Im Zweifel für den Ulmer Rentner
Justiz Der 66-Jährige saß sieben Monate in Untersuchungshaft. Er sollte mehrere Päckchen
mit Sprengstoff versandt haben. Jetzt ist er ein freier Mann. So argumentiert das Gericht
Heidelberg Normalerweise stellen die Reporterinnen und Journalisten die Fragen, doch der Rentner aus Ulm dreht den Spieß um: „Haben Sie den Knall nicht gehört?“, meint er mit einem Lächeln nach dem Prozess in Heidelberg. Und schiebt die Antwort gleich hinterher: „Das war der Stein, der mir vom Herzen gefallen ist.“
Geknallt hat es tatsächlich, Mitte Februar, in den Poststellen des Getränkeherstellers ADM Wild in Eppelheim und der Neckarsulmer Lidl-zentrale. Zwei Paketbomben verletzten vier Mitarbeiter. „Sie wähnten sich in trügerischer Sicherheit und sind Opfer einer perfiden, hinterhältigen Tat geworden“, sagt der Vorsitzende Richter Markus Krumme. Die Menschen könnten nicht mit dem Geschehen abschließen. Denn der Paketbomber und mögliche Komplizen sind eventuell immer noch auf freiem Fuß. Der Rentner jedenfalls war nach Überzeugung des Heidelberger Landgerichts „wahrscheinlich“nicht der Mann, der in einer Postfiliale nahe des Ulmer Münsters die explosive Post an drei Lebensmittelkonzerne aufgab. Ein an Hipp in Oberbayern gerichtetes Päckchen konnte rechtzeitig von den Ermittlerinnen und Ermittlern abgefangen werden. Die
spricht den Rentner am Freitag vom Vorwurf der Sprengstoffexplosionen, gefährlicher und versuchter schwerer Körperverletzung frei. Im Zweifel für den Angeklagten, wie Richter Krumme argumentiert, aber „nicht restlos“von der Unschuld des Schwaben überzeugt ist. Doch es ist kein Freispruch „zweiter Klasse“, zu viel spricht am Ende des zwölftägigen Indizienprozesses für den Angeklagten.
So gingen die Ermittler davon aus, bei der Durchsuchung seines Hauses einen Treffer gelandet zu haben, als sie Versandkartons ähnlich denen fanden, mit denen die Bomben auf die Reise geschickt worden waren. Es war jedoch ein anderer Typ, und der Senior konnte nachweisen, mit den vier fehlenden Päckchen des Sets Modellbusse versandt zu haben. Und von wem sollten die DNA-SPUR und der Fingerabdruck an einer Bombe und das menschliche Haar in einer der Versandboxen stammen? Vom angeklagten Ulmer jedenfalls nicht. Die Streichholzkopfmasse an den selbst gebauten Sprengsätzen und diejenigen an den bei dem 66-Jährigen gefundenen Zündhölzern – keine Übereinstimmung. Die Werkzeugspur an den Bomben passte auch nicht zu den beschlagnahmten Zangen des Rentners. Die Adresskleber der Päckchen waren mit einem
Thermodrucker beschriftet worden, der Ulmer hat einen Tintenstrahldrucker. Und: Nichts deutete auf dem von Experten des Landeskriminalamts analysierten Handy, Laptop und I-pad des Angeklagten auf ein geplantes Verbrechen hin.
Selbst die wenigen Anhaltspunkte, die ihn verdächtig machten, sind wacklig. Eine Lka-expertin nannte 1,66 Meter als Mittelwert für die Körpergröße des vermummten
Manns, der von einer Videokamera in der Ulmer Postfiliale eingefangen worden war. Die Spanne reichte von 1,62 bis 1,71 Meter, wobei die Beamtin zum oberen Spektrum tendierte. Der Mann auf der Anklagebank dagegen misst 1,60 Meter. Trotz der vielen Widersprüche attestiert Krumme den Lka-beamtinnen und -fahndern, akribisch gearbeitet zu haben.
Einen Fauxpas spricht aber auch der Richter an: den Einsatz von Spürhunden einer privaten Hundehalterin auf Kosten der Steuerzahlenden. Grob fehlerhaft nennt der Richter unter Berufung auf zwei Sachverständige die Methoden der Frau. Und hält es ebenso für unmöglich, dass die Hunde fünf Wokammer chen nach der Aufgabe der Päckchen den Weg des im Polizeidienstwagen sitzenden Verdächtigen von seinem Wohnort ins Mannheimer Gefängnis nachschnüffeln konnten. „Da sollten künftig professionellere Standards gelten“, mahnt Krumme die Ermittlungsbehörden.
Verteidiger Steffen Lindberg spricht von einem „langen Kampf“und freut sich für seinen Mandanten, dass dessen „Albtraum“zu Ende ist und Gerechtigkeit gesiegt habe. Er lobt die im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft „unvoreingenommene Haltung der Kammer“. Gleichwohl werde seinem Mandanten wohl noch lange das Stigma anhaften, vielleicht doch der Paketbomber zu sein, vermutet Richter Krumme.
Sollte das Urteil rechtskräftig werden, stehen dem Angeklagten als Entschädigung für die siebenmonatige Untersuchungshaft 75 Euro pro Tag zu, also rund 16000 Euro. Oberstaatsanwalt Lars-jörgen Geburtig, der eine Gefängnisstrafe von viereinhalb Jahren gefordert hatte, will innerhalb der gesetzlichen Frist von einer Woche überlegen, ob er gegen das Urteil in Revision geht. Falls nicht, bekommt der nun Freigesprochene nicht nur Geld, sondern muss auch zahlen: 1800 Euro für alte Bundeswehrmunition, die man bei der Hausdurchsuchung fand.
Fragwürdiger Einsatz von Spürhunden