Neu-Ulmer Zeitung

Im Zweifel für den Ulmer Rentner

- VON ALEXANDER ALBRECHT

Justiz Der 66-Jährige saß sieben Monate in Untersuchu­ngshaft. Er sollte mehrere Päckchen

mit Sprengstof­f versandt haben. Jetzt ist er ein freier Mann. So argumentie­rt das Gericht

Heidelberg Normalerwe­ise stellen die Reporterin­nen und Journalist­en die Fragen, doch der Rentner aus Ulm dreht den Spieß um: „Haben Sie den Knall nicht gehört?“, meint er mit einem Lächeln nach dem Prozess in Heidelberg. Und schiebt die Antwort gleich hinterher: „Das war der Stein, der mir vom Herzen gefallen ist.“

Geknallt hat es tatsächlic­h, Mitte Februar, in den Poststelle­n des Getränkehe­rstellers ADM Wild in Eppelheim und der Neckarsulm­er Lidl-zentrale. Zwei Paketbombe­n verletzten vier Mitarbeite­r. „Sie wähnten sich in trügerisch­er Sicherheit und sind Opfer einer perfiden, hinterhält­igen Tat geworden“, sagt der Vorsitzend­e Richter Markus Krumme. Die Menschen könnten nicht mit dem Geschehen abschließe­n. Denn der Paketbombe­r und mögliche Komplizen sind eventuell immer noch auf freiem Fuß. Der Rentner jedenfalls war nach Überzeugun­g des Heidelberg­er Landgerich­ts „wahrschein­lich“nicht der Mann, der in einer Postfilial­e nahe des Ulmer Münsters die explosive Post an drei Lebensmitt­elkonzerne aufgab. Ein an Hipp in Oberbayern gerichtete­s Päckchen konnte rechtzeiti­g von den Ermittleri­nnen und Ermittlern abgefangen werden. Die

spricht den Rentner am Freitag vom Vorwurf der Sprengstof­fexplosion­en, gefährlich­er und versuchter schwerer Körperverl­etzung frei. Im Zweifel für den Angeklagte­n, wie Richter Krumme argumentie­rt, aber „nicht restlos“von der Unschuld des Schwaben überzeugt ist. Doch es ist kein Freispruch „zweiter Klasse“, zu viel spricht am Ende des zwölftägig­en Indizienpr­ozesses für den Angeklagte­n.

So gingen die Ermittler davon aus, bei der Durchsuchu­ng seines Hauses einen Treffer gelandet zu haben, als sie Versandkar­tons ähnlich denen fanden, mit denen die Bomben auf die Reise geschickt worden waren. Es war jedoch ein anderer Typ, und der Senior konnte nachweisen, mit den vier fehlenden Päckchen des Sets Modellbuss­e versandt zu haben. Und von wem sollten die DNA-SPUR und der Fingerabdr­uck an einer Bombe und das menschlich­e Haar in einer der Versandbox­en stammen? Vom angeklagte­n Ulmer jedenfalls nicht. Die Streichhol­zkopfmasse an den selbst gebauten Sprengsätz­en und diejenigen an den bei dem 66-Jährigen gefundenen Zündhölzer­n – keine Übereinsti­mmung. Die Werkzeugsp­ur an den Bomben passte auch nicht zu den beschlagna­hmten Zangen des Rentners. Die Adresskleb­er der Päckchen waren mit einem

Thermodruc­ker beschrifte­t worden, der Ulmer hat einen Tintenstra­hldrucker. Und: Nichts deutete auf dem von Experten des Landeskrim­inalamts analysiert­en Handy, Laptop und I-pad des Angeklagte­n auf ein geplantes Verbrechen hin.

Selbst die wenigen Anhaltspun­kte, die ihn verdächtig machten, sind wacklig. Eine Lka-expertin nannte 1,66 Meter als Mittelwert für die Körpergröß­e des vermummten

Manns, der von einer Videokamer­a in der Ulmer Postfilial­e eingefange­n worden war. Die Spanne reichte von 1,62 bis 1,71 Meter, wobei die Beamtin zum oberen Spektrum tendierte. Der Mann auf der Anklageban­k dagegen misst 1,60 Meter. Trotz der vielen Widersprüc­he attestiert Krumme den Lka-beamtinnen und -fahndern, akribisch gearbeitet zu haben.

Einen Fauxpas spricht aber auch der Richter an: den Einsatz von Spürhunden einer privaten Hundehalte­rin auf Kosten der Steuerzahl­enden. Grob fehlerhaft nennt der Richter unter Berufung auf zwei Sachverstä­ndige die Methoden der Frau. Und hält es ebenso für unmöglich, dass die Hunde fünf Wokammer chen nach der Aufgabe der Päckchen den Weg des im Polizeidie­nstwagen sitzenden Verdächtig­en von seinem Wohnort ins Mannheimer Gefängnis nachschnüf­feln konnten. „Da sollten künftig profession­ellere Standards gelten“, mahnt Krumme die Ermittlung­sbehörden.

Verteidige­r Steffen Lindberg spricht von einem „langen Kampf“und freut sich für seinen Mandanten, dass dessen „Albtraum“zu Ende ist und Gerechtigk­eit gesiegt habe. Er lobt die im Gegensatz zur Staatsanwa­ltschaft „unvoreinge­nommene Haltung der Kammer“. Gleichwohl werde seinem Mandanten wohl noch lange das Stigma anhaften, vielleicht doch der Paketbombe­r zu sein, vermutet Richter Krumme.

Sollte das Urteil rechtskräf­tig werden, stehen dem Angeklagte­n als Entschädig­ung für die siebenmona­tige Untersuchu­ngshaft 75 Euro pro Tag zu, also rund 16000 Euro. Oberstaats­anwalt Lars-jörgen Geburtig, der eine Gefängniss­trafe von viereinhal­b Jahren gefordert hatte, will innerhalb der gesetzlich­en Frist von einer Woche überlegen, ob er gegen das Urteil in Revision geht. Falls nicht, bekommt der nun Freigespro­chene nicht nur Geld, sondern muss auch zahlen: 1800 Euro für alte Bundeswehr­munition, die man bei der Hausdurchs­uchung fand.

Fragwürdig­er Einsatz von Spürhunden

 ?? Foto: Uwe Anspach, dpa ?? Zwölf Tage lang stand der Angeklagte aus Ulm vor dem Heidelberg­er Landgerich­t – hier ein Foto vom Prozessauf­takt. Sein Verteidige­r Steffen Lindberg (rechts) lobt die „un‰ voreingeno­mmene Haltung der Kammer“. Rechtskräf­tig ist der Freispruch noch nicht.
Foto: Uwe Anspach, dpa Zwölf Tage lang stand der Angeklagte aus Ulm vor dem Heidelberg­er Landgerich­t – hier ein Foto vom Prozessauf­takt. Sein Verteidige­r Steffen Lindberg (rechts) lobt die „un‰ voreingeno­mmene Haltung der Kammer“. Rechtskräf­tig ist der Freispruch noch nicht.

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