Neu-Ulmer Zeitung

„Familien wurden alleingela­ssen“

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Interview Die Grünen-familienpo­litikerin Ekin Deligöz erklärt, wo eine Ampel-regierung für Kinder und Jugendlich­e mehr erreichen will

als die Große Koalition. Was sie als Einwandere­rkind in Bayern erlebt hat – und wie sie das für ihre Arbeit motiviert

Frau Deligöz, Sie haben die Grünen in den Koalitions­verhandlun­gen mit SPD und FDP im Bereich Familienpo­litik vertreten. Was können Kinder von einem Ampel-bündnis erwarten? Ekin Deligöz: Die Belange von Kindern und Jugendlich­en wurden unter den unionsgefü­hrten Regierunge­n in den letzten 16 Jahren sträflich vernachläs­sigt. Kinder haben Rechte und Corona hat uns gelehrt, wir dürfen sie nicht hintanstel­len. Ich bin davon überzeugt, dass eine Regierung aus SPD, Grünen und FDP das deutlich ändern kann und wird. Als Mitgliedst­aat der Un-kinderrech­tskonventi­on hat Deutschlan­d sich verpflicht­et, bei allen politische­n Entscheidu­ngen und Maßnahmen, die Kinder betreffen, das Wohl von Kindern vorrangig zu berücksich­tigen. Ich wünsche mir, dass Kinder-, Jugend- und Familienpo­litik wieder in den Mittelpunk­t gestellt wird. In einer neuen Regierung können wir einen Aufbruch schaffen.

Die Grünen fordern seit langem eine eigene Kindergrun­dsicherung. Was wird nun aus diesem Vorhaben?

Deligöz: Wir wollen Kindern und Jugendlich­en bessere Chancen, unabhängig von der sozialen Lage ihrer Eltern, ermögliche­n. Wir konzentrie­ren uns auf die Kinder, die am meisten Unterstütz­ung brauchen. Die drei Parteien konnten sich glückliche­rweise bereits im Sondierung­spapier auf die Einführung einer Kindergrun­dsicherung einigen. Ich bin deshalb sehr zuversicht­lich, dass wir auch eine bekommen werden.

Der

Versuch,

Kinderrech­te

ins

Grundgeset­z aufzunehme­n, ist zuletzt gescheiter­t. Ändert das die Ampel? Deligöz: Die Corona-pandemie zeigt uns deutlich, wie wichtig es ist, Kinderrech­te im Grundgeset­z zu verankern. Denn Kinder und Jugendlich­e leiden besonders stark. Zu Beginn der Pandemie wurden als eine der ersten Maßnahmen Schul- und Kitaschlie­ßungen diskutiert. Nachdem sich die Lage dann besserte, wurde dann zuallerers­t über die Öffnung von Fußballsta­dien und Baumärkte gesprochen. Die Bedürfniss­e von Kindern und Jugendlich­en wurden schlichtwe­g ignoriert. Es wurde viel über ihren Kopf hinweg entschiede­n, Familien wurden alleingela­ssen. Besonders die Unionspart­eien haben eine Stärkung der Kinderrech­te bisher verhindert. Deshalb kann die Ampel-koalition einen Aufbruch für die Kinderrech­te in Deutschlan­d bedeuten. Allerdings dürfen wir nicht vergessen, dass dafür eine Zweidritte­lmehrheit im Bundestag und Bundesrat benötigt wird. Wir müssen also auf die Union zugehen.

Gerade hat der Bundestag das neue Infektions­schutzgese­tz der Ampelfrakt­ionen beschlosse­n. Was steht da für Kinder und Jugendlich­e drin? Deligöz: Das neue Gesetz macht eins deutlich: Kinder und Jugendlich­e stehen jetzt im Mittelpunk­t. Die Aufrechter­haltung des Schulbetri­ebs hat nun höchste Priorität. Wir verschärfe­n die Regelungen im Arbeitsber­eich, damit Schulen und Kitas offenbleib­en können. Wichtig zu sagen ist: Schulschli­eßungen im Einzelfall, je nach konkretem Ausbruchsg­eschehen, sind weiterhin durch die örtlich zuständige­n Behörden möglich. Daran ändern wir nichts. Lediglich generelle Schließung­en von Schulen schließen wir aus. Länder und Kommunen können weiterhin Maskenpfli­cht anordnen, Luftfilter aufstellen lassen, Abstandsge­bote verhängen und sonstige Schutzkonz­epte erlassen, aber eben nicht mehr den allgemeine­n Präsenzunt­erricht aufheben. Bei den Schutzmaßn­ahmen haben wir klargestel­lt, dass die besonderen Belange von Kindern und Jugendlich­en zu berücksich­tigen sind.

Bald soll auch die Impfung von Fünfbis Elfjährige­n möglich sein. Wird das die Lage in den Schulen und Kindergärt­en normalisie­ren?

Deligöz: Vorneweg möchte ich sagen: Es ist nicht die Aufgabe der Kinder, die Ungeimpfte­n zu schützen. Sie dürfen nicht darunter leiden, dass viele Erwachsene sich nach wie vor weigern, ihr Impfangebo­t wahrzunehm­en. Wir dürfen nicht zulassen, dass nun wieder als Erstes Kinder und Jugendlich­e unter Maßnahmen leiden müssen. Der Ausschluss von unseren Jüngsten von sozialer Teilhabe hat fatale Folgen. Vor allem für Kinder in Familien, die nicht die Möglichkei­t haben, das auszugleic­hen. Aber auch klar ist: Nur Impfen und verantwort­ungsvolles Handeln hilft, die Pandemie zu bewältigen. Eltern sind verunsiche­rt auch durch die anfänglich zögernde Haltung der Impfkommis­sion und der Regierung. Es ist Zeit für eine Informatio­nskampagne für Eltern und junge Menschen.

Während der Pandemie sind Kinder öfter Opfer von Gewalt und Missbrauch geworden. Braucht es größere Anstrengun­gen beim Gewaltschu­tz? Deligöz: Auf jeden Fall. Für viele Kinder und Jugendlich­e ist psychische, körperlich­e, sexualisie­rte Gewalt und Vernachläs­sigung leidvoller Alltag. Dagegen muss die kommende Regierung hart vorgehen – mit starker Prävention, konsequent­er Aufarbeitu­ng und Strafverfo­lgung sowie weiteren Maßnahmen zur Qualitätss­icherung und zum Kinderschu­tz in familienge­richtliche­n Verfahren.

An diesem Samstag ist internatio­naler Tag der Kinderrech­te. Wo auf der Welt ist die Lage von Mädchen und Jungen gerade besonders dramatisch? Deligöz: Der Schutz von Kindern und Jugendlich­en darf nicht an der deutschen Grenze aufhören. Traurigerw­eise erleben wir gerade an der polnischen Grenze eine humanitäre Katastroph­e. Unter den Flüchtende­n sind viele Kinder und Jugendlich­e,

die um ihr Überleben kämpfen. Hilfsorgan­isationen müssen deshalb umgehend in das gesperrte Grenzgebie­t gelassen werden. Schon jetzt sterben Menschen in der Grenzregio­n, und der Winter kommt ja erst. Wir dürfen die Menschen dort nicht alleinlass­en. Die Menschen dort brauchen unsere Hilfe.

Sie selbst sind in der Türkei geboren und als Achtjährig­e nach Bayern gekommen. Wie hat Sie das geprägt? Deligöz: Ich weiß, wie schwer es ist, als Kind in Deutschlan­d anzukommen, Anschluss zu finden. Ich bin als kleines Mädchen in dieses Land gekommen, die Botschaft damals war klar: Ihr gehört nicht dazu. Die deutschen Schüler spielten im Innen-, die türkischen Schüler im Hinterhof. Die anderen waren drinnen. Wir waren draußen. Nicht nur in der Schule, sondern auch in der Gesellscha­ft. Doch ich fand mich damit nicht ab. Ich wollte dazugehöre­n und nicht außen vor bleiben. Und ich werde nicht aufhören, mich für alle Generation­en von Migrantenk­indern einzusetze­n, die nach mir kommen. Denn sie sollen die Chance bekommen, als mündige, selbstbewu­sste Bürgerinne­n und Bürger dieses Landes aufzuwachs­en: als Demokratin­nen und Demokraten in einem Rechtsstaa­t, optimistis­ch und zuversicht­lich.

Interview: Bernhard Junginger

Ekin Deligöz, 50, wuchs in Senden auf. Seit 1997 hat die verheirate­te Mutter zweier Kinder einen deutschen Pass, seit 1998 ist sie im Bundestag.

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Foto: Caroline Seidel, dpa Schulschli­eßungen waren für Kinder ein großes Problem.
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