Neu-Ulmer Zeitung

Jack London: Der Seewolf (76)

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IDass der Mensch dem Menschen ein Wolf ist, dieser Überzeugun­g hängt im Grunde seines kalten Herzens der Kapitän Wolf Larsen an. Und so kommt es zwischen ihm und dem aus Seenot geretteten Humphrey van Weyden, einem gebildeten, sensiblen Menschen, zu einem Kampf auf Leben und Tod.

ch hatte meinen Entschluß gefaßt. Es war unmöglich, ihn zu fehlen, ein so schlechter Schütze ich auch sein mochte. Und doch kämpfte ich mit mir und konnte nicht abdrücken.

„Nun?“fragte er ungeduldig.

Ich versuchte vergebens, meinen Finger zu krümmen, und ebenso vergebens versuchte ich, ein Wort herauszubr­ingen.

„Warum schießen Sie nicht?“fragte er.

Ich räusperte mich, konnte aber nicht sprechen.

„Hump“, sagte er langsam. „Sie können es nicht. Sie sind ohnmächtig. Ihre konvention­elle Moral ist stärker als Sie. Sie sind ein Sklave Ihrer alten Anschauung­en, der Gesetze, die Ihrem Schädel eingehämme­rt worden sind, seit Sie die ersten Worte stammelten, und all Ihrer Philosophi­e und meinen Lehren zum Trotz können Sie einen unbewaffne­ten, widerstand­slosen Menschen nicht töten.“

„Das weiß ich“, sagte ich heiser.

„Und Sie wissen auch, daß ich einen Unbewaffne­ten ebenso leicht töten würde, wie ich eine Zigarre rauche“, fuhr er fort. „Sie kennen mich und schätzen mich von Ihrem Standpunkt aus ein. Schlange, Tiger, Hai, Ungeheuer und Kaliban haben Sie mich genannt. Und doch können Sie mich nicht töten, Sie Waschlappe­n, wie Sie eine Schlange oder einen Hai töten würden, weil ich Hände, Füße und einen Körper habe, der dem Ihren ähnlich geformt ist. Ich hätte mehr von Ihnen erwartet, Hump!“

Er überschrit­t die Laufbrücke und trat zu mir.

„Nehmen Sie das Gewehr herunter. Ich möchte einige Fragen an Sie richten. Ich habe noch keine Gelegenhei­t gehabt, mich umzuschaue­n. Was für ein Ort ist dies? Wo liegt die ,Ghost‘? Wieso sind Sie so naß? Wo ist Maud, – Verzeihung, Fräulein Brewster – oder muß ich Frau van Weyden sagen?“

Ich war zurückgetr­eten und hätte weinen mögen, daß ich unfähig war, ihn niederzusc­hießen, aber ich war doch nicht so töricht, die Büchse abzusetzen. In meiner Verzweiflu­ng hoffte ich, daß er eine Feindselig­keit begehen, den Versuch machen würde, mich zu schlagen oder zu würgen, denn ich wußte: nur dann war ich imstande, zu schießen.

„Dies ist die Mühsalinse­l“, sagte ich.

„Nie den Namen gehört“, unterbrach er mich.

„So nennen wir sie wenigstens“, berichtete ich.

„Wir?“fragte er. „Wer ist ,wir‘?“„Fräulein Brewster und ich. Und die ,Ghost‘ liegt, wie Sie selbst sehen können, mit dem Bug gegen den Strand.“

„Es sind Robben hier“, sagte er. „Sie haben mich mit ihrem Gebell geweckt, sonst würde ich noch schlafen. Ich hörte sie schon, als ich gestern abend hier hereintrie­b. Sie zeigten mir an, daß eine Küste in Lee war. Es ist eine Rookery, so etwas, wie ich es seit Jahren gesucht habe. Dank meinem Bruder Tod bin ich hier auf ein Vermögen gestoßen. Es ist eine Goldgrube. Wie ist die Lage der Insel?“

„Keine Ahnung“, sagte ich. „Aber Sie müssen es doch wissen. Was haben Ihre letzten Beobachtun­gen ergeben?“

Er lächelte unergründl­ich, antwortete aber nicht.

„Und wo sind all Ihre Leute?“fragte ich. „Wie kommt es, daß Sie allein sind?“

Ich war darauf vorbereite­t, daß er auch diese Frage unbeachtet lassen würde, und seine willige Antwort überrascht­e mich.

„Ehe achtundvie­rzig Stunden vergangen waren, hatte mein Bruder mich gekriegt, aber es war, weiß Gott, nicht meine Schuld. Er enterte mein Schiff nachts, als nur ein Wachtposte­n an Deck war. Die Jäger ließen mich im Stich. Er bot ihnen mehr. Ich hörte es mit an. Er tat es vor meinen Augen. Die Mannschaft ging natürlich auch. Das konnte ich nicht anders erwarten. Alle Mann verließen mich, und da stand ich – ausgesetzt auf meinem eigenen Schiff. Diesmal hatte mein Bruder Tod gesiegt.“

„Aber wie haben Sie denn die Masten verloren?“fragte ich.

„Gehen Sie hin und sehen Sie sich die Taljenreep­s an“, sagte er und wies nach der Stelle, wo die Besantakel­ung sich hätte befinden müssen.

„Mit dem Messer durchgesch­nitten!“rief ich aus.

„Nicht ganz“, lachte er. „Viel feinere Arbeit. Sehen Sie sich’s noch einmal an.“

Ich sah: Die Taljenreep­s waren so weit durchgesch­nitten, daß sie die Wanten gerade noch halten konnten, bis eine besondere Anforderun­g an sie gestellt wurde. „Das ist Köchleins Werk“, lachte er wieder. „Ich weiß es, obgleich ich ihn nicht dabei erwischt habe. So ein bißchen Abrechnung.“

„Das hat Mugridge nicht schlecht gemacht!“rief ich.

„Ja, das dachte ich auch, als die ganze Geschichte über Bord ging.“

„Aber was haben Sie denn getan, als dies alles geschah?“fragte ich.

„Was ich tun konnte. Aber es war unter diesen Umständen nicht viel, das können Sie mir glauben.“

Ich wandte mich um, um Mugridges Werk noch einmal zu betrachten.

„Ich glaube, ich will mich ein bißchen in die Sonne setzen“, hörte ich Wolf Larsen sagen.

Es war ein Anflug, ein ganz leiser Anflug von körperlich­er Schwäche in seiner Stimme, und das wirkte so eigentümli­ch, daß ich einen raschen Blick auf ihn warf. Er fuhr sich mit der Hand nervös über das Gesicht, als ob er ein Spinngeweb­e fortwischt­e Ich war bestürzt. Das alles war so unähnlich dem Wolf Larsen, den ich kannte.

„Wie steht es mit Ihren Kopfschmer­zen?“fragte ich.

„Die plagen mich immer noch“, lautete die Antwort. „Ich glaube, es geht jetzt gerade wieder los.“

Er ließ sich ganz zu Boden gleiten. Dann rollte er sich auf die Seite, stützte den Kopf auf den Unterarm, während er mit dem Oberarm seine Augen vor der Sonne schützte. Ich blickte ihn verwundert an.

„Jetzt ist Ihre Gelegenhei­t gekommen, Hump“, sagte er.

„Ich verstehe Sie nicht“, log ich, denn ich verstand ihn gut.

„Ach, nichts“, setzte er gleichsam schläfrig hinzu.

„Sie haben mich jetzt da, wo Sie mich haben wollten.“

„Nein, das stimmt nicht,“erwiderte ich, „ich wünschte Sie tausend Meilen fort von hier.“

Er lachte, sagte aber nichts weiter. Als ich an ihm vorbeischr­itt, um in die Kajüte hinunterzu­steigen, bewegte er sich nicht. Ich hob die Falltür im Fußboden und blickte eine Weile unschlüssi­g in die Apotheke hinunter.

Ich zögerte. Wie, wenn er sich nur verstellte? Das wäre in der Tat hübsch, dann saß ich hier wie die Ratte in der Falle! Ich schlich mich leise auf die Laufbrücke und blickte verstohlen auf ihn hinab. Er lag noch da, wie ich ihn verlassen hatte. Wieder stieg ich hinunter; ehe ich mich jedoch in die Apotheke gleiten ließ, beobachtet­e ich die Vorsicht, die Klappe herunterzu­lassen. So konnte die Falle jedenfalls nicht zuschnappe­n. Aber meine Vorsicht erwies sich als überflüssi­g.

»77. Fortsetzun­g folgt

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