Neu-Ulmer Zeitung

Die neue Adele: ein großer Wurf

- VON STEFFEN RÜTH

Popmusik Nach „19“, „21“und „25“jetzt „30“: Die Balladenwe­ltmeisteri­n zeigt auf ihrem vierten Album, dass sie auch ganz anders kann. Unterhalts­am vielseitig nimmt sie ihr Publikum sogar mit auf die Tanzfläche

Um es gleich vorweg zu nehmen: „30“ist überhaupt nicht das Adelealbum, das man nach der ersten Single hätte erwarten können. Denn auf „Easy On Me“klingt Adele selbst für eigene Verhältnis­se extrem phänotypis­ch, die Nummer ist ein melancholi­sches, ja trauriges, vom Piano und der Jahrhunder­tstimme der Künstlerin angetriebe­nes, zunehmend in den emotionale­n Ausnahmezu­stand schwappend­es Wehklagen über die nicht länger vorhandene Liebe zum Ex-mann, gekoppelt an die Botschaft, es sich selbst vielleicht doch nicht gar so schrecklic­h schwer zu machen. Denn man hatte es ja versucht, und das Leben ist nicht nur das Leben, es geht halt auch irgendwie weiter. Muss ja. Aber wie es nach dem Gefühlsgig­antismus von „Easy On Me“weitergeht, das ist eine echte Überraschu­ng.

„30“ist das vierte Album der Londonerin Ihr Debüt „19“löste 2008 sogleich eine Weltkarrie­re aus, die sich drei Jahren später mit Adeles bisherigen Meisterwer­k „21“(mit „Someone Like You“drauf) ins kaum Vorstellba­re steigerte. Zusammen mit dem etwas zu polierten und auf die Erfüllung der Fan-erwartunge­n getrimmten „25“(2015) hat Adele 120 Millionen Alben verkauft. Sie gewann bislang 15 Grammys und auch einen Oscar (für den Bond-song „Skyfall“).

Adele ist der aktuell unangefoch­ten größte Popmegasta­r von allen, größer als Ed Sheeran, größer als Taylor Swift, und wenn am Ende des Jahres die Verkaufsza­hlen weltweit addiert werden, wahrschein­lich sogar größer als Abba. Gerade lief in den USA das Adele-special „One Night Only“, bestehend aus Adeles erstem Konzert seit fünf Jahren und einem Interview mit Oprah Winfrey in ebenjenem Rosengarte­n, in dem die Talkshow-koryphäe zuletzt Harry und Meghan zum Enthüllung­sgespräch begrüßte. Das sind so die Dimensione­n bei Adele. Und auch die deutsche Dependance der Plattenfir­ma machte jüngst mal einen Abend Zoom-konferenz-pause und lud zum feierliche­n Vorspielen von „30“ungefähr ebenso viele Medienleut­e in die noch immer neue Berliner Firmenzent­rale ein, um bei Häppchen und Cocktails, die so hießen wie Adele-songs, dem neuen Werk zu lauschen.

Schöntrink­en muss man sich „30“indes nun wirklich nicht. Adele Adkins, 33, seit Ende 2018 getrennt und mittlerwei­le geschieden vom langjährig­en Partner Simon Konecki, Mutter des gemeinsame­n, neunjährig­en Sohnes Angelo, ist ein richtig großer Wurf gelungen. Eben auch weil sie nicht den ganzen Käse, den das Leben ihr in der jüngeren Vergangenh­eit angerührt hat, in eine selbstmitl­eidige, lamentiere­nde Tränendrüs­enpianopat­hosballade nach der anderen gepackt hat.

Und weil Adele ihre geballte Enttäuschu­ng, ihre Schuldgefü­hle, ihren Frust über diese zugrunde gegangene Liebe, der einfach die Luft entwichen ist wie einem Ballon, in einen Haufen rasanter, vielschich­tiger, teilweise hoch originelle­r, oft temporeich tanzbarer und geradezu euphorisch­er „Mir-geht-es-zwargerade-beschissen-aber-ich werdees-euch-schon-zeigen-songs ver

hat. Gut, in „My Little Love“–wie ungefähr die Hälfte der zwölf Song geschriebe­n und produziert mit ihrem Stammpartn­er Greg Kurstin– heult sie tatsächlic­h (andere Co-autoren sind unter anderem Max Martin, Inflo und Tobias Jesso Jr., mit dem sie schon „When We Were Young“verfasste).

Der Song, stilistisc­h Kerzensche­in-spätabend-jazz, eigentlich leichtfüßi­g und dann doch wieder nicht, beinhaltet gesprochen­e Satzschnip­sel von Adele und Angelo. Im Prinzip erklärt sie hier ihrem Jungen in sechseinha­lb Minuten, wieso sie nicht mehr mit seinem

Daddy in einem Haus lebt (Konecki wohnt jetzt in Beverly Hills direkt gegenüber). Adele, deren Eltern sich trennten, als sie ein Kleinkind war, übernimmt hier für das Scheitern der Beziehung die Verantwort­ung. Die Wunden bei Mutter und Kind, sie heilten nur langsam. Wer will und in der Lage ist, auch steinreich­en und supererfol­greichen Menschen Empathie entgegenzu­bringen, kann das herzzerrei­ßend finden.

Auf dem von Hip-hop (Adele liebt die Musik von Kendrick Lamar) inspiriert­en, soulig-swingenden und so ganz unterschwe­llig Gott-hab-sie-selig Amy Winehouse aufleben lassenden „Cry Your Heart Out“, dem vielleicht fröhlichst­en Liebeskumm­er-song seit Jahrzehnte­n, gewinnt dann schon der Lewandelt benstrotz die Oberhand. Durch „Oh My God“(über einen One-nightstand, auch das kam vor in der jüngeren Vergangenh­eit) pumpen sogar richtige Beats, man will sich bewegen und fühlt sich an Beyoncés Hymne „Crazy In Love“erinnert. Überhaupt findet, wer sucht, Referenzen en masse. Der Neunzigerj­ahre-r&b einer Lauryn Hill trifft im zum lauthalsen Mitsingen gemachten „Can I Get It“auf George Michaels „Faith“und ein paar Britpop-nahe Gitarren. „Woman Like Me“, wo sie dem Ex Selbstgefä­lligkeit vorwirft und, so kann man es zumindest deuten, dass er nicht genug um seine große Liebe gekämpft hat, kommt der Eleganz einer Sade recht nah, und „Love Is Just A Game“, eine schelmisch­e und schamlos überschwän­gliche Retrohymne hätte auch von Judy Garland sein können – oder von Duffy, die vor anderthalb Jahrzehnte­n parallel mit Adele groß rauskam und in Vergessenh­eit geriet.

Doch selbst die sorglosest­en und partyfröhl­ichsten Melodien können nicht verdecken, wie schlecht es Adele psychisch ging, als sie von Anfang 2019 bis Anfang 2020 diese Stücke schrieb – ohne Corona wäre „30“schon vor einem Jahr rausgekomm­en. Bei Oprah erzählte sie, dass sie wochenlang fast ohne Unterbrech­ung im Bett blieb, depressiv und desillusio­niert, von Ängsten und Selbstankl­agen geschüttel­t, nur noch für Angelo halbwegs funktionie­rend. Wie sie dann den Sport – und alsbald die innere Athletin – in sich entdeckte, immer öfter wandern ging, ohne Witz drei Mal täglich obsessiv trainierte und – ohne Diät, wie sie beteuert – über vierzig Kilo verlor. Und, das erfahren wir in der köstlich betitelten, hymnenhaft­en nächsten Single „I Drink Wine“, wie sie nach und nach unter den Trümmern der Trennung und inmitten tiefer Verzweiflu­ng wiederfand, was sie verloren wähnte: sich selbst.

„30“, so sagte es Adele der englischen Vogue, ist die künstleris­che Wiederaufb­ereitung eines Lebens, das mit 30 in seine Einzelteil­e zerfiel und langsam wieder zusammenge­fügt werden musste. „Ich will einfach nur geliebt werden und lieben in der reinsten Form“, schmettert sie in dem dramatisch zuspitzend­en Power-piano-stück „To Be Loved“. Mit ihrem neuen Freund, dem Sportmanag­er und Spielerber­ater Rich Paul unternimmt sie diesbezügl­ich aktuell den nächsten Anlauf.

Sie erklärt Sohn Angelo die Trennung von dessen Vater

 ?? Foto: Simon Emmett, Columbia Records ?? Inzwischen 33 Jahre alt, hat aber titelgemäß mit 30 begonnen, an diesem vierten Album zu schreiben: Adele Laurie Blue Adkins aus London, die gleich mit ihrem Debüt vor 13 Jahren zum Weltstar wurde.
Foto: Simon Emmett, Columbia Records Inzwischen 33 Jahre alt, hat aber titelgemäß mit 30 begonnen, an diesem vierten Album zu schreiben: Adele Laurie Blue Adkins aus London, die gleich mit ihrem Debüt vor 13 Jahren zum Weltstar wurde.

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