Matze darf endlich küssen
Weltraum Nach langem Hin und Her ist der deutsche Astronaut Matthias Maurer erfolgreich ins All gestartet. Auf der Internationalen
Raumstation soll er mit Experimenten die Menschheit voranbringen – und er hat sich noch viel mehr vorgenommen
Oberpfaffenhofen Wie ein gigantischer Finger ragt die stählerne Falcon-9-rakete in den tiefschwarzen Himmel über Cape Canaveral. Die Nasa hat das Areal schlicht LC-39A genannt, Launch Complex 39A. Dort, an der Ostküste Floridas, wurde in der Vergangenheit Raumfahrtgeschichte geschrieben; die Apollo-astronauten starteten vor mehr als 50 Jahren von Cape Canaveral aus das erste Mal zum Mond. Wenig Wind heute, Gott sei Dank. Gleich wird die Raumfahrthistorie dieses geschichtsträchtigen Ortes um ein Kapitel reicher sein. Und ein deutscher Astronaut wird maßgeblich daran beteiligt sein.
Zur selben Zeit, rund 7800 Kilometer Luftlinie entfernt, liegt tiefe Nacht über dem Sonderflughafen in Oberpfaffenhofen. Durch die Zeitverschiebung sind die Wissenschaftler und Techniker früh auf den Beinen, für 3.03 Uhr deutscher Zeit hat die Nasa den Start der Dragonraumkapsel terminiert. Das Kontrollzentrum in Oberpfaffenhofen bei München überwacht und steuert rund um die Uhr den Betrieb des Columbus-moduls der Internationalen Raumstation ISS. Zahlreiche Bildschirme stehen im Raum, auf der Stirnseite baut sich eine wandfüllende Leinwand auf. Darauf projiziert ist der Stundenplan der Astronautinnen und Astronauten: Wann sie schlafen, Sport oder Experimente machen müssen.
Viel ist nicht los in dieser Nacht in Oberpfaffenhofen. Nur an einem der fünf fächerförmig angeordneten Schreibtische sitzt ein Mitarbeiter und tippt auf einem Laptop herum.
Der Rest der Schicht arbeitet im Homeoffice. Die Pandemie macht auch vor der Raumfahrt nicht halt.
Noch wenige Minuten, dann wird Matthias Maurer zusammen mit einer Kollegin und zwei Kollegen in die nagelneue Crew-dragon-kapsel klettern. Der deutsche Astronaut wird auf dem Schalensitz ganz rechts Platz nehmen und seinen Flug zur ISS antreten. In 400 Kilometern Höhe umkreist die Raumstation die Erde. 22 Stunden wird Maurers Reise dorthin dauern.
Dass die Crew überhaupt loslegen kann, stand wenige Tage zuvor noch buchstäblich in den Sternen. Ursprünglich war der Start für das letzte Oktoberwochenende geplant gewesen. Doch immer wieder musste die Nasa den Termin verschieben, unter anderem wegen starker Winde in Cape Canaveral. Für Maurer und sein Team bedeuteten die Absagen organisatorische Umstellungen, und immer auch: Enttäuschung.
All das ist jetzt vergessen. Mit in den Himmel gestreckten Daumen steht Maurer am Fuße der Falcon9-rakete, ganz so, als wolle er noch einmal zeigen, wohin die Reise heute geht. Er trägt einen grau-weißen Raumanzug, das Visier seines Schutzhelms ist hochgeklappt. Gerade ist er aus einem Tesla gestiegen; gebaut, wie Kapsel und Rakete, von einer Firma des Us-milliardärs Elon Musk. Auf dem Weg zum Startplatz haben Maurer und seine Kollegin Kayla Barron Musik gehört. „Astronaut“von Sido und Andreas Bourani sowie „Tage wie diese“von den Toten Hosen.
Maurer fliegt als erster deutscher Astronaut seit drei Jahren ins All. Er ist der zwölfte Deutsche im Weltraum, der vierte auf der ISS und der erste, der mit einem Crew Dragon des privaten Raumfahrtunternehmens Spacex unterwegs ist. Mehr als 100 Experimente soll er in sechs Monaten durchführen, davon 36 unter deutscher Leitung oder mit deutscher Beteiligung.
Die ISS ist ein schwebendes Labor. Die Experimente im Weltall könnten Erkenntnisse bringen für Biologie, Physik, Medizin oder Materialwissenschaft auf der Erde. Aktuelles Beispiel: Maurer soll in der Schwerelosigkeit Oberflächen entwickeln, die das Wachstum von Keimen und Bakterien hemmen. In einem weiteren Experiment geht es um einen Sportanzug, der mit Elektroschocks Muskel- und Knochenschwund reduzieren soll. Das ist wichtig für Astronauten, könnte aber auch Millionen Menschen auf der Erde helfen, etwa in der Physiotherapie.
Das Deutsche Zentrum für Luftund Raumfahrt (DLR) und die Europäische Weltraumorganisation (Esa) hatten für die Mission im Vorfeld eine massive Werbekampagne gefahren. Im Schlaglicht: Matthias Maurer. In Podcasts erzählte der 51-Jährige charismatisch und offen von Angst („Man weiß, dass es schlimm enden kann, dieses Risiko gibt es immer“), in Pressekonferenzen wehrte er sich bescheiden gegen das Etikett, er sei für viele Menschen so etwas wie ein Superheld („Hinter dieser Arbeit stecken natürlich viele, viele Menschen“). Maurer steht im Blitzlichtgewitter, geduldig und humorvoll beantwortet er Fragen auch zu Bordtoiletten und Schmutzwäsche auf der ISS. Der deutsche Astronaut ist schon vor seinem Flug ins All ein Star.
Das ist gewollt. Maurer soll von der ISS aus die sozialen Netzwerke bespielen. Ernste Wissenschaft, gepaart mit Unterhaltung. Er soll eine neue, junge Zielgruppe für Raumfahrt begeistern. Um Forschung allein geht es längst nicht mehr: Auch Kommunikation ist mittlerweile ein Teil des Astronautenjobs.
Noch mehr als das. Die Namen und Logos für ihre Missionen wählen die Astronautinnen und Astronauten der Esa traditionsgemäß selbst. Matthias Maurers Mission trägt den poetischen Titel „Cosmic Kiss“– kosmischer Kuss. Der Missionsname, sagt er, sei eine Art Liebeserklärung an das Weltall. An den „Wert der partnerschaftlichen Erkundung des Weltraums“und an den „respektvollen und nachhaltigen Umgang mit unserem Heimatplaneten“.
Der Astronaut als Botschafter für eine bessere Welt? Maurer passt gut in diese Rolle. Er spricht mehrere Sprachen, hat in mehreren Ländern studiert. Vor der Uni-zeit in Spanien erkundete Maurer zwei Monate lang Südamerika, nach dem Diplom reiste er ein halbes Jahr durch Indien und Nepal, nach der Promotion ein Jahr um die ganze Welt.
Noch zehn Minuten bis zum Start. Die Crew hat in der Kapsel Platz genommen. Die Falcon-9 ist vollgetankt mit Flüssigsauerstoff. Aus der Außenhülle der Rakete quillt Wasserdampf. Das ist so gewollt, damit in den Tanks kein Überdruck entsteht. Nebel und Scheinwerferlicht mischen sich, umrahmt von pechschwarzer Nacht. Eine surreale Szenerie.
Nicht nur in Oberpfaffenhofen, auch in Oberthal, 35 Kilometer nordöstlich von Saarbrücken, sitzen die Menschen zu früher Stunde vor den Bildschirmen. Gebannt verfolgen sie das Geschehen in Florida. Die Bushaltestellen der Gemeinde sind mit Maurers Gesicht plakatiert. Der Dorfbäcker verkauft süße Teile mit Astronautenmotiv. Im lokalen Fußballverein schwärmt man vom „umgänglichen Matze“, „vom Jungen von hier“. Man ist mächtig stolz auf den bekanntesten Sohn der Gemeinde. Ein Saarländer im All, das macht schon was her.
Dabei hätte es beinahe nicht geklappt. 2009 suchte die Esa neues Personal für die Raumfahrt. Zehn Astronautinnen und Astronauten schafften es in die Endrunde. Unter ihnen Matthias Maurer. Doch es gab nur sechs freie Plätze. Weil zwei deutsche Astronauten nicht vertretbar waren, entschied man sich für Alexander Gerst. Er flog ins All, zwei Mal sogar, bekam den Spitznamen „Astro-alex“. Maurer saß auf der Erde fest.
Er kam über den Frust hinweg. 2010 begann Maurer, ein ausgebildeter Ingenieur mit einem Doktor in
Materialwissenschaft, für die Esa als sogenannter „Astronauten-support-ingenieur“zu arbeiten. Im Jahr 2014 beschloss die Raumfahrtbehörde, sich weiterhin an der Internationalen Raumstation zu beteiligen. Plötzlich gab es Bedarf für neue Astronauten. Die Wahl fiel auf Matthias Maurer.
Er sehe sich nicht als zweite Wahl, sagte der 51-Jährige unlängst in einem Interview. Und doch bleibt seine verzögerte Berufung ins All nicht folgenlos. Maurer fliegt zu einer Zeit, in der die Raumfahrt zunehmend kommerzialisiert wird. Die ISS ist nicht mehr nur Forschungsstation. Sie ist auch Hotel.
Für Weltraum-touristen wie ihn: Yusaku Maezawa, seines Zeichens japanischer Milliardär und Raumfahrt-enthusiast. Er wird
Maurer Mitte Dezember auf der ISS einen Besuch abstatten. Ihm werden im Februar drei weitere Weltraumtouristen folgen. Der Astronaut ahnt bereits, dass da eine Aufgabe als Touristenführer auf ihn zukommen wird.
Das Geschäft mit dem All boomt. Doch das Ansehen eines Neil Armstrong, eines Alexander Gerst, ja auch das eines Matthias Maurer ist mit Geld nicht zu kaufen. Auf der ISS werden die Astronauten eher praktische Fragen des Weltraumtourismus beantworten müssen, etwa: Wer kümmert sich um die Besucher? Wo schlafen sie und wer passt auf, dass sie keine falschen Hebel bedienen?
Muss das denn sein?, haben sich viele Menschen gefragt, als neben Richard Branson (Multimilliardär) auch Jeff Bezos (Multi-multi-milliardär) im Sommer mit seinem privaten Raumfahrtunternehmen am Weltraum schnupperte. Die beiden konkurrieren mit Elon Musk um das aufkommende Geschäft im All. Und das in einer Zeit, in der sich aus Umweltund anderen Gründen immer weniger Menschen in ein Flugzeug setzen. Warum Milliarden Dollar im All buchstäblich verbrennen, wenn Menschen auf der Erde hungern und der Planet unter den Folgen des Klimawandels ächzt?
Zur Wahrheit gehört auch: Ohne private Raumfahrtunternehmen würde Matthias Maurer an diesem windarmen Morgen keine Reise ins All antreten. Rund 2,2 Milliarden Euro zahlte die Nasa Spacex, dem Weltraum-unternehmen von Elon Musk, damit dieses seine Kapseln und Raketen für astronautische Zwecke bereitstellt. Mit diesem Geschäft lösen die USA, und damit auch die Esa, ein lange andauerndes Problem. Fast ein Jahrzehnt lang verfügten sie über keine eigene Möglichkeit, Menschen in den Orbit zu transportieren. Vielmehr war man auf russische Sojus-kapseln für Flüge zur ISS angewiesen.
Was Matthias Maurer von seinem Weltraumtaxi hält? Er sagt, ganz Wissenschaftler: „Ich wäre gerne
Die Pandemie macht auch vor der Raumfahrt nicht halt
Maurer sagt: „Ich wäre gerne ein Lichtteilchen.“
ein Lichtteilchen. Dann könnte ich zugleich als Teilchen und als Welle durch die Welt fliegen – einmal mit der Sojus und einmal mit Dragon.“
Da das physikalisch nun mal nicht möglich ist, wird Maurer zur Figur eines Zeitenwandels. Die Sojus steht für bewährte, robuste Technik, aber auch für wenig Platz und eingeschränkten Komfort. Die Dragonkapsel hingegen funktioniert vollautomatisch. Die Crew liegt besser als in der Businessclass der meisten Fluganbieter. Science-fiction trifft Realität.
Noch dreißig Sekunden. Matthias Maurer sitzt mit verschränkten Armen in seinem Schalensitz, den Blick starr geradeaus gerichtet. Er wartet auf das mächtige Beben, wenn 60 Meter unter ihm neun Merlin-1d-triebwerke ihre volle Kraft entfalten. Was dem Astronauten in diesem Moment durch den Kopf gehen mag?
In Oberpfaffenhofen ist es still geworden. Der Countdown läuft. Five. Four. Three. Two. One. Zero. Ignition – Zündung. Die Rakete verschwindet in einem feuergelben Lichtblitz. Innerhalb von neun Minuten werden Maurer und sein Team auf 28000 Kilometer pro Stunde katapultiert. Sie haben zuvor etwas Leichtes gegessen, Papayasalat und verschiedene Currys, damit sie sich im Falle einer Reisekrankheit nicht in die Kapsel übergeben müssen. Dort oben, 400 Kilometer über der Erde, wird Maurer ein halbes Jahr lang schwerelos durch die Raumstation schweben. Alle 90 Minuten wird das Saarland unter ihm hinweggleiten, er wird täglich 16 Sonnenauf- und -untergänge bestaunen können.
Die Rakete bohrt sich in den Himmel über Cape Canaveral. Nasa-manager Steve Stich wird später von einem „perfekten Start“sprechen. In der Dragon-kapsel sitzt Matthias Maurer auf seinem Sitz und genießt durch ein großes rundes Fenster einen hinreißenden Blick auf den Blauen Planeten, umgeben von tiefschwarzem Nichts. Und irgendwo unter ihm, im Saarland, knallen zu einer unchristlichen Uhrzeit die Sektkorken.