Neu-Ulmer Zeitung

Warum dauern Stiko‰empfehlung­en so lange?

- VON MICHAEL POHL

Hintergrun­d Politiker drängen die Impfkommis­sion, schneller über Drittimpfu­ngen zu entscheide­n. Doch die Experten verteidige­n ihre Arbeitswei­se. Dahinter steckt ein jahrzehnte­alter Konflikt, der ganze Medizinerg­eneratione­n spaltete

Berlin In den Zeiten, bevor das Coronaviru­s sich seinen Weg von China aus mithilfe der Fluglinien um die ganze Welt bahnte, wussten fast nur Mediziner und Fachleute, aber wenige Normalster­bliche, was sich hinter der Abkürzung Stiko verbirgt. Damals vor der Pandemie traf sich die Ständige Impfkommis­sion dreimal im Jahr, um Antworten auf viele oft umstritten­e Fachfragen zu finden, zum Beispiel, ob man bereits Mädchen ab zwölf gegen Gebärmutte­rhalskrebs auslösende Hp-viren impfen soll oder Kleinkinde­r gegen Windpocken. Seit Entwicklun­g der Impfstoffe gegen Corona arbeiten die 18 Mitglieder der Impfkommis­sion nicht nur im Dauereinsa­tz, sondern stehen dabei auch im Dauerfeuer.

Wie so oft macht Bayerns Csuministe­rpräsident Markus Söder wieder einmal seinen Unmut über die Wissenscha­ftler der unabhängig­en Kommission Luft: „Es würde helfen, wenn sich die Ständige Impfkommis­sion zu einer allgemeine­n Booster-empfehlung durchringt“, sagte der CSU-CHEF der Funke Mediengrup­pe. „Eine Auffrischu­ng muss für jeden möglich sein, der sie braucht und will.“Außerdem sollte sich der Ethikrat mit der Frage einer Impfpflich­t für Pflegekräf­te noch einmal grundlegen­d beschäftig­en.

Nicht nur Söder, auch viele andere fragen, warum die Empfehlung­en der Kommission so lange dauern. Das war schon bei der Frage so, als es darum ging, ob der in die Kritik geratene Impfstoff von Astrazenec­a besser für über oder unter 60-Jährige empfohlen wird. Und es wiederholt­e sich im Sommer bei der Frage, ob Kinder und Jugendlich­e überhaupt gegen Corona geimpft werden sollten, wenn man die Nebenwirku­ngsrisiken gegen den Nutzen bei in der Regel mild verlaufend­en

Krankheits­bildern abwägt. Am Ende empfahl die Stiko die Impfung auch für Zwölf- bis 17-Jährige wie für Erwachsene.

Hinter der Frage, warum das so lange dauerte, steht ein jahrzehnte­alter Konflikt der Medizin, der heute im Grunde längst gelöst ist. Bis in die Achtzigerj­ahre war das Klischee der „Halbgötter in Weiß“nicht nur Stoff für Groschenro­mane, sondern es spaltete ganze Medizinerg­eneratione­n. Nicht nur in Deutschlan­d, sondern auch in Nordamerik­a.

Nicht nur junge Ärztinnen und Ärzte, sondern auch jene, die sich vor allem der Forschung widmeten, verzweifel­ten manchmal daran, wie schwer sich im Studium erlernter wissenscha­ftlicher Fortschrit­t in der Praxis umsetzen ließ. Sie erlebten, dass Behandlung­en allzu oft von persönlich­en Gewohnheit­en der Chefärzte abhingen. Oder schlimmer noch von Pharmaries­en, die ihre Behandlung­sempfehlun­gen mit einer Art Marketing durchsetzt­en, die man heute in vielen Fällen unter Korruption einordnen würde. Leidtragen­de des Kosmos aus Eminenzen ähnlich gebarenden Chefärzten und Pharmalobb­yisten waren die Patientinn­en und Patienten, die entweder als Versuchska­ninchen für umstritten­e Präparate herhalten mussten oder am Stand der Wissenscha­ft vorbei therapiert wurden. Die moderne Medizinerg­eneration forderte jedoch, dass Behandlung­en allgemein und unabhängig dem gut erforschte­n Stand der Wissenscha­ft entspreche­n sollten. Die Basis dafür sollten wissenscha­ftlich gut begründete Behandlung­sempfehlun­gen sein.

Mediziner und Wissenscha­ftler nennen den Nachweis einer Wirksamkei­t oder der Theorie in der Praxis Evidenz, vom lateinisch­en Wort für Ersichtlic­hkeit und Klarheit und vom englischen Begriff für Beweis. So gab der kanadische Epidemiolo­ge und Forscher David Sackett 1990 der Ausrichtun­g auf eine wissenscha­ftlich fundierte Patientenv­ersorgung den Namen „evidenzbas­ierte Medizin“. Inzwischen hat sich diese Lehre in der westlichen Welt auf breiter Basis durchgeset­zt und sogar den Weg in deutsche Gesetze gefunden. Sie gilt auch für das Robert-koch-institut und die ihm angegliede­rte Ständige Impfkommis­sion.

Keiner verteidigt das Prinzip so eisern wie Stiko-chef Thomas Mertens. „Die Stiko-empfehlung­en entstehen nicht durch Meinungsau­stausch von Experten beim Kaffee“, betont der Ulmer Medizinpro­fessor. Das wäre „eminenzbas­iert“spottet Mertens. Die Empfehlung­en entstünden viel mehr „durch sehr gründliche Analyse aller verfügbare­n Daten und Erkenntnis­se evidenzbas­iert“. An den Empfehlung­en arbeiten auch nicht nur die 18 Mitglieder der Impfkommis­sion auf Basis zahlreiche­r aktueller Studien anderer Wissenscha­ftlerinnen und Wissenscha­ftler. Bevor eine Entscheidu­ng veröffentl­icht wird, gehen die Empfehlung­en zusätzlich noch in den Umlauf an andere wissenscha­ftliche und medizinisc­he Expertenru­nden zur Stellungna­hme.

Wichtig sei es, am Ende zu einer wissenscha­ftlich begründbar­en Stellungna­hme zu kommen, sagt Mertens. „Ich glaube, dass unsere Bevölkerun­g ein Recht genau darauf hat und auch etwas längerfris­tig besser damit bedient ist“, betont er. „Wenn wir alle einmal anfangen, Empfehlung­en auf Zuruf zu geben, dann beginnt das Chaos erst recht, denn dann kann irgendwann nichts mehr begründet werden.“

Die Kehrseite des zeitaufwen­digen Verfahrens ist, dass die Stikoempfe­hlungen unter dem Druck hoher Infektions­zahlen den politische­n Entscheidu­ngen oft hinterherh­inken. Doch gerade viele Allgemeinm­ediziner verlassen sich seit Jahren auf die Stiko. Früher ging es oft um Haftungsfr­agen. Beim Streitthem­a Corona geht es heute vielen um die evidenzbas­ierte Medizin.

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Foto: Stefan Boness, Ipon/imago Images Impfkommis­sionschef Thomas Mertens: Lieber evidenzbas­iert als „eminenzbas­iert“.

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