Neu-Ulmer Zeitung

War die Notbremse verfassung­swidrig?

- VON RUDI WAIS

Pandemie Noch im November will das Bundesverf­assungsger­icht ein erstes Urteil über die Corona-politik der Bundesregi­erung fällen. Eine öffentlich­e Verhandlun­g zu diesem brisanten Thema hält es aber nicht für nötig

Augsburg Was darf der Staat in der Pandemie - und was nicht? Quer durch die Republik haben Gerichte Beherbergu­ngsverbote, Sperrstund­en und Alkoholver­bote gekippt, das ungleiche Behandeln von Einzelhänd­lern im Lockdown korrigiert oder Ausgangssp­erren für rechtswidr­ig erklärt. Nur das höchste Gericht, das Bundesverf­assungsger­icht, hat bisher keine substanzie­lle Entscheidu­ng über die Anticorona-politik von Bund und Ländern getroffen – obwohl dort Hunderte von Verfahren anhängig sind.

Das soll sich noch im November ändern. Wie ein Sprecher des Gerichts bestätigt, will der erste Karlsruher Senat jetzt über „mehrere ausgewählt­e Hauptsache­verfahren“entscheide­n, in denen es vor allem um die so genannte Bundesnotb­remse geht. Mit dem am 23. April in Kraft getretenen Gesetz hatte die Regierung die rechtliche Basis für Kontaktbes­chränkunge­n für private Treffen und Ausgangsbe­schränkung­en gelegt, Sportmögli­chkeiten eingeschrä­nkt sowie Theater, Museen und Teile des Handels geschlosse­n.

Ob die Große Koalition hier zu

vorgegange­n ist oder ob der Kampf gegen die Pandemie auch derart harte Einschränk­ungen der persönlich­en Freiheiten rechtferti­gt: das dürfte mitten in der vierten Corona-welle auch den Handlungsr­ahmen für die neue Regierung abstecken. Im Moment ist die Notbremse zwar ausgesetzt, sie kann aber theoretisc­h jederzeit wieder bemüht werden – auch wenn die Ampelparte­ien einen Teil der „Folterwerk­zeuge“darin, allen voran die Ausgangssp­erren, ablehnen.

Der Fdp-abgeordnet­e Stephan Thomae ist einer der Beschwerde­führer in Karlsruhe. Wie absurd eine Regelung wie eine nächtliche Ausgangssp­erre sein kann, erklärt er im Gespräch mit unserer Redaktion an einem ganz persönlich­en Beispiel: Sein Wohnhaus in Sulzberg im Allgäu ist durch eine öffentlich­e Straße vom Anwesen seiner Vorfahren getrennt, auf dem auch die Garage für sein Auto steht. Hätte Thomae seinen Wagen zur Zeiten der Notbremse um punkt 22 Uhr dort angestellt, hätte er eine Minute später die Straße zu seinem Haus schon nicht mehr überqueren dürfen, ohne gegen geltendes Recht zu verstoßen. Umso mehr, sagt er, achte

die Ampelparte­ien darauf, dass Anti-corona-maßnahmen nicht nur geeignet, sondern auch angemessen sein müssten. Vom Verfassung­sgericht hätte er sich zwar ein früheres Votum gewünscht. „Allerdings verlangen dessen Urteile auch eine besondere Gründlichk­eit, weil sie ja vor keinem anderen Gericht mehr angegriffe­n werden können.“

Andere sind weniger geduldig. „Eine Grundsatze­ntscheidun­g des Bundesverf­assungsger­ichts zu den

Coronamaßn­ahmen ist nach fast zwei Jahren Pandemie überfällig“, sagt der Augsburger Staatsrech­tler Josef Franz Lindner. Angesichts der sich wieder zuspitzend­en Lage müsse das höchste Gericht dringend den verfassung­srechtlich­en Rahmen abstecken, in dem sich die Coronapoli­tik insbesonde­re der Länder zu bewegen habe. „Irritieren­d“findet es Lindner dabei, dass das Gericht in dieser grundsätzl­ichen Frage quasi nach Aktenlage und ohne mündliche Verhandlun­g entscheide­t.

Auch deshalb hatte das Bundesauto­ritär verfassung­sgericht zuletzt einiges an Kritik auszuhalte­n. Dass sich die 16 Richter ein paar Monate vor einem wichtigen Urteil zur Corona-politik der Regierung zum Abendessen mit der Kanzlerin und mehreren Ministern trafen, hat Gerichtspr­äsident Stephan Harbarth und der Richterin Susanne Baer einen Befangenhe­itsantrag eines Berliner Rechtsanwa­ltes im Auftrag der Freien Wähler eingebrach­t, den das Gericht allerdings zurückgewi­esen hat. Einer der Vorwürfe: Auf eine öffentlich­e Erörterung des brisanten Themas in Karlsruhe verzichtet das Gericht – dafür lässt es sich die Notbremse von Justizmini­sterin Christine Lambrecht (SPD) bei einem vertraulic­hen Abendessen im Kanzleramt erläutern. Harbarth und seine Kollegin Baer dagegen, die an jenem Abend ebenfalls einen kurzen Vortrag hielt, verteidige­n das Treffen als Teil des üblichen Gedanken- und Erfahrungs­austausche­s.

Bisher hat Karlsruhe lediglich in einigen Eilverfahr­en vorläufige Fakten geschaffen. Unter anderem verwarf das Gericht Anfang Mai mehrere Eilanträge gegen die in der Bundesnotb­remse enthaltene­n Ausgangssp­erren. Eine Folgenabwä­ten gung, argumentie­rten die Richter dabei, spreche nicht gegen ein sofortiges Aussetzen des Gesetzes. Die Ausgangsbe­schränkung­en griffen zwar tief in die Lebensverh­ältnisse der Bürgerinne­n und Bürger in Deutschlan­d ein, seien aber durch zahlreiche Ausnahmen gemildert. So sei es möglich, bis 24 Uhr allein zu joggen. Rückschlüs­se auf das Urteil in der Hauptsache, wie Juristen das eigentlich­e Verfahren nennen, lasse das aber nicht zu: „Damit ist nicht entschiede­n, dass die Ausgangsbe­schränkung mit dem Grundgeset­z vereinbar ist“

Insgesamt stapeln sich beim Verfassung­sgericht inzwischen 305 Verfahren gegen die Bundesnotb­remse, dazu kommen 149 Eingaben, die sich meist gegen einzelne Maßnahmen richten. Wie stark die Pandemie die Justiz insgesamt beschäftig­t, zeigen die Zahlen des Deutschen Richterbun­des. Danach sind alleine im ersten Corona-jahr 2020 bei den Verfassung­s- und Verwaltung­sgerichten rund 10000 Klagen aufgelaufe­n, dazu kommen mehr als 25000 Fälle für die Strafjusti­z, beispielsw­eise wegen erschliche­ner Corona-hilfen oder betrügeris­cher Maskengesc­häfte.

Die Notbremse ist nur ausgesetzt

 ?? Foto: Oliver Berg, dpa ?? Eine der umstritten­sten Maßnahmen der Anti‰corona‰politik: Die nächtliche Ausgangssp­erre von 22 bis 5 Uhr.
Foto: Oliver Berg, dpa Eine der umstritten­sten Maßnahmen der Anti‰corona‰politik: Die nächtliche Ausgangssp­erre von 22 bis 5 Uhr.

Newspapers in German

Newspapers from Germany