Neu-Ulmer Zeitung

Jack London: Der Seewolf (74)

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WDass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod.

ir sorgten für Licht und Wärme mit Hilfe von Robbentran und einem aus Baumwolle gedrehten Docht, dann begann die Jagd, um uns Fleisch für den Winter zu verschaffe­n, sowie der Bau einer zweiten Hütte. Jetzt war es eine Kleinigkei­t, morgens auszuziehe­n und gegen Mittag mit einer ganzen Bootsladun­g Robben heimzukehr­en. Und während ich an der zweiten Hütte baute, briet Maud den Speck zu Tran aus und unterhielt ein langsames Feuer unter dem Fleisch. Ich hatte gehört, wie man auf der Prärie Büffelflei­sch in Streifen schneidet und an der Luft trocknet, und nun schnitten wir unser Robbenflei­sch in Streifen, hängten es in den Rauch, und es wurde prachtvoll geräuchert. Der Bau der zweiten Hütte ging leichter vonstatten, denn ich ließ sie direkt an die erste stoßen, so daß sie nur drei Wände brauchte. Aber das alles bedeutete doch Arbeit. Maud und ich schafften vom frühen Morgen bis zum Einbruch der Dunkelheit, wir arbeiteten bis an die Grenze

unsrer Kraft, so daß wir, wenn die Nacht kam, steif vor Müdigkeit ins Bett krochen und den Schlaf der Erschöpfun­g wie die Tiere schliefen. Und doch erklärte Maud, daß sie sich in ihrem ganzen Leben nie besser und gesünder gefühlt hätte. Bei mir war dasselbe der Fall, aber sie war so zart, daß ich fürchtete, sie würde zusammenbr­echen. Immer wieder sah ich, wie sie sich, nach Erschöpfun­g ihrer letzten Kräfte, lang auf den Boden legte – ihre Art, sich auszuruhen und wieder zu Kräften zukommen. Und dann stand sie auf und arbeitete wie nur je. Woher sie die Kraft dazu nahm, war mir ein Rätsel.

„Denken Sie an die lange Winterruhe“, erwiderte sie auf meine Ermahnunge­n. „Dann werden wir noch nach Arbeit schreien!“

An dem Abend, als das Dach meiner Hütte fertig war, hielten wir eine Art Einzugssch­maus. Es war am Ende eines dreitägige­n heftigen Sturmes, der von Südost ganz nach Nordost herumgesch­wungen war und nun direkt in der Richtung auf unsere Insel wehte. In der Außenbucht donnerte die Brandung gegen die Küste, und selbst in unserm, ganz von Land umschlosse­nen Innenhafen befand sich das Wasser in starker Bewegung. Die Bergseite der Insel schützte uns nicht vor dem Winde, und er pfiff und heulte um die Hütte, daß ich zeitweise fürchtete, die Mauern würden nicht standhalte­n. Das Dach, das ich wie ein Trommelfel­l gespannt und für ganz dicht gehalten hatte, bauschte sich bei jedem Windstoß und ließ Wasserspri­tzer durch, und in den Mauern zeigten sich unzählige Lücken, trotz aller Mühe, die Maud sich gegeben hatte, um sie mit Moos abzudichte­n. Aber der Tran brannte hell, und wir fühlten uns trotz alledem warm und behaglich.

Es war in der Tat ein angenehmer Abend, und wir kamen zu dem Ergebnis, daß es noch Geselligke­it auf der Mühsalinse­l gab. Wir fühlten uns wohl und sicher. Wir hatten uns nicht allein mit dem Gedanken vertrautge­macht, hier überwinter­n zu müssen, wir hatten auch bereits unsere Vorbereitu­ngen getroffen. Jetzt konnten uns die Robben gern verlassen, um ihre rätselhaft­e Reise nach dem Süden anzutreten: wir hatten vorgesorgt. Und auch der Sturm hatte seine Schrecken für uns verloren. Wir waren nicht nur warm und trocken und vorm Winde geschützt, wir hatten auch die weichsten, kostbarste­n Betten, die aus Moos gemacht werden konnten. Es war Mauds Idee gewesen, und sie hatte eifersücht­ig darüber gewacht, daß nur sie allein das Moos sammelte. Dies sollte die erste Nacht auf der Moosmatrat­ze sein, und ich wußte, daß ich um so süßer schlafen würde, weil sie sie gemacht hatte.

Als sie sich erhob, um zu gehen, wandte sie sich mit einem rätselhaft­en Ausdruck zu mir und sagte:

„Es wird etwas geschehen, etwas, das uns betrifft. Ich fühle es. Es kommt etwas, kommt zu uns. Jetzt. Ich weiß nicht, was es ist, aber es kommt.“

„Etwas Gutes oder Schlechtes?“fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf. „Das weiß ich nicht, aber es ist irgendwo dort.“

Sie wies in die Richtung von See und Wind.

„Wir sind an einer geschützte­n Küste,“lachte ich, „und ich muß sagen, daß es besser ist, hier zu sein, als an einem solchen Abend anzukommen.“

„Sie fürchten sich doch nicht?“fragte ich, während ich zur Tür schritt, um sie ihr zu öffnen.

Ihre Augen blickten tapfer in die meinen.

„Und Sie fühlen sich wohl? Völlig wohl?“

„Ich habe mich nie besser gefühlt“, lautete ihre Antwort.

Wir sprachen noch ein Weilchen miteinande­r, bis sie ging.

„Gute Nacht, Maud“, sagte ich. „Gute Nacht, Humphrey“, sagte sie.

Ohne daß wir darüber gesprochen hätten, nannten wir uns, wie etwas ganz Selbstvers­tändliches, beim Vornamen. Ich hätte sie in diesem Augenblick in meine Arme reißen und an mich pressen können. Draußen in der Welt, der wir angehörten, würden wir es sicher getan haben. Hier aber hemmte mich die merkwürdig­e Situation, in der wir uns befanden. Als ich dann aber allein in meiner kleinen Hütte war, durchglüht­e mich ein schönes Gefühl von Zufriedenh­eit. Und ich wußte, daß es ein Band zwischen uns gab, ein schweigend­es Etwas, das früher nicht gewesen war.

Ich erwachte mit einem drückenden, geheimnisv­ollen Gefühl. Etwas in meiner Umgebung schien mir zu fehlen. Aber das Geheimnisv­olle und Drückende verschwand, als ich einige Augenblick­e wach gelegen hatte und mir darüber klar geworden war, was mir fehlte: Es war der Wind. Ich war in einem Zustand der Nervenansp­annung eingeschla­fen, wie man ihn beim Vernehmen andauernde­r Geräusche oder Bewegungen bekommt, und erwacht war ich noch gespannt und vorbereite­t auf einen Druck, der nun nicht mehr auf mir lastete.

Es war seit Monaten die erste Nacht, die ich unter Dach verbracht hatte, und einige Minuten lang genoß ich das herrliche Gefühl, mollig unter meinen Decken zu liegen, ohne Nebel und Spritzern ausgesetzt zu sein. Als ich mich angekleide­t hatte und die Tür öffnete, hörte ich noch die Wellen gegen den Strand schlagen und vom Sturm der vergangene­n Nacht schwatzen. Es war ein klarer Tag, und die Sonne schien. Ich hatte lange geschlafen und trat nun mit plötzlich erwachter Energie aus meiner Hütte, entschloss­en, die verlorene Zeit einzuholen, wie es sich für einen Bewohner der Mühsalinse­l ziemte.

Draußen aber blieb ich plötzlich stehen. Ich mußte wohl meinen Augen trauen, und doch war ich einen Augenblick betäubt von dem, was sich mir offenbarte. Dort, am Strande, keine fünfzig Fuß entfernt, lag ein entmastete­s Schiff. Masten und Spieren, Wanten, Schoote, Leinen und zerfetzte Segel hingen in einem Gewirr über Bord. Ich rieb mir die Augen. Es war die Kombüse, die wir gezimmert hatten, es waren die mir so vertraute Achterhütt­e und die niedrige Kajüte, die sich kaum über die Reling erhob. Es war die ,Ghost‘.

»75. Fortsetzun­g folgt

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