Auf die Kippe sehen
Wissenschaft Jährlich 80 Milliarden gibt der Staat aus, um Raucherkrankheiten und ihre Folgen zu behandeln. Das Tabaklabor in Sigmaringen
testet auch für Bayern Nikotinprodukte auf ihre Gefahrenstoffe. Besonders ein Trend unter Jugendlichen bereitet den Forschenden Sorge
Sigmaringen Die offensichtlichste Frage stellt sich gleich zu Beginn: Von den fünf Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Tabaklabor Sigmaringen – raucht da selber vielleicht jemand? Alle im Team um die Laborleiterinnen Miriam Laible und Sandra Tamosaite schütteln gleichzeitig den Kopf. Auch früher nicht? Lächeln, Kopfschütteln. Nicht mal die Partner? Kopfschütteln, Lachen. Dass die drei technischen Mitarbeiter und zwei Sachverständigen trotzdem mitreden können, liegt an ihrem Instrumentarium, das in einem von drei Laborräumen aufgebaut ist. Da stehen Analysegeräte, die in der Lage sind, eine ganze Schachtel Kippen auf einmal zu rauchen. Dazu Apparaturen, mit denen die Wissenschaftlerinnen und Experten neue Produkte, ihre Inhalte und Grenzwerte prüfen. Stichwort E-zigarette. Oder noch neuer: Tabakerhitzer.
Eine umfassende Klimatisierung und geschützte, abgedichtete Behälter für Experimente, ein Geflecht aus Abluft- und Zuluftschläuchen sorgen dafür, dass die Untersuchenden nicht selbst unter dem zu leiden haben, wovor sie von Berufs wegen warnen. Es herrschen konstant 22 Grad bei einer Luftfeuchtigkeit von 60 Prozent.
„Wir untersuchen jährlich etwa 400 bis 500 Proben“, erklärt Miriam Laible und zieht ihren weißen Kittel an. Das ist Vorschrift im Tabaklabor. Mitarbeiter Robert Burk drückt währenddessen ein paar Knöpfe einer beeindruckenden Maschine, sodass sich eine große Metallscheibe dreht, auf der 20 Öffnungen sitzen. Durch ein Eingabefach, in das Burk zuvor 20 Zigaretten hineingleiten ließ, greift sich der Apparat jetzt nach und nach jede Fluppe, steckt sie in die Öffnungen und führt sie an einen Zündkopf. Der wiederum bringt den Tabak zum Glühen. In gewisser Weise atmet der Automat sogar. Denn er zieht in definierten Abständen an jeder Zigarette mit einem Zugvolumen von 35 Millilitern. Und so raucht das Gerät vor sich hin, dichter Qualm sammelt sich hinter Glas, während die Luft im Laborraum davon gänzlich unbelastet bleibt – was man vom analytischen Sammelfilter nicht behaupten kann, den Robert Burk später aus dem Gerät ziehen wird. Die Apparatur heißt in der Tabaklaborantensprache korrekt „Zigarettenabrauchmaschine“.
Ähnlich wie das Gerät haben einst viele Menschen in Deutschland geraucht. Nicht 20 Zigaretten auf einmal, sondern nach und nach über den Tag verteilt. Manche bis zu 60 Stück. Das Rauchen war fester Bestandteil des Lebens einer Mehrheit von Frauen und Männern. Und heute? „Heute ist es wenigstens bei der Zigarette Konsens, dass sie schadet“, erklärt Miriam Laible. Auch wenn die Tendenz nach Angaben des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) weiter fallend ist: Allein in Deutschland belaufen sich die tabakbedingten Kosten, die das Gesundheitssystem für die Behandlung von Raucherkrankheiten, aber auch die Volkswirtschaft insgesamt etwa wegen Erwerbsminderung oder Frühverrentung aufbringen müssen, auf mindestens 80 Milliar
Jährlich. Diese Zahl stammt aus einer Erhebung von 2015 – neuere stehen nicht zur Verfügung.
Es klingt paradox: Raucherinnen und Raucher trotz ihres Lasters so gut wie möglich zu schützen – dafür ist das Tabaklabor da. „Unsere Aufgabe ist es, durch unsere Analysen zu überprüfen, ob die Grenzwerte eingehalten werden“, sagt Miriam Laible. Aber zum Aufgabenspektrum gehört noch deutlich mehr, etwa die Beurteilung, ob bestimmte Werbung oder die Gestaltung von Verpackungen gegen die inzwischen auch in Deutschland strenge Tabakverordnung verstoßen. „Es darf grundsätzlich nichts angegeben werden, was den Gebrauch von Tabak verharmlost oder gar zum Ausprobieren verführt“, erklärt die Laborleiterin. Außerdem dürfen keine Stoffe enthalten sein, die das Rauchen erleichtern. Beispiel Menthol. Dieser Stoff sorgt unter anderem dafür, dass man den Rauch tiefer inhalieren kann, ohne husten zu müssen. „Das kann dazu führen, dass man schneller abhängig wird“, sagt Robert Burk. Ein Verbot gilt nicht nur für Menthol, sondern für viele Stoffe und Aromen, die gezielt junge Leute ansprechen. Das betrifft auch Geschmacksrichtungen sogenannter E-liquids. Diese Flüssigkeiten, die meistens auch Nikotin enthalten, werden mittels elektronischer Zigarette verdampft und inhaliert.
Die Sachverständige Sandra Tamosaite greift zu einer kleinen Schachtel mit E-liquid und zeigt die Abbildung von Gebäck vorne auf dem Päckchen. Sie schraubt die Kappe vom Fläschchen. Es riecht nach Butter und Plätzchen. Auf der Rückseite ist die Rede von ofenfrischer Ware, womit ein Sonntagnachmittags-kaffeetisch-idyll beschworen wird. „Sehen Sie, und genau das darf nicht sein“, betont Miriam Laible – weil der Geruch einem potenziell gesundheitsschädlichen Produkt einen harmlosen Anstrich gibt. Welche Flüssigkeiten wirklich kritisch sind, kommt auf den Einzelfall an. „Wenn zur fantasievollen Bezeichnung noch ein Bild und eine Umschreibung dazukommen, kann das der Fall sein“, sagt Laible.
Das Tabaklabor in Sigmaringen ist Teil des staatlichen Chemischen und Veterinäruntersuchungsamts (CVUA). Derzeit werden dort Proden. dukte und Proben aus acht Bundesländern untersucht, auch aus Bayern. Der Auftrag, Tabakerzeugnisse oder die neueren Alternativprodukte zu analysieren, geht unter anderem von behördlichen Stellen aus – etwa vom Land oder von den Landkreisen. „Wir prüfen dann und erstellen ein Gutachten“, erläutert Miriam Laible. Will zum Beispiel die Lebensmittelüberwachung, zu der auch die Kontrolle von Tabakerzeugnissen traditionell zählt, wissen, ob ein Zigarettenhersteller die erlaubten Grenzwerte bei Nikotin, Teer und Kohlenmonoxid einhält, schickt sie Proben ans Labor – und Robert Burk wirft die Zigarettenabrauchmaschine an. Diese zeigt jetzt nahezu bis zum Filter abgebrannte Stummel, die teilweise noch glühen.
Burk öffnet die Klappe. Auf dem vormals blütenweißen flachen Filter hat sich eine Schicht abgesetzt, gebildet vom Rauch der 20 Zigaretten. Sie sieht aus wie appetitliches Karamell, stinkt aber abstoßend nach kaltem Rauch. Aus einem Drucker schiebt sich ein Blatt Papier mit der ersten Analyse. Laible und Burk beugen sich darüber – und kommen zum Ergebnis: starker Tobak. „Beim Kohlenmonoxid sind wir an der oberen Grenze“, sagt Burk. Mit knapp über neun Milligramm pro Zigarette, aber noch im erlaubten Rahmen von maximal zehn. „Die Hersteller haben das in aller Regel gut im Griff“, bestätigt Laible. Da finde man selten unerlaubte Abweichungen. Im Gegensatz zu etwa Wasserpfeifentabak, der das Labor immer wieder auf Trab halte.
„Viele junge Leute wissen gar nicht, dass gerade die Wasserpfeife besonders gefährlich ist“, sagt Sandra Tamosaite. Der Rauch, der durch das Wasser wabert, bleibt kühl, versetzt mit Aromen lasse er sich intensiver inhalieren. Es sei kein Zufall, dass es in Shisha-bars öfter zu Kohlenmonoxidvergiftungen und Ohnmachten komme. Auch das bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit warnte erst am Dienstag vor dem Rauchen von Wasserpfeifen, weil sie Schadstoffe in Atemwege und Lunge transportieren.
Im Labor testen sie auch neue Produkte auf dem deutschen Markt. Als Beispiel nennt Miriam Laible sogenannte tabakfreie „Nicotine
Pouches“, was eingedeutscht Nikotinbeutel bedeutet. Darin enthalten ist eine Mischung von Substanzen, die auch Nikotin enthalten. Diese kleinen Täschchen werden unter die Oberlippe geschoben, die Inhaltsstoffe gelangen über die Mundschleimhaut in den Kreislauf – und entfalten dort ihre Wirkung. In Schweden und Norwegen etwa sind ähnliche Beutelchen – genannt Snus – ein Kulturgut, Tausende nutzen sie. Was in Produkten wie diesen Pouches drin ist, ob sie gar verboten gehören, ist oftmals beim Markteintritt noch gar nicht sicher geklärt. Das Tabaklabor kann dabei helfen, kritische Produkte aus dem Verkehr zu ziehen. Allerdings haben die Anbieter dabei oft einen Vorsprung. Bis über ein Verbot entschieden ist, gelangen sie eben doch oft erst einmal zu den Konsumentinnen und Konsumenten.
Miriam Laible und ihr Team sind skeptisch, was die teils euphorische Beurteilung von E-zigaretten und Tabakerhitzern angeht. Zwar räumt sie ein, dass im Vergleich zum Verbrennungsprozess klassischer Zigaretten sehr viel weniger schädliche Stoffe entstehen, aber: „Über die Langzeitwirkung können wir noch nichts sagen.“Apropos Tabakerhitzer: In diesen Geräten, die an die E-zigarette erinnern, steckt ein Heizelement, das Tabaksticks erhitzt – auf etwa 300 Grad. Der Nutzer zieht daran, ähnlich wie an einer Zigarette, und inhaliert das nikotinhaltige Aerosol. Die Abhängigkeit bleibt also. „Wenn man so tut, als sei das harmloser als normale Zigaretten, verkennt man die Risiken für junge Menschen“, glaubt Burk. Denn solche Alternativen bauten Hemmschwellen ab, irgendwann doch auf klassischen Tabak umzuschwenken.
Dass Teamleiterin Miriam Laible als Tabakexpertin ihr Lebtag noch keine einzige Zigarette geraucht hat, ist für die 33-Jährige überhaupt kein Widerspruch. Solange täglich – wie es im Tabakatlas 2020 heißt – mehr als 300 Millionen Zigaretten der klassischen Art allein in Deutschland in Rauch aufgehen, wird es im Labor nicht langweilig werden. Gerade deshalb, weil die Hersteller kreativ bleiben. Menschen mit immer neuen Produkten zu verführen versuchen. Ganz egal, ob diese nun rauchen, dampfen, tropfen oder in harmlos aussehenden Beutelchen den Kick versprechen.
Verschwinden wird er wohl nie ganz, der Tabak und all seine Erzeugnisse, auch wenn das Rauchen gerade in jugendlichen Altersgruppen seinen Reiz gemäß DKFZ verliert. Doch noch immer umgibt ihn etwas Mystisches, auch weil Literaten und Künstlerinnen Tabak als Quell von Inspiration und Vision gepriesen haben. Und das Bild berühmter Rauchender im Rückblick ohne den Tabak unvollständig wäre. Wer kann sich schon Staatsmann Winston Churchill ohne Zigarre vorstellen? Einer seiner berühmten Sprüche aber ist heute längst widerlegt. Der Mann, der Großbritannien als Premierminister durch den Zweiten Weltkrieg führte, sagte zu Lebzeiten: „Ein leidenschaftlicher Raucher, der immer wieder von der Gefahr des Rauchens für die Gesundheit liest, hört in den meisten Fällen auf – zu lesen.“