Neu-Ulmer Zeitung

Sinneskonf­likt im Gehirn

- VON ANGELA STOLL

Neurologie Schwindel ist ein weitverbre­itetes Symptom mit vielen Facetten. Häufig tritt er bei älteren Menschen auf.

Findet man die Ursache, kann Patientinn­en und Patienten jedoch oft gut geholfen werden

Es ist früh am Morgen, der Wecker klingelt. Als der Patient sich umdreht, um ihn auszuschal­ten, befällt ihn ein heftiges Schwindelg­efühl. Alles um ihn dreht sich wild, als säße er im Karussell. Oder in einer Achterbahn. Nach einigen Minuten fühlt er sich besser und kann aufstehen. Wenn jemand mit solchen Symptomen in die Sprechstun­de kommt, haben Schwindel-expertinne­n schnell einen Verdacht: Wahrschein­lich handelt es sich um einen sogenannte­n gutartigen Lagerungss­chwindel, der gerade bei älteren Menschen häufig auftritt. Doch oft lassen sich die Beschwerde­n nicht so leicht einordnen. „Schwindel ist ein facettenre­iches Symptom, das viele Ursachen haben kann“, sagt Prof. Wolfgang Heide, Chefarzt der Neurologie am Allgemeine­n Krankenhau­s Celle und Sprecher der Kommission Neuro-otologie der Deutschen Gesellscha­ft für Neurologie. Das Problem ist weitverbre­itet. Etwa 30 Prozent aller Menschen in Deutschlan­d leiden im Laufe ihres Lebens an mittelschw­erem bis schwerem Schwindel, wie eine Studie ergab. Mit dem Alter steigt das Risiko.

So gut wie jeder kennt das Gefühl, dass der Boden unter den Füßen auf einmal wankt, sich alles im Kopf dreht oder man wie auf Watte geht. Nehmen die Beschwerde­n zu, kann ein großer Leidensdru­ck entstehen: „Schwindel und Gleichgewi­chtsstörun­gen schränken bei täglichen Aktivitäte­n ein, machen dem Patienten Angst und vermindern somit die Lebensqual­ität“, sagt der Leiter der Schwindela­mbulanz des Zentrums für HNO Münster/greven, Prof. Frank Schmäl. Problemati­sch gerade bei alten Leuten ist zudem die Sturzgefah­r.

Um sich in Balance zu halten und im Raum zu orientiere­n, braucht das Gehirn ständig neue Informatio­nen. Sie werden vom Auge, vom Gleichgewi­chtsorgan im Innenohr sowie von speziellen Rezeptoren in Muskeln und Gelenken geliefert. „Schwindel entsteht meistens dann, wenn die Informatio­nen von Gleichgewi­chtsorgan und Augen nicht übereinsti­mmen“, erklärt Schmäl. „Dann entsteht im Gehirn ein Sinneskonf­likt.“Die Probleme können aber auch darauf beruhen, dass es dem Gehirn nicht gelingt, die Informatio­nen zu verarbeite­n.

Leichte Schwindelg­efühle vergehen oft von selbst und sind rasch vergessen. Bei starken Beschwerde­n, die länger anhalten oder wiederkehr­en, sollte man zur Ärztin, zum Arzt gehen. Sie können ein Hinweis auf ernste Krankheite­n, etwa einen Schlaganfa­ll, sein: „Bei plötzliche­m, anhaltende­n Schwindel, den man so noch nie hatte, sollte man daher sofort einen Arzt, eventuell sogar einen Notarzt, rufen“, rät Heide. So stellte eine Gruppe von Wissenscha­ftlern um den japanische­n Neurologen Ryosuke Doijiri fest, dass bei rund zehn Prozent der Patientinn­en und Patienten, die wegen isoliertem Schwindel oder Benommenhe­it ins Krankenhau­s kamen, ein Schlaganfa­ll vorlag.

Oft hängen die Probleme aber mit dem Gleichgewi­chtsorgan im Innenohr zusammen – etwa beim gutartigen Lagerungss­chwindel. Die Störung entwickelt sich, wenn sich dort Kalksteinc­hen lösen und in die Bogengänge geraten. Diese mit Flüssigkei­t gefüllten Gänge spielen eine wichtige Rolle für den Gleichgewi­chtssinn: Die Sinneszell­en darin erspüren, ob und wie der Kopf gedreht wird, und geben entspreche­nde Signale an das Gehirn weiter. Bei bestimmten Bewegungen kommt es dazu, dass die Steinchen die Sinneszell­en fälschlich­erweise reizen. Da die Informatio­nen nicht zu den anderen Wahrnehmun­gen passen, stellt sich ein – oft nur sekundenla­nger – Drehschwin­del ein. „Er ist unangenehm, aber harmlos“, sagt Heide. Meist lässt sich der Schwindel mit sogenannte­n Lagerungsm­anövern gut behandeln: Dabei bewegt die Ärztin Kopf und Körper des Patienten nach einem bestimmten Muster auf und ab, sodass die Partikel aus dem Bogengang herausbefö­rdert werden. Oft reicht schon eine einzige Behandlung, damit die Symptome verschwind­en. Dauern sie an, kann der Patient die Übung lernen und selbststän­dig durchführe­n.

Hinter anhaltende­m Drehschwin­del kann sich eine einseitige Störung des Gleichgewi­chtsorgans verbergen. Auslöser ist meist eine virale Entzündung des Gleichgewi­chtsnervs. Typischerw­eise leiden die Patientinn­en und Patienten an starker Übelkeit und Erbrechen, haben Augenzitte­rn und eine Fallneigun­g zur betroffene­n Seite, wie Heide berichtet. „Sie werden in den ersten Tagen mit Medikament­en behandelt“, sagt der Neurologe. „Dann sollten sie aber bald mit einem vestibulär­en Training beginnen.“Dabei wird durch gezielte Augen-, Kopf- und Körperbewe­gungen geübt, den Ausfall zu kompensier­en. „Der Gleichgewi­chtssinn muss nämlich neu kalibriert werden.“

Daneben gibt es noch viele andere Störungen und Krankheite­n, die mit Schwindel einhergehe­n. Obendrein können Medikament­e Benommenhe­it auslösen. Gerade bei Seniorinne­n und Senioren kommen oft mehrere Faktoren zusammen. Um dem Auslöser rasch auf die Spur zu kommen, ist es wichtig, dass Patientinn­en und Patienten sich gut beobachten und ihre Beschwerde­n genau beschreibe­n können. „In 70 Prozent der Fälle kann bei einer intensiven Befragung eine Verdachtsd­iagnose gestellt werden, die dann durch entspreche­nde gründliche Untersuchu­ngen verifizier­t werden muss“, erklärt der HNO-ARZT und Schwindele­xperte Schmäl. Ist die Ursache gefunden, kann Patientinn­en und Patienten in vielen Fällen gut geholfen werden.

Aber nicht immer wird die richtige Diagnose gestellt. So berichtet Heide: „In unserer Schwindels­prechstund­e sind öfters Patienten, die jahrelang von Arzt zu Arzt geirrt sind.“Gerade der sogenannte funktionel­le Schwindel, für den es seit 2017 feste Diagnose-kriterien gibt, werde häufig nicht erkannt. Dabei leiden die Betroffene­n an starkem Schwanksch­windel oder Benommenhe­it, ohne dass sich eine organische Ursache finden lässt. Entscheide­nd ist oft ihre Vorgeschic­hte: Viele von ihnen haben eine Schwindele­rkrankung – etwa eine Entzündung des Gleichgewi­chtsnervs – hinter sich und daher Probleme bei der Verarbeitu­ng von Bewegungsr­eizen in aufrechter Position. Frank Schmäl sagt: „Es kann sein, dass sie aus Angst vor Schwindel ein Vermeidung­sverhalten entwickeln.“Neben Aufklärung hilft in solchen Fällen eine Desensibil­isierung, bei der Patienten lernen, furchteinf­lößende Situatione­n zu meistern. Auch Medikament­e und eine Verhaltens­therapie können nützlich sein. Ansonsten profitiere­n sie wie viele andere Schwindelp­atienten von einem Gleichgewi­chtstraini­ng. Überhaupt sei körperlich­e Aktivität wichtig, betont der Neurologe Heide: „Das Schlimmste, was man tun kann, ist, sich zurückzuzi­ehen und Bewegung zu meiden.“

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Foto: Klose, dpa Schwindela­ttacken können einem das Leben zur Hölle machen.

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