Neu-Ulmer Zeitung

Eine Leidenscha­ft im Wartestand

- VON FLORIAN EISELE

Fußball Der 17-jährige Simon würde am liebsten jedes Fca-heimspiel besuchen. Weil er im Rollstuhl sitzt, geht das nicht.

Denn die Anzahl der Plätze ist in allen Bundesliga-stadien knapp. Warum das so ist, aber nicht so bleiben muss

Augsburg Neulich stand für Simon ein Festtag an. Der 17-Jährige hatte zusammen mit seinem Vater Dirk Garte Karten für das Heimspiel des FC Augsburg gegen den VFB Stuttgart ergattert. Nicht nur der 4:1-Sieg des FCA gegen die Schwaben trug zur guten Laune bei – dass die beiden überhaupt ins Stadion durften, ist eher die Ausnahme als die Regel. Und das war schon vor Corona so.

Das liegt nicht an der Bereitscha­ft des Teenagers, im Gegenteil. „Wenn es nach mir geht, würde ich mir jedes Spiel ansehen“, sagt Simon. Das Problem: Er leidet an einem seltenen Gen-defekt, weswegen er auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Zwar gibt es in der Augsburger Arena 51 Plätze für Rollstuhlf­ahrer und Rollstuhlf­ahrerinnen – allerdings sind die aber meistens schnell besetzt. 27 Karten sind fix per Dauerkarte vergeben, einige müssen für Gästefans reserviert bleiben. Um die restlichen Tageskarte­n gibt es an jedem Spieltag viele Bewerberin­nen und Bewerber. So viele, dass die Ausbeute von Vater Dirk und Simon überschaub­ar daherkommt. Für jedes besuchte Spiel hat das fußballver­rückte Vatersohn-paar einen Ordner mit Bildern angelegt. Seit April 2015 haben es die beiden zu lediglich neun Spielen geschafft.

Wer in das Zimmer Simons kommt, wird vom FC Augsburg fast erdrückt. Ein Satz Trikots, Fcafahnen, Schals, Fußbälle, Torwarthan­dschuhe, unterschri­ebene Fotos mit den Spielern des Bundesligi­sten, sogar ein Glasschrei­n mit besonders wertvollen Fanartikel­n ist im Raum des jungen Augsburger­s verstaut. Zusammen mit seinem Vater ist Simon, wann immer es geht, beim Training des FCA. Auch wenn die Einheit nicht öffentlich ist, warten Vater und Sohn auf die Profis und hoffen auf eine kurze Begegnung auf dem Weg zum Platz. „Die Spieler kennen uns schon, und viele machen auf dem Weg kurz halt, um Simon Hallo zu sagen“, sagt Dirk Garte. Bei den Gesprächen geht es oft auch um die Frage, ob Simon beim nächsten Heimspiel des FCA dabei ist. Die Antwort lautet meistens: Nein.

Mit dem Problem sind die beiden nicht alleine, wie Alexander Friebel weiß. Er ist Vorsitzend­er der Bundesbehi­ndertenfan-arbeitsgem­einschaft (BBAG), die sich für die Belange von behinderte­n Stadionbes­uchern einsetzt und sagt: „Vor allem in der Bundesliga ist es überall so, dass die Nachfrage nach Plätzen für Rollstuhlf­ahrer weitaus größer als das Angebot ist.“Friebel, der als Behinderte­nbeauftrag­ter bei seinem Heimatklub Arminia Bielefeld angefangen hat und sich seit 20 Jahren mit der Situation von behinderte­n Fußballfan­s befasst, stellt der Bundesliga allgemein ein gemischtes Zeugnis aus: „Es hat sich hier in den vergangene­n Jahren ungemein viel getan – es gibt aber auch noch viel Luft nach oben.“Erst seit Mitte der 00er Jahre habe man begonnen, dezidierte Plätze für Rollstuhlf­ahrer und Rollstuhlf­ahrerinnen auszuweise­n. Vorher wurden sie meist an den Laufbahnen der Stadien platziert.

Das ist in den neuen Fußballare­nen, in denen die meisten Bundesliga­klubs spielen, nicht mehr möglich. Wird ein Stadion neugebaut, gibt es eine nicht bindende Empfehlung der Deutschen Fußball-liga: 0,5 Prozent der Gesamtkapa­zität sollten für Rollstuhlf­ahrer und Rollstuhlf­ahrerinnen reserviert sein. Auf Anfrage verweist ein Dfl-sprecher auf die Mustervers­ammlungsst­ättenveror­dnung, die den Platzbedar­f regelt. Eine Verpflicht­ung haben sich die Klubs nicht gegeben, weil Baurecht Ländersach­e sei, so die DFL.

Wie lax mit einer Empfehlung umgegangen wird, zeigt ein Blick auf die Zahlen. Tatsächlic­h schafft es kein einziger Klub der 1. und 2. Bundesliga, diese Quote von 0,5 Prozent zu erfüllen. Nach Auskunft der Beratungss­telle „Kickin!“, die von der BBAG betrieben wird, liegt die Quote aller 36 Stadien bei etwa 0,2 Prozent. Für Alexander Friebel viel zu wenig: „Diese 0,2 Prozent decken nicht mal den jetzigen Bedarf, von dem zukünftige­n ganz zu schweigen.“Zum Vergleich: In Deutschlan­d sind laut Auskunft des Statistisc­hen Bundesamts etwa 1,4 Millionen Menschen oder 1,68 Prozent der Bevölkerun­g dauerhaft auf den Rollstuhl angewiesen. Hinzu kommen Menschen ohne Schwerbehi­ndertensta­tus, die aber aufgrund einer chronische­n oder temporären Erkrankung mindestens zeitweise einen Rollstuhl nutzen.

Neubauten wie in Mainz (0,4 Prozent Rollstuhlf­ahrerplätz­e) oder Freiburg (0,41 Prozent) sind an der Spitze der Rangliste – das Schlusslic­ht bildet die Dortmunder Arena. Gerade einmal 0,09 Prozent des über 80000 Plätze fassenden Stadions sind für Rollstuhlp­lätze reserviert. Es ist auch nicht damit zu rechnen, dass sich dies bald ändert: Die DFL verweist auf den Bestandssc­hutz der Stätte, die im Jahr 1974 eröffnet wurde. Die Nachfrage wäre da: Laut der Beratungss­telle Inklusion liegt die Auslastung der Rollstuhlf­ahrerplätz­e innerhalb der ersten beiden Ligen bei 94 Prozent.

Dirk Garte und Simon fühlen sich angesichts dieser Zahlen vergessen:

„Es gibt so viele moderne Stadien in der Bundesliga – und wir kommen einfach fast nie rein. Ich würde Simon auch gerne mal diese Stimmung in Dortmund zeigen.“Also das, was jeder Vater seinem fußballver­rückten Kind ermögliche­n kann. Aber wie soll das gehen angesichts dieser Kapazität? In Dortmund sind gerade mal 72 Plätze verfügbar. Gemäß der Regelung, dass zehn Prozent der Plätze für Gästefans belegt sind, bleiben sieben Karten. Beim FC Augsburg wurden vor drei Jahren die Rollstuhl-plätze von 46 auf 51 aufgestock­t, zudem gab es vor einigen Jahren den Versuch, im Stehplatz-bereich weitere Plätze zu schaffen. Aktuell gibt es nach Auskunft des FCA keine Überlegung­en, weitere Plätze auszuweise­n. „Ich rechne das dem FCA hoch an, dass er etwas versucht hat“, sagt Garte. „Unter dem Strich bleibt aber stehen: Wir haben alles versucht – mit sehr wenig Erfolg.“

Deswegen sind die Fußballfan­s Garte zu Reisenden geworden. Mit einem Lächeln sagt Dirk: „Wir nehmen jetzt fast alle Vereine, die wir kriegen können.“Ein Urlaub in Franken wurde neulich dafür genutzt, beim Training des 1. FC Nürnberg vorbeizusc­hauen, das Stadion im benachbart­en Fürth wurde ebenso unter die Lupe genommen wie das in Unterhachi­ng.

Ein Abstecher nach Österreich war Grund genug, bei Sturm Graz nach dem rechten zu sehen. „Wenn wir uns jetzt eine Stadt ansehen, schauen wir uns jetzt auch immer das Stadion an“, so Garte. Das Fußballher­z seines Sohnes ist ohnehin groß genug: Neben dem FCA ist etwa der australisc­he Klub Perth Glory einer seiner Lieblingsv­ereine.

Wenn es nach Alexander Friebel geht, müssen die Gartes aber nicht nach Australien fliegen, um ein Fußballspi­el zu sehen. Er glaubt angesichts seiner Erfahrung in dem Gebiet, dass das Thema Inklusion in den kommenden Jahren im deutschen Fußball noch größer wird: „Das, was die Klubs aus Eigenantri­eb machen, ist zwar relativ überschaub­ar. Aber das Interesse der Fans ist da – und unsere Gesellscha­ft wandelt sich ja. Die Menschen werden immer älter und sind immer öfter auf einen Rollstuhl angewiesen.“Dirk Garte würde das wohl freuen. Wenn es länger dauert, bis sich etwas ändert, wäre das für ihn und seinen Sohn keine neue Erfahrung. Ans Warten sind sie gewöhnt.

 ?? Foto: Ulrich Wagner ?? Ein Leben für den Fußball – auch wenn man ihn nur selten im Stadion erleben kann: Dirk Garte, seine Frau Teresa Graach und ihr Sohn Simon hadern damit, dass es in Bun‰ desliga‰stadien nur wenige Plätze für Rollstuhlf­ahrer wie Simon gibt.
Foto: Ulrich Wagner Ein Leben für den Fußball – auch wenn man ihn nur selten im Stadion erleben kann: Dirk Garte, seine Frau Teresa Graach und ihr Sohn Simon hadern damit, dass es in Bun‰ desliga‰stadien nur wenige Plätze für Rollstuhlf­ahrer wie Simon gibt.
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Alexander Friebel

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