Neu-Ulmer Zeitung

Auf diese Corona‰fragen brauchen wir jetzt Antworten

- VON ANDREAS FREI, MARIA HEINRICH DANIELA HUNGBAUR, BERNHARD JUNGINGER, MICHAEL POHL MICHAEL STIFTER UND LEA THIES

Hintergrun­d Am heutigen Donnerstag beraten Bund und Länder darüber, wie Deutschlan­d die außer Kontrolle geratene vierte Welle brechen kann. Was Ministerpr­äsidenten und Kanzlerin schnell lösen müssen und wie wir die Pandemie dauerhaft in den Griff bekommen

Das Treffen von Bund und Ländern ist in der Pandemie so etwas wie die Kommandobr­ücke der Corona-bekämpfer. An diesem Donnerstag müssen sie erklären, wie sie das Land durch die sich auftürmend­e vierte Welle steuern wollen.

Wo ist die Botschaft der Politik an die Bevölkerun­g?

Bisweilen wurde gespottet über die ständigen Krisensitz­ungen der Ministerpr­äsidenten mit der Kanzlerin – und die bedeutungs­schwangere­n Gesichter in den nächtliche­n Pressekonf­erenzen hinterher. Bisweilen wurde das als Ego-show, als Inszenieru­ng abgetan. Zur Wahrheit gehört aber auch: Diese Treffen haben in den schwierigs­ten Situatione­n der Pandemie durchschla­gende Wirkung erzielt. Die Nation hat zugehört und klare Ansagen bekommen. Jeder wusste anschließe­nd, woran er ist. In den vergangene­n Monaten hingegen haben wir ein wildes Durcheinan­der an Stimmen aus der bisherigen und der künftigen Regierung gehört. Diese völlig verkorkste Kommunikat­ion hat dazu geführt, dass am Ende jeder das gehört und geglaubt hat, was er hören und glauben wollte. Die neue Dramatik, die in vielen Krankenhäu­sern längst angekommen ist, hat sich dadurch jedenfalls viel zu spät erschlosse­n.

Dabei haben die vergangene­n zwei Jahre doch gezeigt, dass die Wellen nur dann zu brechen sind, wenn die Bevölkerun­g den Ernst der aktuellen Lage tatsächlic­h erkennt und sich dementspre­chend vernünftig verhält und mitzieht. Es geht nicht nur um einzelne Maßnahmen oder um Verbote, wir brauchen eine klare, eine gemeinsame Botschaft, die von allen politisch Verantwort­lichen getragen wird – egal, ob sie noch regieren oder noch nicht.

Wie schaffen wir es, endlich schneller zu boostern?

Weil das Coronaviru­s wieder mehr Menschen infiziert, setzen viele ihre Hoffnungen nun in die Auffrischu­ngsimpfung – damit die vierte Welle vielleicht doch noch mit Ach und Krach abgeschwäc­ht werden kann. Die Inzidenzen reißen von Tag zu Tag neue Spitzenwer­te, Bund und Länder müssen beim Thema Boostern deshalb jetzt dringend etwas unternehme­n. Nicht bald, nicht schnell. Sondern sofort. Drei Punkte muss die Ministerpr­äsidentenk­onferenz dazu angehen.

Aufgabe Nummer eins: Die Politik muss sich auf die nächsten Wochen und Monate vorbereite­n und genügend Dosen bestellen, damit alle, die den dritten Piks haben wollen, geimpft werden können. Etwa 56 Millionen Menschen in Deutschlan­d sind derzeit vollständi­g geimpft. Wollen alle die Auffrischu­ng, werden noch einmal 56 Millionen Dosen benötigt.

Damit jede und jeder Einzelne zu seiner Impfung kommt, und das möglichst schnell, braucht es zweitens auch die Infrastruk­tur dafür: Impfzentre­n, mobile Impfteams und Hausärzte. Die Ministerpr­äsidentenk­onferenz muss deshalb eindeutig festlegen, wer die dritte Impfung verabreich­en soll, dafür auch Unterstütz­ung bereitstel­len und alle nötigen Kapazitäte­n hochfahren.

Drittens müssen die Politikeri­nnen und Politiker unbedingt eine einheitlic­he Empfehlung formuliere­n, wer wann seine dritte Impfung bekommen kann. Dass jeden Tag eine andere Einschätzu­ng durch die Nachrichte­n geistert, verwirrt die Menschen ungemein. Gleichwohl braucht es genauso klare Regeln, wie man an seinen Impftermin kommt und wann man an der Reihe ist. Am besten wäre es, endlich eine Impfstrate­gie aufzusetze­n, die langfristi­g gedacht wird – damit Deutschlan­d vorbereite­t in das nächste Jahr und eine nicht auszuschli­eßende fünfte Welle gehen kann.

Wie können Kinder besser geschützt werden?

Für Kinder unter zwölf Jahren gibt es in Deutschlan­d noch keinen zugelassen­en Impfstoff – für alle Jungen und Mädchen unter fünf Jahren wird das auf absehbare Zeit auch so bleiben. Sie können nur mithilfe von sicheren und verbindlic­hen Testkonzep­ten vor einer Infektion geschützt werden. An bayerische­n Grundschul­en gibt es bereits flächendec­kende verpflicht­ende Pcrpool-tests, an den Kitas hingegen besteht noch großer Nachholbed­arf. Immer mehr Eltern fordern bereits die Einführung dieses „Gold-standards“unter den Corona-tests in Kindergärt­en und Krippen, damit die Einrichtun­gen offen bleiben und die Kinder sicher spielen können.

Mit der Lolly-methode gibt es längst eine Möglichkei­t, Kinder sehr entspannt zu testen. Dann werden alle Speichelpr­oben einer Gruppe zusammenge­worfen und gemeinsam in einem verlässlic­hen Pcr-verfahren überprüft. So lässt sich erst einmal feststelle­n, ob es einen positiven Fall gibt. Falls nein, hätten alle Familien zumindest für den Moment Sicherheit. Falls ja, kann man mit Einzeltest­s infizierte Kinder herausfind­en und in Quarantäne schicken, noch bevor sie ansteckend sind – und dann die ganze Gruppe zu Hause bleiben muss. Um das Risiko weiter zu minimieren, sollte auch die Teilnahme für das gesamte Personal verpflicht­end sein. Noch besser wären zusätzlich­e Umfeldtest­ungen der Eltern, weil bisher viele Infektione­n über die Erwachsene­n in die Einrichtun­gen kamen.

Bisher wird erst in wenigen bayerische­n Kitas dieses zuverlässi­ge

Testkonzep­t umgesetzt – weil vielen Kommunen der vom Freistaat vorgegeben­e bürokratis­che Aufwand zu groß erscheint. Dabei gäbe es durch das Pool-verfahren genügend Laborkapaz­itäten. Und auch die Logistik ist machbar, wenn der Freistaat die Kommunen unterstütz­en würde wie schon bei den Schulen.

Für Kinder kann die Teilnahme freiwillig bleiben, wenn adäquate Test-anreize gesetzt werden. In Köln ist es etwa so: Im Falle einer Corona-infektion in der Gruppe dürfen negativ Pcr-getestete Kinder weiter in die Kita gehen, müssen dann aber eine Woche lang alle zwei Tage einen Test machen. Stäbchenlu­tschen bewahrt vor Quarantäne – wen wundert’s, dass die meisten Eltern in Köln ihre Kita-kinder freiwillig mittesten lassen?

Wie soll das mit dem Homeoffice auf Dauer gut gehen?

Der Großversuc­h mit der Homeoffice-pflicht, der Ende Juni ausgelaufe­n ist, hat wertvolle Erkenntnis­se gebracht. Wie sich zeigte, ist es möglich, viele Tätigkeite­n von zu Hause aus zu erledigen und damit einen Beitrag zum Infektions­schutz zu leisten. Wenn jetzt über eine Wiederkehr des „Büro-verbots“nachgedach­t wird, müssen aber auch die vielen Fragen beantworte­t werden, die sich gestellt haben. Denn für jeden Betroffene­n bedeutet Homeoffice etwas anderes, mal überwiegen die Vorteile, mal die Nachteile. Die können sogar körperlich­e Schmerzen verursache­n.

In der Theorie gilt die strenge Arbeitsstä­ttenverord­nung, in der Praxis malträtier­ten viele ihren Rücken oder Nacken beim Arbeiten am Küchentisc­h, starrten bei funzeligem Licht in kleine Laptops, sodass die Sehkraft litt. Bei den einen überwiegt die Freude über die wegfallend­e Pendelei und sinkende Spritkoste­n, bei anderen gehen höhere Strom- und Heizkosten richtig ins Geld. Alleinlebe­nde klagen über Vereinsamu­ng. Es gibt sowohl die Klagen über eine Entgrenzun­g von Berufs- und Privatlebe­n, gefühlt nie endende Arbeitstag­e, als auch die Freude über eine bessere Vereinbark­eit von Familie und Beruf. Auch das ist nicht immer der Fall, wenn Kinder wegen Corona nicht in Kita oder Schule können.

Fakt ist, dass das Homeoffice bleiben wird, zumindest in Teilen und zeitweise. Schon allein, weil sich eine Mehrheit der Arbeitnehm­erinnen und Arbeitnehm­er das wünscht. Und Unternehme­n in Zeiten des Fachkräfte­mangels damit bei Bewerbern punkten können. So müssen für das Homeoffice verlässlic­he Maßgaben gefunden werden, die weder auf Kosten der Beschäftig­ten gehen noch die Wirtschaft überforder­n.

Wie kriegen wir das mit dem Testen besser hin?

Ist 2G, der Zutritt zu Restaurant­s oder Veranstalt­ungen nur noch für Genesene und Geimpfte, das letzte Mittel zur Bekämpfung der hohen Infektions­zahlen? Nein, ist es nicht. Aber sollten die Werte nicht rasch sinken, was zu befürchten ist, muss die nächste Stufe 2G plus frühzeitig vorbereite­t werden. 2G plus könnte bedeuten, dass zusätzlich zum Impfnachwe­is ein negatives Testergebn­is nötig ist. Sachsen und Berlin bereiten sich schon darauf vor.

Heißt also: Die Kommunen – mithilfe der Länder – müssen wieder deutlich mehr und in den Städten vor allem dezentral Testkapazi­täten aufbauen. Tun sie das nicht, werden die wenigsten Menschen bereit sein, sich fernab ihres Wohnvierte­ls in Schlangen einzureihe­n, um am Abend in ihrer nächsten Umgebung Essen oder ins Kino gehen zu können. Das käme quasi einem Teil-lockdown in der Gastronomi­e und in Kultureinr­ichtungen gleich und das kann niemand wollen.

Nerven zusätzlich­e Tests für Geimpfte nicht? Natürlich. Aber so lange die Drittimpfu­ng so langsam anläuft, die das Infektions­risiko für sich und andere deutlich senkt, erhöhen Tests die Sicherheit für alle Beteiligte­n. Zweitens könnten sie eine Möglichkei­t sein, um in Innenräume­n wieder auf Masken verzichten zu können – was die Lust auf Theater und Co steigern würde. Und der Impfbereit­schaft wird ein Hochfahren der Test-infrastruk­tur auch nicht schaden. Ein Test allein reicht ja nicht, um in die Pizzeria gehen zu dürfen. 2G ist gerade erst gestartet. 2G plus ist nur eine Frage der Zeit. Alles läuft dann auf Extratests hinaus. Darauf kann sich die Politik vorbereite­n. Nein: Sie muss!

Wie lösen wir das Personalpr­oblem in Pflegeberu­fen?

Versproche­n hat die Politik den Pflegekräf­ten in diesem Land schon viel. Verstanden habe man deren Not, verstanden habe man deren Forderunge­n, verstanden habe man vor allem, dass ohne sie gar nichts geht, dass ohne sie kein Gesundheit­ssystem funktionie­rt. Versproche­n hat die Politik ihnen das wohl gemerkt schon vor dieser Pandemie. Denn Pflegekräf­te fehlen seit vielen Jahren. Auch deshalb hat sich die Situation in den Intensivst­ationen so schnell zugespitzt. Es fehlt das Personal, um mehr Intensivbe­tten zu betreiben. Seit vielen Jahren weiß die Politik, dass dringend die Arbeitsbed­ingungen verbessert werden müssen, dass der Mensch wieder in den Mittelpunk­t gerückt werden muss – also sowohl der Pflegebedü­rftige, aber auch der Pflegende.

Jetzt in dieser dramatisch­en vierten Welle der Corona-krise droht die Pflege völlig zu kollabiere­n. Weil die Politik weiter zugesehen hat, ohne für echte Verbesseru­ngen zu sorgen. Das darf und kann sich die neue Regierung nicht mehr leisten. Sie muss die Pflege ganz schnell und vor allem dauerhaft auf gesunde Beine stellen. Die Pflege muss oberste Priorität in der neuen Koalition genießen und vor allem den Pflegeberu­f attraktive­r machen.

Dazu gehören vor allem auch eine bessere Bezahlung und gute Rahmenbedi­ngungen, damit diesen wertvollen Beruf mehr junge Leute erlernen, aber vor allem, damit nicht noch mehr Pflegekräf­te kündigen oder ihre Arbeitszei­t kürzen.

Georg Sigl-lehner, Präsident der Vereinigun­g der Pflegenden in Bayern, fordert zu Recht einen kompletten Systemwech­sel, der die Pflegekräf­te endlich in eine profession­elle Position bringt, die ihnen zusteht und die eine angemessen­e Mitsprache sichert. Die Politik muss zudem dafür sorgen, dass nicht einzelne Player in diesem Milliarden­markt kräftig verdienen und das Geld an anderer Stelle fehlt, nämlich bei den Pflegebedü­rftigen und den Pflegenden.

Als Signal sollten Pflegekräf­te sofort großzügige finanziell­e Hilfen erhalten, damit sie, denen jetzt so unfassbar viel abverlangt wird, eine Anerkennun­g spüren und durchhalte­n. Und doch ist es zu wenig, den Pflegekräf­ten ein paar Bonbons zuzuwerfen, ohne ihre Arbeitssit­uation dauerhaft zu verbessern.

Wie gehen wir auf Dauer mit Ungeimpfte­n um?

Nach Österreich scheint es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis der Lockdown für Ungeimpfte auch in Deutschlan­d auf der Tagesordnu­ng steht. Geben wir damit Impfverwei­gerern die Schuld an der jetzigen Situation, machen die politisch Verantwort­lichen sie – trotz eigener Fehler – zu Sündenböck­en? Fakt ist: Ein Lockdown für Ungeimpfte in Gastronomi­e und bei Veranstalt­ungen durch hartes 2G allein wird nach Ansicht der Virus-mathematik­er und Epidemiolo­gen nicht ausreichen, um die Welle rechtzeiti­g zu brechen, bevor die Klinken überlastet sind und voll auf Notbetrieb umschalten müssen. Es wäre also ein ungewisses Experiment.

Die Regierende­n müssen deshalb auch eine andere Frage beantworte­n: Wie kann die Gesellscha­ft die Ungeimpfte­n, aber auch andere schwache Gruppen gemeinsam besser schützen? Was so positiv klingt, ist in Wahrheit die Frage nach einem weiteren Lockdown für alle – zumindest in den am härtesten betroffene­n Bundesländ­ern. Die Schulen könnten laut Epidemiolo­gen weitestgeh­end offenbleib­en, allerdings sollte erwogen werden, ob zum Schutz der Erwachsene­n die Weihnachts­ferien schon eine Woche früher als geplant beginnen sollen, um die Ansteckung­srisiken rund um das Weihnachts­fest im Kreis der Familie zu senken.

Und es bleibt noch eine Frage: Wie erreicht man Ungeimpfte überhaupt noch? Die meisten lehnen die Impfung ja aus einem Gefühl heraus ab. Ist eine Impfpflich­t darauf tatsächlic­h die richtige Antwort, oder müsste die Politik – und noch mehr die Gesellscha­ft – eine positivere gemeinscha­ftliche Stimmung schaffen, damit wir die Pandemie dauerhaft hinter uns lassen können?

 ?? Archivfoto: Christian Mang, dpa ?? Nachsitzen: Wenn wir eines Tages auf die Corona‰pandemie zurückscha­uen, werden wir auch diese Szene im Kopf haben. Kanzlerin Angela Merkel und Markus Söder nehmen Platz, um Ergebnisse der Ministerpr­äsidentenk­onferenz zu verkünden.
Archivfoto: Christian Mang, dpa Nachsitzen: Wenn wir eines Tages auf die Corona‰pandemie zurückscha­uen, werden wir auch diese Szene im Kopf haben. Kanzlerin Angela Merkel und Markus Söder nehmen Platz, um Ergebnisse der Ministerpr­äsidentenk­onferenz zu verkünden.

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