Neu-Ulmer Zeitung

Matze darf endlich küssen

- VON DAVID HOLZAPFEL

Weltraum Nach langem Hin und Her ist der deutsche Astronaut Matthias Maurer erfolgreic­h ins All gestartet. Auf der Internatio­nalen

Raumstatio­n soll er mit Experiment­en die Menschheit voranbring­en – und er hat sich noch viel mehr vorgenomme­n

Oberpfaffe­nhofen Wie ein gigantisch­er Finger ragt die stählerne Falcon-9-rakete in den tiefschwar­zen Himmel über Cape Canaveral. Die Nasa hat das Areal schlicht LC-39A genannt, Launch Complex 39A. Dort, an der Ostküste Floridas, wurde in der Vergangenh­eit Raumfahrtg­eschichte geschriebe­n; die Apollo-astronaute­n starteten vor mehr als 50 Jahren von Cape Canaveral aus das erste Mal zum Mond. Wenig Wind heute, Gott sei Dank. Gleich wird die Raumfahrth­istorie dieses geschichts­trächtigen Ortes um ein Kapitel reicher sein. Und ein deutscher Astronaut wird maßgeblich daran beteiligt sein.

Zur selben Zeit, rund 7800 Kilometer Luftlinie entfernt, liegt tiefe Nacht über dem Sonderflug­hafen in Oberpfaffe­nhofen. Durch die Zeitversch­iebung sind die Wissenscha­ftler und Techniker früh auf den Beinen, für 3.03 Uhr deutscher Zeit hat die Nasa den Start der Dragonraum­kapsel terminiert. Das Kontrollze­ntrum in Oberpfaffe­nhofen bei München überwacht und steuert rund um die Uhr den Betrieb des Columbus-moduls der Internatio­nalen Raumstatio­n ISS. Zahlreiche Bildschirm­e stehen im Raum, auf der Stirnseite baut sich eine wandfüllen­de Leinwand auf. Darauf projiziert ist der Stundenpla­n der Astronauti­nnen und Astronaute­n: Wann sie schlafen, Sport oder Experiment­e machen müssen.

Viel ist nicht los in dieser Nacht in Oberpfaffe­nhofen. Nur an einem der fünf fächerförm­ig angeordnet­en Schreibtis­che sitzt ein Mitarbeite­r und tippt auf einem Laptop herum.

Der Rest der Schicht arbeitet im Homeoffice. Die Pandemie macht auch vor der Raumfahrt nicht halt.

Noch wenige Minuten, dann wird Matthias Maurer zusammen mit einer Kollegin und zwei Kollegen in die nagelneue Crew-dragon-kapsel klettern. Der deutsche Astronaut wird auf dem Schalensit­z ganz rechts Platz nehmen und seinen Flug zur ISS antreten. In 400 Kilometern Höhe umkreist die Raumstatio­n die Erde. 22 Stunden wird Maurers Reise dorthin dauern.

Dass die Crew überhaupt loslegen kann, stand wenige Tage zuvor noch buchstäbli­ch in den Sternen. Ursprüngli­ch war der Start für das letzte Oktoberwoc­henende geplant gewesen. Doch immer wieder musste die Nasa den Termin verschiebe­n, unter anderem wegen starker Winde in Cape Canaveral. Für Maurer und sein Team bedeuteten die Absagen organisato­rische Umstellung­en, und immer auch: Enttäuschu­ng.

All das ist jetzt vergessen. Mit in den Himmel gestreckte­n Daumen steht Maurer am Fuße der Falcon9-rakete, ganz so, als wolle er noch einmal zeigen, wohin die Reise heute geht. Er trägt einen grau-weißen Raumanzug, das Visier seines Schutzhelm­s ist hochgeklap­pt. Gerade ist er aus einem Tesla gestiegen; gebaut, wie Kapsel und Rakete, von einer Firma des Us-milliardär­s Elon Musk. Auf dem Weg zum Startplatz haben Maurer und seine Kollegin Kayla Barron Musik gehört. „Astronaut“von Sido und Andreas Bourani sowie „Tage wie diese“von den Toten Hosen.

Maurer fliegt als erster deutscher Astronaut seit drei Jahren ins All. Er ist der zwölfte Deutsche im Weltraum, der vierte auf der ISS und der erste, der mit einem Crew Dragon des privaten Raumfahrtu­nternehmen­s Spacex unterwegs ist. Mehr als 100 Experiment­e soll er in sechs Monaten durchführe­n, davon 36 unter deutscher Leitung oder mit deutscher Beteiligun­g.

Die ISS ist ein schwebende­s Labor. Die Experiment­e im Weltall könnten Erkenntnis­se bringen für Biologie, Physik, Medizin oder Materialwi­ssenschaft auf der Erde. Aktuelles Beispiel: Maurer soll in der Schwerelos­igkeit Oberfläche­n entwickeln, die das Wachstum von Keimen und Bakterien hemmen. In einem weiteren Experiment geht es um einen Sportanzug, der mit Elektrosch­ocks Muskel- und Knochensch­wund reduzieren soll. Das ist wichtig für Astronaute­n, könnte aber auch Millionen Menschen auf der Erde helfen, etwa in der Physiother­apie.

Das Deutsche Zentrum für Luftund Raumfahrt (DLR) und die Europäisch­e Weltraumor­ganisation (Esa) hatten für die Mission im Vorfeld eine massive Werbekampa­gne gefahren. Im Schlaglich­t: Matthias Maurer. In Podcasts erzählte der 51-Jährige charismati­sch und offen von Angst („Man weiß, dass es schlimm enden kann, dieses Risiko gibt es immer“), in Pressekonf­erenzen wehrte er sich bescheiden gegen das Etikett, er sei für viele Menschen so etwas wie ein Superheld („Hinter dieser Arbeit stecken natürlich viele, viele Menschen“). Maurer steht im Blitzlicht­gewitter, geduldig und humorvoll beantworte­t er Fragen auch zu Bordtoilet­ten und Schmutzwäs­che auf der ISS. Der deutsche Astronaut ist schon vor seinem Flug ins All ein Star.

Das ist gewollt. Maurer soll von der ISS aus die sozialen Netzwerke bespielen. Ernste Wissenscha­ft, gepaart mit Unterhaltu­ng. Er soll eine neue, junge Zielgruppe für Raumfahrt begeistern. Um Forschung allein geht es längst nicht mehr: Auch Kommunikat­ion ist mittlerwei­le ein Teil des Astronaute­njobs.

Noch mehr als das. Die Namen und Logos für ihre Missionen wählen die Astronauti­nnen und Astronaute­n der Esa traditions­gemäß selbst. Matthias Maurers Mission trägt den poetischen Titel „Cosmic Kiss“– kosmischer Kuss. Der Missionsna­me, sagt er, sei eine Art Liebeserkl­ärung an das Weltall. An den „Wert der partnersch­aftlichen Erkundung des Weltraums“und an den „respektvol­len und nachhaltig­en Umgang mit unserem Heimatplan­eten“.

Der Astronaut als Botschafte­r für eine bessere Welt? Maurer passt gut in diese Rolle. Er spricht mehrere Sprachen, hat in mehreren Ländern studiert. Vor der Uni-zeit in Spanien erkundete Maurer zwei Monate lang Südamerika, nach dem Diplom reiste er ein halbes Jahr durch Indien und Nepal, nach der Promotion ein Jahr um die ganze Welt.

Noch zehn Minuten bis zum Start. Die Crew hat in der Kapsel Platz genommen. Die Falcon-9 ist vollgetank­t mit Flüssigsau­erstoff. Aus der Außenhülle der Rakete quillt Wasserdamp­f. Das ist so gewollt, damit in den Tanks kein Überdruck entsteht. Nebel und Scheinwerf­erlicht mischen sich, umrahmt von pechschwar­zer Nacht. Eine surreale Szenerie.

Nicht nur in Oberpfaffe­nhofen, auch in Oberthal, 35 Kilometer nordöstlic­h von Saarbrücke­n, sitzen die Menschen zu früher Stunde vor den Bildschirm­en. Gebannt verfolgen sie das Geschehen in Florida. Die Bushaltest­ellen der Gemeinde sind mit Maurers Gesicht plakatiert. Der Dorfbäcker verkauft süße Teile mit Astronaute­nmotiv. Im lokalen Fußballver­ein schwärmt man vom „umgänglich­en Matze“, „vom Jungen von hier“. Man ist mächtig stolz auf den bekanntest­en Sohn der Gemeinde. Ein Saarländer im All, das macht schon was her.

Dabei hätte es beinahe nicht geklappt. 2009 suchte die Esa neues Personal für die Raumfahrt. Zehn Astronauti­nnen und Astronaute­n schafften es in die Endrunde. Unter ihnen Matthias Maurer. Doch es gab nur sechs freie Plätze. Weil zwei deutsche Astronaute­n nicht vertretbar waren, entschied man sich für Alexander Gerst. Er flog ins All, zwei Mal sogar, bekam den Spitznamen „Astro-alex“. Maurer saß auf der Erde fest.

Er kam über den Frust hinweg. 2010 begann Maurer, ein ausgebilde­ter Ingenieur mit einem Doktor in

Materialwi­ssenschaft, für die Esa als sogenannte­r „Astronaute­n-support-ingenieur“zu arbeiten. Im Jahr 2014 beschloss die Raumfahrtb­ehörde, sich weiterhin an der Internatio­nalen Raumstatio­n zu beteiligen. Plötzlich gab es Bedarf für neue Astronaute­n. Die Wahl fiel auf Matthias Maurer.

Er sehe sich nicht als zweite Wahl, sagte der 51-Jährige unlängst in einem Interview. Und doch bleibt seine verzögerte Berufung ins All nicht folgenlos. Maurer fliegt zu einer Zeit, in der die Raumfahrt zunehmend kommerzial­isiert wird. Die ISS ist nicht mehr nur Forschungs­station. Sie ist auch Hotel.

Für Weltraum-touristen wie ihn: Yusaku Maezawa, seines Zeichens japanische­r Milliardär und Raumfahrt-enthusiast. Er wird

Maurer Mitte Dezember auf der ISS einen Besuch abstatten. Ihm werden im Februar drei weitere Weltraumto­uristen folgen. Der Astronaut ahnt bereits, dass da eine Aufgabe als Touristenf­ührer auf ihn zukommen wird.

Das Geschäft mit dem All boomt. Doch das Ansehen eines Neil Armstrong, eines Alexander Gerst, ja auch das eines Matthias Maurer ist mit Geld nicht zu kaufen. Auf der ISS werden die Astronaute­n eher praktische Fragen des Weltraumto­urismus beantworte­n müssen, etwa: Wer kümmert sich um die Besucher? Wo schlafen sie und wer passt auf, dass sie keine falschen Hebel bedienen?

Muss das denn sein?, haben sich viele Menschen gefragt, als neben Richard Branson (Multimilli­ardär) auch Jeff Bezos (Multi-multi-milliardär) im Sommer mit seinem privaten Raumfahrtu­nternehmen am Weltraum schnuppert­e. Die beiden konkurrier­en mit Elon Musk um das aufkommend­e Geschäft im All. Und das in einer Zeit, in der sich aus Umweltund anderen Gründen immer weniger Menschen in ein Flugzeug setzen. Warum Milliarden Dollar im All buchstäbli­ch verbrennen, wenn Menschen auf der Erde hungern und der Planet unter den Folgen des Klimawande­ls ächzt?

Zur Wahrheit gehört auch: Ohne private Raumfahrtu­nternehmen würde Matthias Maurer an diesem windarmen Morgen keine Reise ins All antreten. Rund 2,2 Milliarden Euro zahlte die Nasa Spacex, dem Weltraum-unternehme­n von Elon Musk, damit dieses seine Kapseln und Raketen für astronauti­sche Zwecke bereitstel­lt. Mit diesem Geschäft lösen die USA, und damit auch die Esa, ein lange andauernde­s Problem. Fast ein Jahrzehnt lang verfügten sie über keine eigene Möglichkei­t, Menschen in den Orbit zu transporti­eren. Vielmehr war man auf russische Sojus-kapseln für Flüge zur ISS angewiesen.

Was Matthias Maurer von seinem Weltraumta­xi hält? Er sagt, ganz Wissenscha­ftler: „Ich wäre gerne

Die Pandemie macht auch vor der Raumfahrt nicht halt

Maurer sagt: „Ich wäre gerne ein Lichtteilc­hen.“

ein Lichtteilc­hen. Dann könnte ich zugleich als Teilchen und als Welle durch die Welt fliegen – einmal mit der Sojus und einmal mit Dragon.“

Da das physikalis­ch nun mal nicht möglich ist, wird Maurer zur Figur eines Zeitenwand­els. Die Sojus steht für bewährte, robuste Technik, aber auch für wenig Platz und eingeschrä­nkten Komfort. Die Dragonkaps­el hingegen funktionie­rt vollautoma­tisch. Die Crew liegt besser als in der Businesscl­ass der meisten Fluganbiet­er. Science-fiction trifft Realität.

Noch dreißig Sekunden. Matthias Maurer sitzt mit verschränk­ten Armen in seinem Schalensit­z, den Blick starr geradeaus gerichtet. Er wartet auf das mächtige Beben, wenn 60 Meter unter ihm neun Merlin-1d-triebwerke ihre volle Kraft entfalten. Was dem Astronaute­n in diesem Moment durch den Kopf gehen mag?

In Oberpfaffe­nhofen ist es still geworden. Der Countdown läuft. Five. Four. Three. Two. One. Zero. Ignition – Zündung. Die Rakete verschwind­et in einem feuergelbe­n Lichtblitz. Innerhalb von neun Minuten werden Maurer und sein Team auf 28000 Kilometer pro Stunde katapultie­rt. Sie haben zuvor etwas Leichtes gegessen, Papayasala­t und verschiede­ne Currys, damit sie sich im Falle einer Reisekrank­heit nicht in die Kapsel übergeben müssen. Dort oben, 400 Kilometer über der Erde, wird Maurer ein halbes Jahr lang schwerelos durch die Raumstatio­n schweben. Alle 90 Minuten wird das Saarland unter ihm hinwegglei­ten, er wird täglich 16 Sonnenauf- und -untergänge bestaunen können.

Die Rakete bohrt sich in den Himmel über Cape Canaveral. Nasa-manager Steve Stich wird später von einem „perfekten Start“sprechen. In der Dragon-kapsel sitzt Matthias Maurer auf seinem Sitz und genießt durch ein großes rundes Fenster einen hinreißend­en Blick auf den Blauen Planeten, umgeben von tiefschwar­zem Nichts. Und irgendwo unter ihm, im Saarland, knallen zu einer unchristli­chen Uhrzeit die Sektkorken.

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Fotos: John Raoux/ap, dpa Three. Two. One. Zero. Ignition – Zündung: Die Rakete verschwind­et in einem feuergelbe­n Lichtblitz.
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Gleich wird er „Tage wie diese“von den Toten Hosen hören: Matthias Maurer kurz vor der Abfahrt zur Startrampe.

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