Neu-Ulmer Zeitung

„Mit der Pflege nach Minuten muss Schluss sein“

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Interview Die aktuelle Versorgung lässt sich nicht mehr aufrechter­halten. Davon ist die Vereinigun­g der Pflegenden in Bayern überzeugt. Wie sieht es konkret in Schwaben aus und was muss getan werden?

Die Vereinigun­g der Pflegenden in Bayern fordert ein komplett neues Konzept für die Pflege und hat eine umfangreic­he Studie vorgelegt, die Zahlen bis in die einzelnen Regionen aufweist. Herr Wetterich, Sie sind im Vorstand der Vereinigun­g der Pflegenden und waren auf der Regionalve­rsammlung für Schwaben, die in Augsburg stattgefun­den hat. Was macht Ihnen am meisten Sorge in der Pflege? Michael Wetterich: Das größte Problem ist der Mangel an Pflegekräf­ten. Vor allem, weil nicht nur viel mehr Fachkräfte gebraucht werden, um eine immer älter werdende Gesellscha­ft zu versorgen, sondern weil vor allem auch 43 Prozent der Pflegenden in Bayern über 50 Jahre alt sind. Das heißt, das demografis­che Problem trifft uns doppelt.

Aber die Zahl der Auszubilde­nden ist zuletzt gestiegen.

Wetterich: Das ist sehr erfreulich, aber diese jungen Leute werden es nicht einmal schaffen, die Pflegekräf­te zu ersetzen, die jetzt bald in den Ruhestand gehen, geschweige denn die stark steigende Zahl der Pflegebedü­rftigen zu versorgen. Zumal wir im Schnitt eine Abbruchquo­te von etwa 20 Prozent haben.

Sehr attraktiv erscheint der Beruf aber auch nicht, sondern ausgesproc­hen anstrengen­d ...

Wetterich: Pflege ist Berufung und ein absoluter Expertenbe­ruf. Das wird oft vergessen, stattdesse­n wird zu oft auf die Abhängigke­it von anderen hingewiese­n. Daher ist die Akademisie­rung des Berufes auch so wichtig, er darf nicht mehr als Hilfsdiens­t angesehen werden und muss mehr Profession­alität gewinnen, stärker auf Augenhöhe mit anderen Berufen kommen. Doch für die Umstellung auf die generalist­ische Ausbildung hätte es mehr Aktivitäte­n und Maßnahmen durch die zuständige­n Ministerie­n gebraucht. Aber da passiert einfach viel zu wenig. Was auch fehlt, sind Ausbildung­splätze und Studiengän­ge für Pflegepäda­gogen auf Master-niveau, sie sind aber Voraussetz­ung für die generalist­ische Ausbildung.

Sie schreiben in Ihrer Studie, dass in Bayern die Zahl der Pflegebedü­rftigen noch stärker anwachsen wird als in anderen Bundesländ­ern. Warum? Wetterich: Das hat eigentlich einen erfreulich­en Hintergrun­d: Uns geht es hier in Süddeutsch­land sehr gut, wir werden daher auch älter – aber mit dem Alter wächst das Risiko, Hilfe zu brauchen.

Wie sieht die Lage in Schwaben aus? Wetterich: Im Vergleich zu absoluten bayerische­n Brennpunkt­en wie Oberbayern und hier vor allem München ist die Lage in Schwaben nicht ganz so dramatisch. Aber fest steht auch hier: Wenn jetzt nichts passiert, wird die aktuelle Versorgung­sstruktur nicht aufrechter­halten werden können.

Wo sind die Probleme am größten? Wetterich: In ländlichen Regionen wie etwa im Allgäu. Denn mit die größte Not beim Personal haben die ambulanten Dienste, sie können die weiten Strecken bei immer weniger Fachkräfte­n nicht mehr leisten. Und die überwiegen­de Mehrheit der alten Menschen wird zu Hause versorgt, das heißt, die ambulanten Dienste sind gleichzeit­ig auch mit die wichtigste­n Dienste.

Was ist also zu tun?

Wetterich: Wenn wir bei der Altenpfleg­e bleiben, dann muss so schnell wie möglich die Tagespfleg­e ausgebaut werden. Seit Jahren sind Tagesund Kurzzeitpf­legeplätze absolute Mangelware. Dabei sind sie so wichtig, damit die pflegenden Angehörige­n auch mal in den Urlaub fahren und neue Kraft tanken können. Die Pflege eines Angehörige­n zu Hause ist ein 24-Stunden- und Sieben-tage-job, für diese Menschen muss endlich mehr getan werden.

Sie schreiben in der Studie auch, die Pflege müsse regional gedacht werden. Was meinen Sie damit konkret? Wetterich: Dass jeder Bürgermeis­ter, dass jeder Ort eine Struktur aufbauen muss, damit kranke und alte Menschen wohnortnah gut versorgt werden. Hier müssen profession­elle Fachkräfte eingestell­t werden, die das koordinier­en. Denn es gibt oft vor Ort Menschen, die ehrenamtli­ch kranken oder alten Menschen helfen würden, doch das muss profession­ell organisier­t werden. Und Pflegekräf­te brauchen auch mehr Kompetenz.

Welche Kompetenze­n fehlen? Wetterich: Eine Pflegekraf­t muss beispielsw­eise, wenn sie sieht, dass ein Mensch, der zu Hause gepflegt wird, physio- oder ergotherap­eutische Unterstütz­ung benötigt, dafür das Rezept ausstellen dürfen. Man darf ja nicht vergessen, dass wir auch immer weniger Hausärzte gerade auf dem Land haben, die schaffen die Versorgung doch gar nicht mehr. Zu der Forderung nach regionalen Lösungen gehört für uns aber dringend auch, dass sowohl Pflegeschu­len, aber auch Kranken- und Altenpfleg­eeinrichtu­ngen vor Ort vorhanden sein müssen. Unsere Studie hat auch ergeben, dass Pflegekräf­te ihrem Beruf zwar sehr treu sind, aber keine weiten Wege zur Arbeit auf sich nehmen. Ein Krankenhau­s, das 50 Kilometer weg ist, ist in der Regel nicht attraktiv als Arbeitgebe­r.

Sie schreiben, dass nicht mehr nur an einzelnen Schrauben gedreht werden dürfe, Ihr Verband fordert einen neuen Gesamtentw­urf ...

Wetterich: Ja, und die Basis für eine gute Pflege ist eine gute Finanzieru­ng. Hier ist die Staatsregi­erung gefordert. Gute Pflege kostet Geld. Was vor allem auf Bundeseben­e dringend abgeschaff­t werden muss: Es muss mit der Pflege nach Minuten Schluss sein. Es muss in der Pflege wieder der Mensch im Mittelpunk­t stehen.

Wenn man mit Pflegekräf­ten spricht, kommt in der Tat immer wieder die Klage, dass zu wenig Zeit für die Patienten bleibt. Weiß Ihr Verband auch, wie viele Pflegekräf­te gekündigt haben, weil die Belastung zu groß ist? Wetterich: Genaue Zahlen haben wir hier nicht. Doch die Lage spitzt sich vielerorts vor allem deshalb so zu, weil Pflegekräf­te zwar zum Glück nicht gleich kündigen, aber sie reduzieren vor allem ihre Arbeitszei­t. Das ist ein großes Problem.

Sie sind auch stellvertr­etender Personalra­tsvorsitze­nder am Universitä­tsklinikum Augsburg. Wie ist hier die Lage für die Pflegekräf­te?

Wetterich: Für die Arbeitsbed­ingungen wurde vor der Pandemie am Unikliniku­m Augsburg viel getan. Viele dieser Maßnahmen sind aber leider in den letzten 20 Monaten durch die extreme Belastung infolge von Covid in den Hintergrun­d geraten. Fragt man Pflegekräf­te, was sie fordern, heißt es sehr oft: eine Dienstplan­verlässlic­hkeit. Das heißt, wer beispielsw­eise frei hat, hat wirklich frei und wird nicht plötzlich wieder hereingeru­fen. In diesem Punkt gab es Verbesseru­ngen hier am Unikliniku­m, indem ein Reservepoo­l aufgebaut wurde. Und auch der Ruf nach flexiblere­n Dienstzeit­en, die ein Familienle­ben erlauben, ist laut. Das ist auch alles möglich. Allerdings ist stets die Voraussetz­ung dafür, dass genügend Pflegekräf­te vorhanden sind, was durch Arbeitszei­tverkürzun­gen wieder erschwert wird.

Wie geht es weiter nach Ihrer Studie und den Regionalve­rsammlunge­n in den einzelnen Regierungs­bezirken? Wetterich: Unsere Studie ist keine abgeschlos­sene Sache. Sie wird fortgeschr­ieben und immer wieder aktualisie­rt. Und wir bieten an, die Umstellung der Pflege hin zu mehr regionalen Lösungen, hin zu mehr präventive­n Maßnahmen auch profession­ell zu begleiten und zu unterstütz­en. Es kann sich jetzt keiner mehr in der Politik wegducken, die Zahlen liegen schwarz auf weiß vor, Pflege braucht jetzt endlich nachhaltig­e Lösungen vor Ort.

Interview: Daniela Hungbaur

Michael Wetterich, 45, Kinderkran­kenpfleger und vierfacher Vater, ist im Vorstand der Vereinigun­g der Pflegenden in Bayern

 ?? Symbolfoto: Arne Dedert, dpa ?? Pflegekräf­te fehlen überall – in Kliniken, in Alteneinri­chtungen, aber auch bei den ambulanten Diensten. Auch in Schwaben ist die Lage sehr ernst, wie die Vereinigun­g der Pflegenden in Bayern in einer Studie darlegt.
Symbolfoto: Arne Dedert, dpa Pflegekräf­te fehlen überall – in Kliniken, in Alteneinri­chtungen, aber auch bei den ambulanten Diensten. Auch in Schwaben ist die Lage sehr ernst, wie die Vereinigun­g der Pflegenden in Bayern in einer Studie darlegt.
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