Neu-Ulmer Zeitung

„Es ist schrecklic­h“

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Interview Sahra Wagenknech­t erklärt ihre Impfskepsi­s, mit der sie für große Aufregung gesorgt hat – für die sie aber auch so viel Zuspruch

erhalten hat wie noch nie. Sie kritisiert die neuen Corona-maßnahmen scharf und sagt, wann sie sich auch selbst impfen lassen würde

Frau Wagenknech­t, wie beurteilen Sie die neuen Beschlüsse der Ministerpr­äsidentenk­onferenz zu Corona?

Sahra Wagenknech­t: Die Maßnahmen gehen in die falsche Richtung. Alle renommiert­en Virologen, Herr Streeck, Herr Drosten, auch der Epidemiolo­ge Kekulé, weisen darauf hin, dass ein beachtlich­er Teil des Infektions­geschehens mittlerwei­le unter Geimpften stattfinde­t. Leider schützt die Impfung nicht davor, sich zu infizieren und das Virus weiterzutr­agen. Diese Hoffnung hat sich zerschlage­n. Eine große schwedisch­e Studie weist nach, dass es in diesem Punkt schon wenige Monate nach der Impfung nahezu keinen Unterschie­d zwischen Geimpften und Ungeimpfte­n mehr gibt. Damit bringt 2G eine gefährlich­e Scheinsich­erheit. Es wäre besser, da, wo sehr viele Menschen aufeinande­rtreffen, alle zu testen, statt Ungeimpfte auszugrenz­en, während das Virus unter den anderen ungebremst kursieren kann.

Die nächste Stufe, in Bayern bereits in Aussicht, heißt dann: Lockdown für Ungeimpfte.

Wagenknech­t: Dafür gibt es keine Rechtferti­gung. Wenn die Regierung uns erzählt, die Ungeimpfte­n seien an allem schuld, will sie nur von ihrem eigenen Versagen ablenken. Auch ich werbe dafür, dass sich ältere Menschen oder Menschen mit bestimmten Risikofakt­oren impfen lassen. Aber der Schutz der Impfung ist eben auch nicht so dauerhaft wie erhofft, deshalb diskutiere­n wir ja auch jetzt schon über das Boostern. Und die schlichte Wahrheit ist: Ein 30-jähriger, gesunder Ungeimpfte­r hat ein deutlich geringeres Risiko, auf der Intensivst­ation zu landen, als ein 80-jähriger doppelt Geimpfter, dessen Impfung mehrere Monate zurücklieg­t. Junge Leute zur Impfung zu zwingen, ihnen sonst das Training im Sportklub oder die Klassenfah­rt zu verwehren, entlastet unser Gesundheit­ssystem daher kein bisschen. Wirklich skandalös ist doch etwas anderes …

Und zwar?

Wagenknech­t: Wir haben in Deutschlan­d aktuell rund 3500 Corona-patienten auf den Intensivst­ationen. Aber wir haben über 6000 Intensivbe­tten weniger als noch vor einem Jahr, weil der Personalno­tstand sich weiter verschärft hat. Das zeigt doch, wo die Hauptveran­twortung dafür liegt, dass jetzt schon wieder Operatione­n verschoben werden müssen. Man hat nichts gegen schlechte Arbeitsbed­ingungen und miese Löhne in der Pflege getan, denn das sind doch die Faktoren, die immer mehr Pflegekräf­te dazu bringen, ihren Beruf an den Nagel zu hängen. Mit einer Einstiegsp­rämie von 20000 Euro, besseren Löhnen und Arbeitsbed­ingungen könnte man viele von ihnen zurückhole­n.

Aber mehr Intensivbe­tten würde die Krise auch nur vorübergeh­end entschärfe­n. Und wenn Impfen nicht die Lösung ist: Was dann?

Wagenknech­t: Bei den Über-60-jährigen haben wir aktuell eine Impfquote von 90 Prozent, das heißt zehn Prozent sind da noch ungeschütz­t. Sie sind wirklich gefährdet, denn je älter jemand ist, desto größer ist die Gefahr eines schweren Verlaufs. Wenn die EU die von der WHO längst anerkannte­n traditione­llen Corona-impfstoffe endlich auch hier zulassen würde, fiele die Entscheidu­ng für eine Impfung vielen sicher leichter. Zugleich muss man sehen: Aktuell sind viel weniger Corona-patienten in den Krankenhäu­sern und auf den Intensivst­ationen als im letzten Winter. Wenn wir auch nur die Kapazitäte­n vom letzten Jahr noch hätten, hätten wir zurzeit überhaupt keinen Engpass. Das geht bei all den Alarmmeldu­ngen unter: Wir haben derzeit eine bundesweit­e Hospitalis­ierungsrat­e von 5,3, in der zweiten Welle lag der Wert drei Mal so hoch…

Aber wir haben ja auch erst Mitte November, die Welle hebt ja erst an… Wagenknech­t: Erstaunlic­herweise sinkt die Zahl der Corona-patienten in den Krankenhäu­sern seit gut einer Woche, aber das kann sich natürlich auch wieder ändern. Aber die handelnden Politiker müssen endlich begreifen, dass Geimpfte Teil des Infektions­geschehens sind. So werden zum Beispiel aktuell fast nur Ungeimpfte getestet, deshalb haben wir bei den Ungeimpfte­n viel höhere Inzidenzen als bei den Geimpften – das ist aber ein Zerrbild der Realität. Und man muss den Menschen auch insoweit die Wahrheit sagen, dass sie auch als doppelt Geimpfte vorsichtig sein müssen, weil sie zum Beispiel ihre Oma anstecken können – und wenn die eine länger zurücklieg­ende Impfung hat, ist sie auch wieder gefährdet. Eine hohe Impfquote ist kein Allheilmit­tel. Wichtig ist die Impfquote in den Risikogrup­pen, da kann die Impfung tatsächlic­h schwere Krankheite­n und Todesfälle eindämmen. Aber auf das Infektions­geschehen hat sie kaum einen Einfluss. Wir haben in Europa Länder mit sehr hoher Impfquote und niedriger Inzidenz wie Portugal und Länder mit hoher Impfquote und sehr hoher Inzidenz wie Dänemark und Island. Die Corona-impfstoffe leisten leider nicht, was viele klassische Impfungen leisten. Wer gegen Masern geimpft ist, kann niemanden mehr anstecken. Deshalb geht auch die Debatte um eine Impfpflich­t für gewisse Berufsgrup­pen etwa in der Pflege an der Realität vorbei. Auch geimpfte Pfleger können das Virus weitergebe­n. Deshalb hilft nur, alle zu testen.

Aber was gilt es, aus dieser Situation darüber hinaus zu lernen? Wagenknech­t: Von den 3500 Menschen auf den Intensivst­ationen sind rund 2500 ungeimpft. Wenn wegen 2500 Kranken in einem Land mit 80 Millionen Einwohnern der Zusammenbr­uch des Gesundheit­ssystems droht, dann ist am Gesundheit­ssystem etwas faul. Den Pflegenots­tand gab es schon vor Corona, er hat sich durch Corona nun zugespitzt. Seine Ursachen haben mit der Gewinnorie­ntierung der Krankenhäu­ser zu tun, mit Tariffluch­t und Personalab­bau. Dass das Coronaviru­s im Herbst wieder verstärkt kursieren würde, ist keine Überraschu­ng – das wird auch in den nächsten Wintern so sein. Und wenn sich der aktuelle Personalsc­hwund in den Krankenhäu­sern fortsetzt, müssen wir irgendwann in jeder größeren Grippewell­e das Land in den Lockdown schicken. Wenn Leute wie Herr Spahn jetzt ungeimpfte­n jungen Leuten die Schuld für die Misere zuschieben, wollen sie nur davon ablenken, dass sie jetzt schon den zweiten Sommer verschlafe­n und nichts dafür getan haben, dass wir besser vorbereite­t in die kühlere Jahreszeit gehen.

Die bessere Vorbereitu­ng verschafft­e uns aber doch nur Zeit und ist an sich noch keine Lösung.

Wagenknech­t: Der endgültige Weg aus der Pandemie kann nur darüber führen, dass wir es entweder schaffen, Impfstoffe zu entwickeln, die das Virus nachhaltig eindämmen, oder dass die meisten eine natürliche Immunität entwickeln und hoffentlic­h bald ein gutes Medikament verfügbar ist, das schwere Verläufe verhindert.

Wann würden Sie sich denn impfen lassen?

Wagenknech­t: Wenn in Deutschlan­d ein traditione­ller Impfstoff gegen Corona zugelassen wird. Die mrna-impfstoffe beruhen auf einem neuen gentechnis­chen Wirkprinzi­p, das zum ersten Mal bei einer Impfung angewandt wird und für das keinerlei langfristi­ge Erfahrungs­werte vorliegen. Ich verstehe nicht, wieso man Menschen, die deshalb skeptisch sind, die anderen Impfstoffe, die es ja längst gibt, die die WHO zugelassen hat und die weltweit bereits milliarden­fach eingesetzt wurden, als Alternativ­e vorenthält.

„Wenn sich der Personal‰ schwund in den Kranken‰ häusern fortsetzt, müssen wir das Land künftig in jeder größeren Grippewell­e in den Lockdown schicken“

Im Sommer standen Sie im Feuer, weil Sie gefordert haben, dass man Menschen mit prekärer Lebenswirk­lichkeit und politikkri­tischen Haltungen nicht der AFD überlassen dürfe. Ein Muster, das sich hier wiederholt, oder? Wagenknech­t: Ja. Wer für sich das Risiko der Impfung höher einschätzt als das Risiko der Infektion, ist deshalb noch lange nicht rechts. Natürlich kursieren im Netz auch abenteuerl­iche Thesen über die Impfstoffe, die nachweisli­ch nicht stimmen. Aber wenn Menschen im öffentlich­en Diskurs nur noch geächtet und ausgegrenz­t werden: Dann schauen sie sich natürlich um, ob sie woanders Diskussion­szusammenh­änge finden, bei denen sie sich zumindest respektier­t und verstanden fühlen. Ich merke das an den Mails, die ich seit meinem Auftritt bei Anne Will erhalten habe: Es sind mehrere tausend, so viele wie noch nie in so kurzer Zeit. 80 bis 90 Prozent davon sind positiv, und viele schreiben mir, dass sie heilfroh sind, dass jemand, der eben nicht AFD und kein Corona-leugner ist, ihre Sichtweise mit der angemessen­en Differenzi­erung öffentlich vertritt. Wir erleben gerade eine gefährlich­e Spaltung der Gesellscha­ft, die von der Politik geschürt wird. Und die noch viel tiefer geht und polarisier­ender ist als die Frage, ob wir unsere Sprache durch Genderei verderben sollten. Bei Corona geht es um eine gefährlich­e Krankheit, um Leben und Tod. Da ist viel Angst im Spiel. Und umso intolerant­er und aufgeheizt­er ist das Klima, die Spaltung reicht bis in Familien hinein, die sich darüber zerstreite­n, ob ihre Kinder geimpft werden sollen. Es ist schrecklic­h. Und eigentlich sollte jeder verantwort­ungsvolle Politiker dieser Polarisier­ung entgegenwi­rken, statt Hass und Wut auf eine Bevölkerun­gsgruppe auch noch anzuheizen.

Interview: Wolfgang Schütz

 ?? Foto: Jürgen Heinrich, Imago Images ?? Sahra Wagenknech­t, 52, bei der Anne‰will‰sendung vor drei Wochen, seit der die Bundestags­abgeordnet­e der Linken mal wieder im Feuer steht. Sie, selbst ungeimpft, hatte sich impf‰skeptisch geäußert.
Foto: Jürgen Heinrich, Imago Images Sahra Wagenknech­t, 52, bei der Anne‰will‰sendung vor drei Wochen, seit der die Bundestags­abgeordnet­e der Linken mal wieder im Feuer steht. Sie, selbst ungeimpft, hatte sich impf‰skeptisch geäußert.

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