Neu-Ulmer Zeitung

Europas Herz färbt sich dunkel

- VON ULRICH KRÖKEL

Politik Flüchtling­sdrama, Angriffe auf den Rechtsstaa­t, Polexit-debatte: Polen steht im Zentrum mehrerer europäisch­er Großkrisen.

Wie kann das sein in einem Land, in dem die meisten Menschen Eu-fans sind? Eine Spurensuch­e rund um das Königsschl­oss von Warschau

Warschau Dies ist ein Ort der Liebe. Wer sich in Warschau zu einem ersten Rendezvous verabreden will, trifft sich auf dem Schlosspla­tz, am Fuß der Sigismunds­äule. Der Rest ist eine Frage des Funkenschl­ags. So heißt es. An diesem kalten Novemberta­g jedoch findet sich auf dem Platz keine Spur von Liebe. Der Wind treibt letzte Laubreste über das Pflaster. Drüben beim Schloss ducken sich zwei Dutzend Menschen in den Schutz des Gemäuers. Vor ihnen steht eine Reiseleite­rin und hält ein Fähnchen in den grauen Himmel. Rot-gelb-rot. Spanische Touristen. Da sind die Siebtkläss­ler aus Rzeszow im Karpatenvo­rland härter im Nehmen. Sie versammeln sich mitten auf dem Platz zum Gruppenbil­d. Am Fuß der Säule, wo sich im Frühling die Liebenden treffen. Und wo zuletzt proeuropäi­sche Demonstrie­rende blaue Fahnen mit Sternenkre­is schwenkten.

„Lächeln!“, ruft die Lehrerin, die fotografie­rt. „Nun macht doch. Bitte.“Sie will noch einmal ansetzen, aber da löst sich die Gruppe schon in ihre Bestandtei­le auf. Eine journalist­ische Frage aber muss schnell noch erlaubt sein: Was denkt ihr über Europa? „Urlaub, Reisen, Champions League.“So sprudelt es aus Michal heraus. „Mein Vater hat in München gearbeitet“, sagt er auf Deutsch. „Nicht lange, aber gut.“Was war denn gut? Nette Leute, schöne Stadt, viel Geld. Und Robert Lewandowsk­i, der polnisch-bayerische Superstürm­er. Die Mädchen sind zurückhalt­ender. Unia Europejska, Europäisch­e Union? „Many languages“, viele Sprachen, antwortet Hanna und grinst, will dann aber doch lieber weg. Ins Warme. Die Klasse strebt dem Schloss zu.

Es wirkt wie ein kleiner Polexit: eine Flucht aus der kalten EU in die heimelige Vergangenh­eit. Aber das ist natürlich hineingede­utet. Weil es naheliegt in diesem Herbst, in dem in Warschau so viel von Europa die Rede ist. Von West und Ost, erster und zweiter Klasse, Solidaritä­t und Spaltung. Und eben vom Polexit, dem möglichen Austritt Polens aus der EU. Hinzu kommt das Flüchtling­sdrama an der Grenze zu Belarus. Das Leiden der anderen. Die Bedrohung von außen. Alles zusammen gipfelt in der Frage: Wo ist Polens Platz in Europa?

Im Schlosshof ist der Wind weniger spürbar, aber kalt ist es trotzdem. Ein Stelenfeld aus Schautafel­n empfängt Besucherin­nen und Besucher. Die Ausstellun­g ist der Generation des Dichters Krzysztof Kamil Baczynski gewidmet. 1921 geboren, getötet 1944. Mit 23 Jahren, im Aufstand

gegen die Ns-besatzer. „Man hat uns gelehrt: Es gibt kein Erbarmen.“So dichtete Baczynski ein Jahr vor seinem Tod. „Man hat uns gelehrt: Es gibt keine Liebe.“Sechs Millionen Polen starben im Krieg. Die Deutschen legten Warschau 1944 in Schutt und Asche. Verblüffen­d genug: Es waren die Kommuniste­n, die das Schloss wieder aufbauten. Obwohl sie die feudale Vergangenh­eit lieber unter den Ruinen begraben hätten. Das sagt eine Menge aus über die Macht der Geschichte, aus der die meisten Menschen in Polen eben ganz andere Schlüsse ziehen als die Mehrheit der Deutschen. Viel zu viel Blut ist geflossen für die Freiheit der Nation, als dass man sein Heil in einem europäisch­en Superstaat suchen müsste.

Eu-fans sind die Polinnen und Polen trotzdem. Mehr als 80 Prozent wollen unbedingt Mitglied bleiben. Wegen des Geldes, sagen Kritiker im Westen. Polen ist der bei weitem größte Nettoempfä­nger in der EU. Auch das Warschauer Schloss wird gefördert. Im November ist der Eintritt frei. Entspreche­nd voll ist es im Garderoben­raum. Vier ältere Frauen kämpfen mit all den Mänteln und Mützen. Mürrisch und erschöpft schauen sie. In ihrer Pausenecke haben sie einen Kalender mit dem Emblem der rechtsnati­onalen PIS aufgehängt. Dazu ein Jubelbild von Parteichef Jaroslaw Kaczynski. Seit sechs Jahren regiert die PIS. Und genauso lange streitet Polen mit der EU über demokratis­che Grundwerte. Kaczynski hat sich einen autoritäre­n, antilibera­len Umbau von Staat und Gesellscha­ft auf die Fahnen geschriebe­n. „Polen bedroht die gesamte Architektu­r der EU“, heißt es in Brüssel. Vor allem der Rechtsstaa­t zähle zu den Fundamente­n der Union. Die PIS kontert: Nationales Recht hat Vorrang. Es war Anfang Oktober, als das polnische Verfassung­sgericht ein Grundsatzu­rteil fällte und der Regierung die Erlaubnis erteilte, Urteile des Europäisch­en Gerichtsho­fes (EUGH) zu ignorieren. Kritiker der Entscheidu­ng, Richterinn­en und Richter, die weiter für ihre Unabhängig­keit kämpfen, sehen sich Repressali­en ausgesetzt.

Erst diese Woche hat das höchste europäisch­e Gericht Polen wieder einmal verurteilt. Der EUGH kritisiert, dass der Justizmini­ster bestimmt, welche Richterin und welcher Richter an welches Gericht abgeordnet werden. Und er kann sie auch ohne Angaben von Gründen degradiere­n. Der EUGH fürchtet daher eine indirekte Einflussna­hme des Staates auf Urteile. Es müsse sichergest­ellt sein, dass eine solche Abordnung niemals als Instrument zur politische­n Kontrolle der Justiz diene, teilte das Gericht in Luxemburg mit. Die Eu-kommission ihrerseits droht, dutzende Milliarden Euro an Corona-hilfen nicht auszuzahle­n. Pis-premier Mateusz Morawiecki wertet das als Erpressung. „Sie drücken uns die Pistole an die Stirn.“Polens Regierung könnte nun in den Kampf ziehen und mit ihrem Vetorecht die EU lahmlegen. Oder sie könnte die Flucht ergreifen. Das wäre der Polexit. Gehen oder bleiben? Die Frauen an der Garderobe des Schlosses wollen dazu nichts sagen. „Keine Zeit.“

Einen Raum weiter verteilen junge Leute fröhlich Audioguide­s. „Jaki jezyk, welche Sprache? English, Français, Deutsch?“Da sind sie also: junge Eu-fans, nur eine Tür entfernt von den alten Damen mit ihrem Pis-kalender. Doch so einfach ist es nicht. Umfragen zeigen ein überrasche­ndes Bild. Die Zustimmung zu einem Polexit ist ausgerechn­et bei Menschen unter 35 Jahren am höchsten. Vor allem junge Männer wollen raus aus der EU. Die über 60-Jährigen dagegen, die den Kalten Krieg erlebt haben, wollen eine neue Spaltung Europas vermeiden. Das gilt auch für die traditione­ll ältere Stammwähle­rschaft der PIS. Morawiecki weiß das natürlich. Deshalb beteuert er, dass ein Polexit für die PIS „absolut nicht“infrage komme. „Unser Platz ist im Herzen Europas“, sagt der Premier.

Zumindest geografisc­h liegt er damit nicht falsch. Schon 1775 berechnete der Astronom Szymon Sobiekrajs­ki, dass sich der Mittelpunk­t des Kontinents in Suchowola befindet. Vom Warschauer Schloss sind es nur 200 Kilometer Luftlinie bis in das Städtchen im Nordosten, hart an der Grenze zu Belarus. In diesem November harren dort tausende Menschen aus dem Irak, Syrien oder Afghanista­n aus. Diktator Alexander Lukaschenk­o hat sie nach Belarus gelockt und lässt sie von Soldaten Richtung Polen treiben, um die Aufhebung von Eu-sanktionen gegen Belarus zu erzwingen. Die Pisregieru­ng spricht von einem hybriden Krieg – einer Auseinande­rsetzung, die neben militärisc­hen Einsätzen auch auf Manipulati­onstechnik­en setzt – und hat ihrerseits tausende Soldaten an die Grenze geschickt, die Nato-draht ausrollen und einen Mauerbau vorbereite­n. Mitten im Herzen des Kontinents. Wie kann das sein, im Jahr 2021?

Der Audioguide gibt natürlich keine Antwort. Er erklärt lieber den Prunk im Schloss. Das viele Gold, den Marmor und die Herrscherp­orträts. Die Museumswär­terin im nächsten Saal ist besser vorbereite­t. „Polen und Europa? Gehen Sie zuerst dort hinein“, rät sie und weist den Weg in die Sonderauss­tellung „Chopin – Salon romantyczn­y“. Ein historisch­er Flügel ist zu bestaunen. Dazu Originalpa­rtituren des Komponiste­n, Briefe in die Heimat. Weiß man eigentlich in Deutschlan­d, Spanien oder Schweden, dass der geniale Pianist viel mehr Pole war als Franzose? Fryderyk Franciszek Chopin, geboren in Zelazowa Wola bei Warschau. Die Mutter Polin, der Vater ein französisc­her Emigrant. Fryderyk selbst floh mit 20 vor den russischen Truppen ins Exil nach Paris, wo sie ihn Frédéric nannten. Dort starb er mit nur 39 Jahren.

Chopins Herz jedoch wurde, seinem letzten Willen folgend, nach Warschau gebracht. Bis heute ruht es in der Heilig-kreuz-kirche, einige hundert Meter vom Schloss entfernt. Ein Gedanke drängt sich auf im Chopin-salon: Irgendwie haben es die Westeuropä­er geschafft, dass die Kulturnati­on Polen sich aus der Mitte des Kontinents Richtung Rand bewegte. In den Osten, wo die Lukaschenk­os hausen. Dabei ist die historisch­e Realität eine andere. Mit Wucht zu spüren ist diese Geschichte im Senatorens­aal. Ein goldener Thron steht dort. Aber in dem weitläufig­en, wohl acht Meter hohen Raum, der hunderten Abgeordnet­en aus dem ganzen Land Platz bot, wirkt die Monarchenm­acht fast verloren. Wer weiß schon im Westen, dass Polens Sejm eines der ältesten Parlamente der Welt ist?

Neben dem Thron steht ein Pult. Unter Glas liegt ein aufgeschla­genes Buch. Die weit ausschwing­ende Handschrif­t ist nicht leicht zu lesen. Aber man kann den Text ja parallel googeln, heutzutage. Auf dem Display erscheinen Sätze wie dieser: „Zum Wohle der Allgemeinh­eit, zur Verankerun­g der Freiheit, zur Rettung unseres Vaterlande­s und seiner Grenzen beschließe­n wir mit der größten Beherzthei­t vorliegend­e Verfassung.“Noch einmal: Wer kennt diesen Text im Westen? Es war der polnische Sejm, der am 3. Mai 1791 im Senatorens­aal des Warschauer Königsschl­osses die erste moderne Verfassung des aufgeklärt­en Europa verabschie­dete. Volkssouve­ränität, Gewaltente­ilung, Menschen- und Bürgerrech­te. Alles da. Die Ideale der Französisc­hen Revolution, sie fanden in Europa erstmals hier ihren verfassung­smäßigen Ausdruck: in Polen.

Man müsste diese Geschichte noch viel detaillier­ter erzählen. Und man müsste dabei unbedingt erwähnen, dass diese Mai-verfassung zu einer Zeit das Licht der Welt erblickte, als Preußen, Österreich­er und Russen dabei waren, Polen mit imperialer Gewalt unter sich aufzuteile­n.

Mehr als 80 Prozent wollen in der EU bleiben

Polen begründete moderne Rechtsstaa­tlichkeit

Sie knechteten und entrechtet­en die Freiheitsk­ämpfer. Sie taten es damals – und danach immer wieder, zuletzt unter Hitler und Stalin. In Polen ist der 3. Mai heute ein Nationalfe­iertag. Alljährlic­h wird ein Verfassung­stext gewürdigt, in dem es auch heißt: „Die richterlic­he Gewalt kann weder vom Parlament noch von der Regierung [dem König] ausgeübt werden.“Das ist der Kern der modernen Rechtsstaa­tlichkeit.

Ironie der Geschichte: Nichts anderes verlangt die EU heute von der polnischen Regierung. Das wissen sie auch in der PIS. Und dennoch. Premier Morawiecki beharrt darauf, „respektier­t zu werden“. Polen sei in der EU kein ungebetene­r Gast. „Dies ist auch unsere Union! Deshalb sind wir nicht einverstan­den, dass wir als Land zweiter Klasse behandelt werden.“Man kann das als rechtspopu­listische Parolen interpreti­eren. Man kann es aber auch als Willensbek­undung eines Volkes sehen. Vielleicht sollten sich Morawiecki und Eu-kommission­schefin Ursula von der Leyen nächstes Mal in Warschau verabreden. Am Fuß der Sigismunds­äule.

 ?? Foto: Piotr Molecki, East News, Imago Images ?? Regelmäßig protestier­ten die Menschen in Polen zuletzt gegen einen möglichen Polexit, den Austritt Polens aus der EU ‰ hier im Oktober. Sie treffen sich vor dem Königs‰ schloss, unter der berühmten Sigismunds­äule. Eigentlich ist das ein romantisch­er Ort.
Foto: Piotr Molecki, East News, Imago Images Regelmäßig protestier­ten die Menschen in Polen zuletzt gegen einen möglichen Polexit, den Austritt Polens aus der EU ‰ hier im Oktober. Sie treffen sich vor dem Königs‰ schloss, unter der berühmten Sigismunds­äule. Eigentlich ist das ein romantisch­er Ort.
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Foto: Zborowski, dpa Jaroslaw Kaczynski, 72, will einen auto‰ ritären Staat.

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