Eisig, herzig und zauberhaft
Premiere Hans Christian Andersens „Die Schneekönigin“versprüht am Theater Ulm viel Charme –
auch wenn die Premiere des Weihnachtsmärchens in sehr angespannte Corona-zeiten fällt
Ulm So viel Lachen und Gewusel war lange nicht: Kleine Menschen, wintergerecht verpackt, strömen in Grüppchen und Schlangen in das Theater Ulm. Mit ihren Schulklassen sind sie angereist, um hier einen vorweihnachtlichen Märchenzauber zu erleben. Andersens „Die Schneekönigin“ist das traditionelle Wintermärchen in dieser Ulmer Spielzeit. Klassen aus vier Schulen der Region nehmen bei der Premiere Platz in zugeordneten Reihen – alle Kinder tragen dabei wie ihre Lehrkräfte Maske. Und gerade bei diesem Anblick kommt einem unweigerlich die Frage: Wie unbeschwert lässt sich dieses Ereignis genießen? Die Inzidenzkurven steigen steil, über die Anzahl von „G“mit oder ohne Plus debattiert ganz Deutschland und in Badenwürttemberg gilt ab sofort pandemische „Alarmstufe“. Auch das Theater Ulm muss sich streng an Vorgaben halten. Die Umstände sind kritisch – dabei hat diese Inszenierung das Potenzial, Jung bis Alt in eine fantastische Welt mitzureißen.
Das Theater Ulm fährt für die Schneekönigin alles auf, was sich mit dem Bühnenapparat drehen, schieben, verzaubern lässt. Voller Einsatz, um Magie in diese angespannte Zeit zu glitzern. Alles beginnt mit einem putzigen Holzhaus, das sich wie von Geisterhand hin und her wendet. Bis das Publikum ins Innere der Hütte blickt: Hier erzählt der Großvater seiner Enkelin Gerda, und auch ihrem Spielkamerad Kay, eine Geschichte. Allerdings lässt er sich jene Legende nur zögerlich aus der Nase ziehen, denn es ist eine gefährliche, die von Frost und erkalteten Herzen handelt. Am Nordpol lebe eine Schneekönigin, die verwandle alles zu Eis, was sie berührt. Da kommt es, wie es kommen muss: Diese kalte Gesellin fährt tatsächlich mit ihrem Schlitten heran – und schnappt sich Kay und seine Seele obendrein. Die Gefühle des Jungen? Ausgelöscht.
Selbst ist die Frau in diesem Stück – aber auch im Guten: Gerda (herzig: Neele Schmidt) macht sich tapfer auf die Suche nach ihrem verschwundenen Freund. Natürlich dreht sich das Märchen im Kern um Treue und Liebe. Zauberhaft aber sind die Abenteuer-episoden am Wegesrand: Eine Blumenfrau nimmt Gerda in Haft, will dass sie Wurzeln schlägt – wortwörtlich, da kennt die Dame im begrünt-pompösen Floral-kostüm keine Skrupel. Doch drei tanzende Blumen-männer in bunten Reifröcken befreien das Mädchen. Weitere Weggefährten, mal grob, aber oft hilfsbereit: Eine Räuberbande, die in uriger Burgkulisse haust, ein Rabe („raaabraaaab“) und ein treuliebes Rentier. Eine Kostümparade bricht aus, als Gerda Kays Spur bis ins Gemach einer Prinzessin verfolgt. Die bildet mit ihrem Traumprinzen ein extrem quasselfreudiges, eitles Duo. Immerhin: Eine goldene Kutsche leihen sie Gerda für die große Suche.
Klingt nach einem ausufernden Ensemble? Das täuscht. Die Kostümwechsel müssen nur flott gelingen: Anna Oussankina spielt Schneekönigin, Blumenfrau, Prinzessin und Räubertochter, nacheinander. Den Kay gibt Jan Walter ebenso wie den Räuberchef und Nils Willers ist mal Großvater, dann Narzisse, bald Rabe. Dass Ferdinand Reitenspies sowohl das Rentier spielt als auch den Prinzen – kann einem leicht entgehen, so glatt gelingt der Wechsel.
Regisseur Alexander Flache hält in der Bilderwelt die Balance zwischen düsteren Frost-momenten, ulkigen Einfällen und der Liebe als Leitmotiv. Eisklötze gleiten aus dem Nichts ins Bild und Wälder tauchen plötzlich aus dem Boden auf. Auch solide Gesangseinlagen beinhaltet das Stück. Doch bei allen Tricks – oft begeistern eben die kleinen Dinge: „Ist das echter Schnee?“, fragt ein Junge in Reihe sechs. „Vielleicht“, murmelt sein Sitznachbar und bestaunt, wie es auf die Bühne rieselt. Und diese Kinder reagieren: Jeden Bühnenkuss quittieren sie mit pikierten „Iiiiih“und als Gerda fragt, wo Kay nur abgeblieben sei – gibt das Publikum sachdienliche Hinweise. Sowieso gilt das größte Kompliment den Kindern, die zum allergrößten Teil mit Geduld ihre Masken immer aufbehielten, über die volle Stückdauer.
1844 schrieb Märchenkönig Hans
Christian Andersen diese Erzählung über die Macht der Freundschaft – und schuf so, ohne es zu ahnen, die Vorlage für Disneys Kinokracher „Frozen“. Eine historische Randnotiz überrascht da, nach dem ehrlich begeisterten Applaus von vielen kleinen Patschehändchen in Ulm: „Die Schneekönigin“stieß in Andersens Heimat Dänemark zuerst auf wenig Liebe. Kritiker fanden, das Werk sei nicht gut für Kinder geeignet. Die Ulmer Version scheint aber voll ins Herz des Publikums zu treffen.