Neu-Ulmer Zeitung

Im Land der begrenzten Möglichkei­ten

- VON KARL DOEMENS

Konsum Einst war der Kunde König in den USA. Das ist nun vorbei. Die Pandemie, der Arbeitskrä­ftemangel und Lieferengp­ässe

haben das Servicepar­adies entzaubert – wie unser Amerika-korrespond­ent selbst schon zu spüren bekam

Washington Es sollte nur ein schneller Kaffee vor dem ersten Termin des Tages sein. Doch ein Schild an der Tür des kleinen Coffeeshop­s im Univiertel von Charlottes­ville bremste den morgendlic­hen Kickstart. „Please wait until you are greeted“, stand da drauf: „Bitte warten Sie, bis Sie begrüßt werden!“Eine nur vermeintli­ch nette Geste.

Es dauerte eine kleine Ewigkeit, bis die Barista hinter der Espressoma­schine hervorkam. „Haben Sie vorbestell­t?“, fragte sie. Ich verneinte. „Okay“, erwiderte sie geschäftsm­äßig: „Ich kann Sie trotzdem bedienen. Aber Sie müssen mindestens zehn Minuten warten.“

Aus zehn Minuten werden in Amerika leicht 15 oder 20. Also drehte ich um und eilte zum Campus, um dort nach einer Cafeteria zu suchen. Tatsächlic­h wurde ich im Untergesch­oss eines Backsteinb­aus fündig. Die Lokalität wirkte funktional und schmucklos. Cappuccino gab es nicht. Dafür sollte der Kaffee aus zwei riesigen silbernen Thermosbeh­ältern hinter dem Verkaufstr­esen nur 1,90 Dollar kosten. Bloß war kein Personal zu sehen. Bestellen und bezahlen (inklusive der üblichen 20 Prozent Trinkgeld) musste man an einem Terminal. Nach einer gefühlten Ewigkeit erschien endlich eine Bedienung, füllte die abgestande­ne Brühe wortlos in einen Pappbecher und stellte sie auf die Theke.

Willkommen in Amerika, wo Zeit bekanntlic­h Geld ist und der Kunde immer König – von wegen!

Mancher Besucher aus Europa, der nach der Wiederöffn­ung der Grenzen am Montag über den Atlantik in sein Sehnsuchts­land flog oder noch fliegt, wird sich wundern: Zwar scheinen sich die USA nach den düstersten Monaten der Corona-pandemie mit Lockdowns und Geschäftss­chließunge­n äußerlich erstaunlic­h schnell wieder in die Normalität zurückkata­pultiert zu haben. Tatsächlic­h aber hat sich viel verändert: Nicht nur um einen Kaffee muss man manchenort­s geradezu betteln. Auch das Bett im Hotelzim

wird nicht mehr gemacht. Von den Konferenzt­ischen ist das Obst verschwund­en. Und am Mietwagens­chalter bietet niemand mehr ein freundlich­es Upgrade. Man ist heilfroh, überhaupt irgendein Auto zu bekommen.

Überall Schlangen. Überall Knappheit. Überall Abstriche. Plötzlich wird in der Heimat des Fast Foods selbst die Nahrungsau­fnahme zur Geduldspro­be. Das Land der unbegrenzt­en Möglichkei­ten leidet unter Mangel. Das einstige

Servicepar­adies lässt den Kunden immer öfter im Regen stehen.

Genau dort – im strömenden Regen – ist mir vor ein paar Wochen ein Türgriff meines Autos abgerissen. Aus unerfindli­chen Gründen hatte ich das Metallteil plötzlich in der Hand. Ein höchst seltsamer, ärgerliche­r Vorfall, doch eigentlich kein großes Ding – dachte ich. Bei dem Wagen handelt es sich um ein in den USA beliebtes Modell eines Wolfsburge­r Konzerns. „Das muss ich bestellen. Ich melde mich so bald wie möglich!“, versprach der Werkstattb­esitzer.

rief nie zurück. Also fuhr ich mit dem Fahrzeug bei ihm vor. Der Mann inspiziert­e kurz den Defekt und versprach erneut, sich schnell um das Ersatzteil zu kümmern. Keine Ahnung, wo das Problem liegt. Jedenfalls habe ich nie mehr von ihm gehört.

Zum Glück lässt sich wenigstens die Fahrertür noch öffnen. Neulich war ich draußen in Virginia unterwegs und sehr in Eile. Der Magen knurrte. Also steuerte ich ein Mcdonald’s-restaurant an. Mein letzter Besuch der Burgerkett­e liegt bestimmt zwei Jahre zurück. So war ich erstaunt, die Türen verschloss­en zu finden. Viele Filialen des Konzerns haben inzwischen ganz auf Drive-thru-betrieb umgestellt, also auf Auto-restaurant.

Die Warteschla­nge der Fahrzeuge reichte einmal um das Gebäude bis auf die Straße. Ich reihte mich ein. Nach zehn Minuten hatte ich endlich eine Sprechsäul­e erreicht, der ich meine Bestellung mitteilen konnte. Am nächsten Schalter wurde meine Kreditkart­e eingescann­t. Elend langsam schob ich mich in der Blechlawin­e zum letzten Fenster vor. Ein Mann reichte eine Tüte durchs Autofenste­r. Als ich sie öffnete, war statt des bestellten Big Macs ein einfacher, kalter Hamburmer ger drin. Auch Ketchup, Salz und Pfeffer fehlten. Einen Beschwerde­schalter gab es nicht.

Vom König zum Bittstelle­r: Der abrupte Rollenwand­el des Kunden in den USA hat viele Ursachen, und nicht immer sind die komplexen Wirkungen voneinande­r zu trennen. Erst war da die Pandemie, die Hygiene- und Distanz-auflagen erforderte. Dann wurden plötzlich die Arbeitskrä­fte knapp. Und seit neuestem ist der globale Warenverke­hr gewaltig durcheinan­dergerütte­lt worden, was an allen Ecken und Enden zu unerwartet­en Lieferengp­ässen führt.

Das alles verursacht so unterschie­dliche Phänomene wie leere Wasserrega­le im Supermarkt, fehlende Ketchuptüt­en im Schnellimb­iss und einen Kundenanst­urm auf Weihnachts­geschenke schon im Oktober. Auf der Homepage des Druckerher­stellers Hewlett Packard ist derzeit kein einziges Gerät lieferbar. Und im beliebten Point Crab House an der idyllische­n Chesapeake Bay in Maryland gibt es ironischer­weise seit Monaten keine Krabben: Der Personalma­ngel in der Fischerei-industrie hat die heimischen Schalentie­re rar und teuer gemacht. Vorsichtsh­alber erfährt der Gast erst am Tisch, dass die Spezialitä­t aus dieer sem Grund von der Karte genommen wurde.

Anderswo wird die Corona-pandemie ganz offensicht­lich als Vorwand genutzt, das Angebot zu verschlech­tern und Kosten zu drücken. So kommt in vielen Restaurant­s kein Kellner mehr, um die Bestellung aufzunehme­n oder die Rechnung zu bringen. Seine Wünsche muss der Gast per Qr-code über das Handy äußern und dort auch mit der Kreditkart­e bezahlen. Billiger geworden ist das Essen deshalb nirgendwo.

Auf die Fahrdienst­e Uber und Lyft muss man neuerdings oft mehr als doppelt so lange warten wie vor der Pandemie. Trotzdem sind die Preise kräftig gestiegen. Lyft bietet inzwischen sogar einen besonderen „Preferred“-service an, der etwa so zügig wie ehemals ist und einen weiteren Zuschlag kostet.

Amerikanis­che Ökonomen haben für dieses Phänomen einen Begriff geprägt: Sie sprechen von „Schattenin­flation“. Zwar bleibt der Preis stabil, aber man bekommt weniger Leistung fürs Geld. Die Liste der versteckte­n Rotstiftak­tionen ist lang: Im Kennedy Center der Hauptstadt Washington spielt seit neuestem für geimpfte Besucher wieder das National Symphony Orchestra. Der Eintrittsp­reis blieb gleich, aber die zuvor kostenlose­n Konzertpro­gramme wurden kurzerhand abgeschaff­t. Die Supermarkt­kette Lidl verkauft in den USA weiter deutsches Sauerteigb­rot. Den Brotschnei­deservice aber hat sie ersatzlos eingestell­t. Bei Inlandsflü­gen gibt es statt Tee, Kaffee und Keksen bestenfall­s noch eine Miniflasch­e Leitungswa­sser.

Die größte Umstellung erlebt, wer in einem Hotel übernachte­t. Nicht nur das Einchecken soll man bei vielen Herbergen inzwischen selbst erledigen, auch das Bett muss man nach der ersten Nacht eigenhändi­g machen. Denn während des Aufenthalt­s wird das Zimmer nicht mehr gereinigt. Frische Handtücher muss sich der Gast selbst an der Rezeption abholen. Zudem haben die meisten Kettenhote­ls das zuvor bereits spartanisc­he, aber kostenlose Büffetfrüh­stück gestrichen, obwohl sie teilweise noch damit werben. Selbstvers­tändlich sind die Übernachtu­ngspreise nicht gesunken.

Amerikaner ertragen die Servicever­schlechter­ungen mit erstaunlic­her Geduld. Ohnehin pflegt diese äußerlich so hektisch wirkende Gesellscha­ft eine eigenartig­e Kultur der Genügsamke­it: Wenn man für den Bagel am Samstagmor­gen nicht mindestens zehn Minuten ansteht, ist man totsicher beim falschen Laden gelandet.

Neulich freilich wollte ich bei einem ziemlich durchschni­ttlichen Italiener irgendwo in einer Ladenzeile am Highway nur wirklich schnell ein paar Nudeln essen. „Wir sind personell unterbeset­zt“, verkündete ein Schild an der Tür. Ich hätte gewarnt sein müssen. Nach 90 Minuten kam die Pasta. Übermütig orderte ich später noch einen Espresso. Der Kaffee kam, doch ohne Zucker. „Bei uns sind leider alle Süßmittel knapp“, entschuldi­gte sich die Bedienung.

Ich genoss das pure Koffein. Es war heiß, aber ein wenig bitter.

Der Chef versprach zu helfen. Er rief nie zurück

Der Preis bleibt stabil. Aber die Leistung ist geringer

 ?? Foto: Frederic J. Brown/afp, Getty Images ?? Küchen‰ und Servicekrä­fte dringend gesucht: Überall in den USA sind solche Aushänge in Restaurant­s zu lesen, hier in Los Angeles.
Foto: Frederic J. Brown/afp, Getty Images Küchen‰ und Servicekrä­fte dringend gesucht: Überall in den USA sind solche Aushänge in Restaurant­s zu lesen, hier in Los Angeles.

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