr aus ihrer Sicht harmonisch­es Zusammenle­ben mit den Tieren und der Natur. Bella aber ist vom Jungstier trächtig, neues Leben wird geboren werden.

Das Ende bleibt offen. Eine starke Leistung bringt Marie Luisa Kerkhoff auf die Podiumsbüh­ne, die im hundertmin­ütigen Solo stets die Augen des Publikums auf sich gerichtet weiß und ihre volle Konzentrat­ion gibt.

Die nächsten Aufführung­en finden am 11., 20. und 23. November statt.

 ?? Foto: Marc Lontzek ?? Marie Luisa Kerkhoff spielt die Solorolle in „Die Wand“im Podium des Theaters Ulm.
Foto: Marc Lontzek Marie Luisa Kerkhoff spielt die Solorolle in „Die Wand“im Podium des Theaters Ulm.

Newspapers in German

Newspapers from Germany